Riga, 30. März 2022
Herr Liegis, wie reagiert Lettland auf die russische Invasion in der Ukraine?
Für uns ist das eine Tragödie. Es ist ein Bruderland, das betroffen ist und wir befürchten, dass Russland seinen Feldzug nicht auf die Ukraine beschränken wird. Jeden Tag bringen die mit der ukrainischen Flagge geschmückten Nachrichtensendungen die neuesten Informationen aus dem Krieg. Wir nehmen die ukrainischen Flüchtlinge so gut auf wie wir können und diskutieren derzeit viel über die Maßnahmen, die zu ihrer Integration ergriffen werden müssen. Die Ukrainer kämpfen für die demokratischen Werte und Europa, sie sterben für uns.
Wir verstehen die Position der NATO, die es ablehnt, sich an einem Krieg in der Ukraine gegen Russland zu beteiligen, z.B. durch eine Flugverbotszone. Aber wir unterstützen die Ukraine so weit wie möglich und haben bereits vor der Invasion am 24. Februar Waffen - Stingers - geliefert. Ein Mitglied des lettischen Parlaments kämpft in der Ukraine, und wir schicken regelmäßig Ausrüstungsgegenstände für die ukrainische Armee. Wir haben gerade den 18. Jahrestag unseres NATO-Beitritts gefeiert und unterstützen die Aufnahme der Ukraine in die NATO und die Europäische Union.
Wie steht Lettland zu der Frage eines Energieembargos?
Wir unterstützen auch ein Energieembargo, obwohl wir zu neunzig Prozent von russischem Gas abhängig sind. Wir wollen nicht, dass Europa Putins Krieg finanziert. Wir wissen, dass dies die Preise in die Höhe treiben wird, aber das ist besser als der Verlust von Menschenleben in der Ukraine.
Welche Haltung hat die russischsprachige Minderheit in Lettland in Bezug auf den Krieg?
Die Frage ist vielmehr, was Russland tut, um diese Bevölkerung zu manipulieren. Die russische Propaganda versucht, Lügen über angebliche ethnische Probleme in Lettland zu verbreiten.
Natürlich gibt es Menschen, die diesen Krieg weniger stark kritisieren. Doch selbst die pro-russische Partei Saskana („Harmonie”), die früher finanzielle Unterstützung aus Russland erhalten hat, verurteilte nun zusammen mit der lettischen Regierung die russische Aggression.
Fühlt sich Lettland von der NATO und der EU ausreichend unterstützt?
Wir haben die Worte der Verbündeten in den letzten Wochen zur Kenntnis genommen, die erklärt haben, dass sie „jeden Zentimeter der NATO” verteidigen würden. Die amerikanische Präsenz ist für uns sehr wichtig. Ich dachte vor sechs Monaten, dass die Amerikaner ihre Anstrengungen auf die indisch-pazifische Achse konzentrieren würden, aber ich habe mich geirrt, sie sind tatsächlich stark in Europa engagiert. Die Truppen der Allianz wurden in Lettland aufgestockt und umfassen derzeit 1.500 Soldaten aus Kanada, Italien, Spanien und anderen Ländern. Wir sind jedoch weiterhin in der Luft und auf See verwundbar und werden in den nächsten Monaten und Jahren daran arbeiten müssen, unsere Verteidigung zu verstärken.
Glauben Sie, dass Putin bereit wäre, chemische oder nukleare Waffen einzusetzen?
Nichts ist ausgeschlossen. Er hat bereits in der Vergangenheit chemische Waffen eingesetzt. Sie erinnern sich an die Vergiftung des Ex-Spions Sergej Skripal 2018 in Großbritannien. Das Wichtigste ist, dass man keine Angst vor Putin haben sollte, denn das ist genau das, was er will, Angst schüren und spalten. Wir müssen eine starke Haltung einnehmen und daran erinnern, dass das Bündnis auch über Atomwaffen verfügt. Europa und die USA haben Einigkeit bei den Sanktionen bewiesen, was Putin überrascht hat. Die NATO kann es sich nicht mehr leisten, nur eine reaktive Position einzunehmen, sondern muss pro-aktiv tätig werden. Die ukrainische Verteidigung muss so weit wie möglich unterstützt werden.
Wie beurteilen Sie die Rolle, die Deutschland seit Beginn des Krieges in der Ukraine gespielt hat?
Die Ankündigung von Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Bundestag am 27.Februar, Waffen in die Ukraine zu schicken und den Verteidigungshaushalt mit einem Fonds von 100 Milliarden Euro zu erhöhen, war historisch. Eines der größten Probleme für unsere Sicherheit war, dass Deutschland aufgrund seiner pazifistischen Tradition nicht genügend in seine Verteidigung investierte.
Welche Erinnerung hat Ihr Land an die Sowjetzeit?
Wenn man liest, dass Putin Menschen aus Mariupol nach Russland deportieren lässt, ruft dies schmerzhafte Erinnerungen an die sowjetische Besatzung wach. Wir haben gerade am Freitag, den 25. März, der Deportationen vom März 1949 gedacht. Unser Land war 1940 und 1941 kurzzeitig von der Roten Armee besetzt worden, bevor die Deutschen kamen. Hier begannen die ersten Deportationen von lettischen Gegnern des Kommunismus in sibirischen Arbeitslager. Nach der Rückkehr der sowjetischen Armee 1944, fand 1949 eine große Welle von Deportationen lettischer Bauern statt, die gegen die Kollektivierung waren. Mehr als 40.000 Menschen, ganze Familien, wurden an einem einzigen Tag deportiert. Diese Deportationen fanden gleichzeitig in allen baltischen Staaten statt.
Wie entwickelten sich die Beziehungen zwischen Ihrem Land und Russland nach der Rückkehr der Unabhängigkeit im Jahr 1991?
Nach 1991 normalisierten sich unsere Beziehungen. Der erste lettische Botschafter in Moskau, der acht Jahre lang im Amt war, erzählte kürzlich in einem Interview, dass er Boris Jelzin und Michail Gorbatschow mehrmals getroffen habe und dass die Beziehungen gut gewesen seien. Ein Vertrag über die Anerkennung der russisch-lettischen Grenze wurde 1997 ausgehandelt, auch wenn er erst 2007 zwischen unseren beiden Ländern ratifiziert wurde. Wir begannen uns erst wirklich Sorgen zu machen, als wir sahen, wie Putin in Tschetschenien (1999-2000), dann in Georgien (2008) und schließlich 2014 in der Ukraine vorging.
Das Interview führte Cécile Calla.
Imants Liegis ist lettischer Diplomat und ehemaliger Verteidigungs- und Justizminister des Landes. Derzeit forscht er als Senior Research Fellow am Latvian Institute of International Affairs.