„Wir stecken hier fest“

Interview mit der ukrainischen UX-Designerin Alina Redko

Region Shytomyr, Ukraine, 28. Februar 2022

 

 

Frau Redko, was haben Sie seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn der russischen Invasion, erlebt?

Mein Freund hat mich um 06:00 Uhr morgens geweckt und mir gesagt, dass der Krieg begonnen hat. Ich konnte es nicht fassen. Er war wegen einer gewaltigen Explosion aufgewacht. Dann habe ich aus den Fenstern unserer Wohnung geschaut - wir leben im 11. Stock eines Wohnhauses in der Peripherie von Kiew - und sah aus der Ferne Lichter und Feuer, die durch Explosionen verursacht waren. Innerhalb einer halben Stunde haben wir unsere Sachen gepackt. Im Radio sagten sie uns, dass wir zuhause bleiben und nirgendwo hin fahren sollten. Mit meinem Freund hatten wir aber vereinbart, dass wir im Falle eines Krieges sofort unsere Wohnung verlassen würden. Wir wohnen direkt neben einem Militärposten. Als wir dann um 07:00 Uhr mit dem Auto los fuhren, waren die Straßen schon verstopft. Wir wussten anfangs gar nicht wohin mit uns, aber dann beschlossen wir zu den Eltern meines Freundes zu fahren. Jetzt sind wir in einem Dorf südlich von Shytomyr (westlich von Kiew) im Zentrum des Landes. Wir hören nur ab und zu die Alarmsirenen aus dem benachbarten grösseren Dorf. Wir stecken hier fest: wir können nicht nach Westen fahren. Die Hauptstraßen sind geschlossen wegen der Bombardierungen und wir haben auch sowieso nicht mehr genug Benzin. Mein Freund wurde wegen seiner Gesundheit nicht eingezogen, aber er kann auch nicht evakuiert werden. Die Hotels und Herbergen sowie die Züge evakuieren derzeit nur Frauen und Kinder. Ich möchte aber nicht ohne ihn weg. Mein Gefühle wechseln ständig zwischen Verlorenheit, Panik und Wut. Ich weiß nicht mehr welches Datum wir haben, ich zähle ab dem ersten Tag der Invasion. Mein Leben wird nie wieder wie früher sein.

Wie geht es Ihren Freunden oder Kollegen, die in den grossen Städten wie Kiew oder Charkiw geblieben sind?

Die Menschen müssen die ganze Zeit in den Luftschutzräumen der U-Bahn ausharren, die Essenversorgung ist schwieriger geworden. Am Wochenende waren alle Geschäfte zu, am Montag nur für ein paar Stunden geöffnet. Meine Kollegen aus Charkiw haben mir furchtbare Videos geschickt, die zeigen, wie die Stadt bombardiert und zerstört wird. Meine Eltern, die in einem Dorf in der Region von Tschernihiw (Nord-Ost Ukraine) unweit der weissrussischen Grenze leben, hören oft die Alarmsirenen heulen. Sie können nachts nicht mehr richtig schlafen und legen sich nur noch angezogen ins Bett, falls sie doch plötzlich gehen müssen.

Haben Sie noch Hoffnung für Ihr Land?

Natürlich haben wir Hoffnung. Putin möchte unsere Kultur und Identität von der Karte tilgen. Unser Präsident Wolodymyr Selenskyj, über den die ganze Welt wegen seiner mangelnden politischen Erfahrung gelacht hat, macht einen sehr guten Job. Er ist für mich der erste Präsident, der so viel über unsere Kultur und Identität gesprochen hat, der versucht hat, das Land zu einen. Und auch wenn wir nicht seiner gesamten Politik, zum Beispiel was die Wirtschaft betrifft, zugestimmt haben, sind wir doch heute so vereint wie noch nie. Ich verspüre einen tiefen Wunsch zu kämpfen. Wir haben auch von den Behörden Anweisungen erhalten, wie man Waffen wie Molotow-Cocktails herstellt und wie man Panzer zerstört. Viele Zivilisten haben sich im Kampf engagiert, weil sie ihr Land schützen wollen. Ich leiste meinen Beitrag durch das Hacken von russischen Seiten: von Regierungsseiten, von Bank- und Militär-Systemen oder Medien-Kanälen. Ich ziehe diese Art des Kampfes dem Töten von Menschen vor. Es ist schrecklich, all diese russischen Nachrichten zu lesen, wo behauptet wird, dass Russland jetzt jedes Land erobern könnte. Die Menschen dort sind wie Zombies. Sie sagen, dass wir Nazis sind, dass wir russischsprachige Menschen töten. Ich hoffe, dass noch mehr Menschen in Russland auf die Straße gehen werden. Ich weiß aber auch, dass viele Angst haben zu demonstrieren.

Fühlen Sie sich von Europa unterstützt?

Bevor der Krieg begann habe ich gesehen, wie die unterschiedlichen europäischen Länder sich bemüht haben, eine politische Lösung zu finden. Aber am ersten Tag fühlten wir uns komplett alleingelassen. Inzwischen wurden Maßnahmen getroffen, Menschen sind auf die Straße gegangen, haben Druck auf die Regierungen ausgeübt. Europa hat eine enorme Rolle zu spielen, denn es ist ja nicht ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine, sondern zwischen Russland und der ganzen Welt. Wenn sie die Ukraine einnehmen, könnte Europa als nächstes angegriffen werden.

Das Interview führte Cécile Calla. 


Alina Redko, geboren im Norden der Ukraine, ist 27 Jahre alt und arbeitet als User Experience Designerin bei einer IT-Firma in Kiew. Am Tag des russischen Einmarsches in die Ukraine floh sie mit ihrem Freund aus Kiew und hält sich seitdem in einem kleinen Dorf im Zentrum des Landes auf.


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