„Londons furchtbare Skyline“

Sind Wolkenkratzer nur eine Spielwiese für reiche Investoren? Der britische Schriftsteller Will Self im Interview über seine Wanderungen durch London und darüber, wie internationales Kapital die Stadt grundlegend verändert hat

Ein Interview mit Will Self

Juli 2022

Herr Self, Ihre schriftstellerische Arbeit ist sehr eng mit der Stadt London verbunden. Das wird zum Beispiel in „The Book of Dave“ deutlich, Ihrem Roman über einen Taxifahrer. Und auch in Ihren Texten über die Wirkung von Architektur und Geografie auf das Befinden und Verhalten von Menschen kommt London immer wieder vor. Welche Rolle spielt diese Stadt für Sie?

Lange Zeit war London meine Muse, aber das hat sich in letzter Zeit geändert. Ich interessiere mich nach wie vor für mein kleines Viertel im Süden, nicht weit vom Oval, dem Cricket-Stadion. Dort plaudere ich mit Bekannten und flaniere durch die Straßen. Die Mehrheit der Menschen dort sind Schwarze, viele mit Wurzeln in Afrika oder der Karibik. Ich lebe gerne in diesem Stadtteil, seine Mikro-Psychogeografie fasziniert mich noch immer. Doch seit ich älter werde und öfter in Paris bin, stelle ich fest: Das London, das ich kannte, existiert einfach nicht mehr.

Wie zeigt sich das konkret?

Die deutlichste Veränderung besteht darin, dass es für viele Leute unmöglich geworden ist, in der Stadt zu leben. Seit 25 Jahren läuft ein Prozess der Verdrängung. Als ich in den 1990er-Jahren nach London zog, gab es noch kleine Geschäfte, Steinmetzbetriebe und Polstereien. Damals habe ich gerade noch das Ende einer Ära miterlebt. Das ist alles vorbei. Heute vertreiben die Preise die Leute aus dem Zentrum Londons. Das führt zu einem Verlust an Vielfalt in der Stadt, die von Fluchtkapital, also Geld das besonders aus Steuergründen aus dem Ausland reinfließt, überschwemmt wird.

Spiegelt sich dieser Prozess in dem sich wandelnden Stadtbild mit seinen vielen Wolkenkratzern?

Ja. Cheese Grater, Wodge, Gherkin („Käsereibe“, „Brocken“, „Gurke“) – diese ganzen ikonischen Gebäude mit den bezeichnenden Spitznamen – wurden in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten aus dem Boden gestampft, wobei sie natürlich eigentlich nicht ikonisch sind, sondern eher eine Kombination aus Bauwerk und Logo, eine gebrandete Skyline. Sie wirken wie Enklaven und verändern den Charakter der Stadt. London war eigentlich nie durch Hochhäuser geprägt. Erst Mitte der 1960er-Jahre wurde an der Park Lane das Hilton Hotel gebaut, ein persönliches Geschenk des damaligen Premierministers Harold Wilson an Conrad Hilton. Neben Millbank Tower und Centre Point war es lange das einzige echte Hochhaus in Londons Innenstadt. Vor ein paar Jahren traf ich Irvine Sellar in seinem Büro im sechzigsten Stock seines Investitionsprojekts The Shard. Er deutete zum Fenster und auf das atemberaubende Panorama der Stadt und sagte: „Was Sie hier sehen, ist alles Fluchtkapital. Wir können davon gar nicht genug bekommen.“ Mit anderen Worten: In London hat man den Eindruck, man lebe unter einem Regime, das sich auf die Unsicherheit anderer Regime gründet – Regime, die sich darauf verlassen können, dass hier nicht gegen sie ermittelt wird. So gesehen, ist diese Skyline abscheulich.

Seit Jahren ist London ein Tummelplatz für Oligarchen. Hat sich das durch den Krieg in der Ukraine geändert?

Die alten Oligarchentreffs sind weitgehend verschwunden. Die Crème de la Crème der City wurde sozusagen abgeschöpft. Dass London ein sicherer Hafen für Fluchtkapital ist, wurde lange bestritten, aber der Einfluss war immens. Auf dem Londoner Immobilienmarkt haben sich die Oligarchen mit all ihrem Geld über einen begrenzten Häuserbestand hergemacht. Ja, momentan treten sie weniger in Erscheinung, aber es gibt genug andere, die ihr Kapital hierherbringen und von Großbritannien ungeniert umworben werden. London ist nach wie vor eine gute Adresse für alle möglichen ausländischen Investoren, die nicht so sauber sind, wie sie sein könnten.

Gibt es eine wachsende Kluft zwischen den Londoner Communitys und diesen internationalen Kapitalströmen?

Ja – und das zeigt sich auch in der Sprache. Bei Neubauprojekten in London ist immer von „Luxuswohnungen“ die Rede. Ein anderes Schlagwort ist „placemaking“ – „Räume schaffen“ –, worin natürlich eine gewisse Ironie liegt, da in Wahrheit Wohnraum geraubt wird. Der Bestand wird ausradiert. Irgendwann wird es vielleicht gelingen, neue Communitys aufzubauen, die sich in das Stadtgefüge integrieren, aber das wird Jahrzehnte dauern. Die bisherigen Luxusprojekte wirken so, als wären sie vom Raumschiff Enterprise heruntergebeamt worden.

Wie interpretieren Sie die „abscheuliche Skyline“ aus der distanzierteren Perspektive des Stadtwanderers?

Mein Verhältnis zu diesen Megastrukturen ist ambivalent. Ich kann ihnen durchaus etwas abgewinnen, weil sie wie Parallaxen wirken. Sie bieten Orientierung im Stadtraum. Darüber hinaus haben sie im Sinne der Definition, die der Philosoph Edmund Burke im 18. Jahrhundert formulierte, etwas Erhabenes: Sie sind als Objekte großartig und zugleich schrecklich. In Zeiten des Klimanotstands führen sie uns mit ihrem Ressourcenverbrauch außerdem das eigene fehlgeleitete Konsumverhalten vor Augen. Ganz konkret verändert sich durch diese Bauwerke das Klima, das auf den Straßen herrscht: Wegen der Luftströme, die an den hohen Fassaden heruntergeführt werden, weht in Londons Stadtzentrum inzwischen oft ein starker Wind. Hinzu kommt ihre schiere Größe: The Shard ist das höchste Gebäude in Europa. The Wodge ist fast so hoch und ein ganzes Stück voluminöser – und daneben wird gerade der nächste Wolkenkratzer hochgezogen.

Greifen das Gehen und das Schreiben bei Ihnen ineinander – oder sind das einfach zwei parallele Interessen?

Nach einem langen Spaziergang läuft die zurückgelegte Strecke noch einmal vor dem inneren Auge ab. Ich lasse das Erlebte Revue passieren und spüre gewissermaßen mit dem Körper der Topografie nach. Der durchquerte Raum wird im somatischen Gedächtnis abgespeichert. Ich finde, das Romanschreiben hat damit eine gewisse Ähnlichkeit. Ein Erzählstrang ist mit dem Verlauf eines Spaziergangs vergleichbar. Im Roman gibt es ebenfalls ein räumliches Umfeld, geschaffen durch Prosa. Meine Arbeitsweise – meistens kenne ich meine Bücher auswendig, wenn ich sie fertig geschrieben habe – ähnelt einer langen Wanderung. Ich habe das Buch komplett im Kopf und spule es innerlich zurück. Außerdem ist das Gehen dem kreativen Denken per se förderlich. Man erinnere sich nur an Jean-Jacques Rousseaus „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“ oder an William Wordsworth, der seine Gedichte im Gehen verfasst hat. Der körperliche Akt des Schreitens passt gut zum Rhythmus der Poesie und Prosa.

Erleben Sie die Stadt aufgrund der Erfahrung mit Covid anders als früher?

Ich bin während der Coronazeit extrem viel spazieren gegangen. Dadurch lernte ich die Stadt, die ich vorher schon kannte, noch mal anders kennen. Rein vom Standpunkt des Flaneurs und Psychogeografen her betrachtet, waren die Pandemiemonate großartig, wie eine Zeitreise: Während des ersten Lockdowns hörte ich in der Kennington Lane – normalerweise eine extrem stark befahrene Straße – eine Nachtigall singen. Auf einmal waren nur noch ganz wenige Autos unterwegs. Mir wurde bewusst, dass man in der Stadt die Blicke auf die Fahrzeuge richtet und auch das Denken davon bestimmt wird. Dazu gibt es eine schöne Passage bei Walter Benjamin. Er beschreibt die Stadt als eine Abfolge von Schocks. Diese Art von Wahrnehmung kam während der Pandemie über Nacht zum Stillstand.
 


Das Interview führte Jess Smee

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld

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