Juli 2022
Wir treffen Olena Frischerman bereits im Mai in einem nüchternen Mehrzweckraum im Pflegeheim „El-Jana“ in Berlin-Marzahn: feine graue Haare, ein alter Pullover mit Blumenmuster, die Hände ineinander verschränkt. Sie sitzt abgewandt von den großen Panoramascheiben. Draußen am Himmel ziehen graue Wolken in Richtung der nahen Stadtgrenze. Es ist nicht leicht, Olenas wachem und forderndem Blick standzuhalten. Sie sitzt aufrecht, aber wirkt dabei gelassen, wie jemand der es gewohnt ist, das letzte Wort zu haben. Erst hört sie dem Fragenden aufmerksam zu, dann beginnt sie in schönem Russisch zu erzählen.
Bevor der Zweite Weltkrieg begann, war meine Beziehung zu meinem Vater sehr eng. Wir gingen oft spazieren. Er war ein angesehener Ingenieur und arbeitete damals im Bauministerium in Kiew. Gleich am Anfang des Krieges entschied er sich für den Dienst in der Armee. Er sagte, er habe weniger Angst vor der Front als vor Stalin. Denn wer damals einen Fehler machte, der wurde schnell denunziert. Als die Deutschen im Juni 1941 die Ukraine überfielen, war mein Vater als Soldat an der Grenze stationiert. Die Männer machten untereinander aus, dass jene, die den Krieg überleben, sich um die Familien der gefallenen Kameraden kümmern würden.
Mein Papa starb noch am ersten Tag der Kampfhandlungen. Er hatte vorher dafür gesorgt, dass meine Mutter und ich evakuiert wurden – erst zu seinem Bruder, dann nach Kasachstan in die Nähe von Baikonur. Dort, nahe des Weltraumbahnhofs, blieben wir während des Krieges. Erst 1944 ging es zurück nach Kiew. Das Mehrfamilienhaus, in dem sich unsere Wohnung befand, stand zwar noch, war aber von Mitarbeitern des Bauministeriums in Beschlag genommen. Wir waren von einem auf den anderen Tag obdachlos. Das war eine schwere Zeit. Erst lebten wir in einem Keller, in dem das Wasser in Pfützen stand. Drei Jahre später traf meine Mutter einen Freund meines Vaters, der Kontakte zu Nikita Chruschtschow hatte, damals Erster Sekretär der Kommunistischen Partei in der Ukraine. So konnten wir zumindest ein Zimmer in unserer alten Wohnung zurückbekommen.
Es ist nicht leicht zu erklären, aber wir verspürten keinen Hass auf die Deutschen, wir waren ja Kinder. Wir schauten den deutschen Kriegsgefangenen bei der Arbeit zu, und sie beobachteten uns beim Spielen. Ich denke, sie vermissten ihre eigenen Familien sehr. Unser Anblick schien ihnen Trost zu spenden. Meine Mutter arbeitete währenddessen, wo auch immer sie konnte, um unsere Familie zu ernähren. Es gab einfach keine Zeit, über den Krieg oder irgendwelche Traumata zu sprechen. Für den Rest ihres Lebens würde sie sagen: „Egal wie schwierig unser Leben auch sein mag, Hauptsache der Krieg ist vorbei!“
Meine Mutter war eine Waise, ihre gesamte Familie wurde während der Pogrome an den ukrainischen Juden im Jahr 1919 ermordet. Damals starben Zehntausende. Sie war eines von nur vier Kindern, die damals in ihrer Gemeinde überlebten. Auch mein Vater war Jude, auch er war allein. Es gab in ihrer Kindheit und Jugend niemanden mehr, der ihnen die Religion und die Bräuche hätte weitergeben können. Zeitweise war es in der Sowjetunion verboten, unseren Glauben zu leben. Man durfte weder jüdisch denken noch träumen. Selbst einen jüdischen Namen zu tragen, stellte ein Problem dar. So hat die Religion in meinem Leben auch keine große Rolle gespielt. Gott existierte damals nicht.
„In der Ukraine gibt es viele Organisationen, die Juden unterstützen. Es ist populär, zu seinen jüdischen Wurzeln zu stehen“
Das ist heute anders. In der Ukraine gibt es viele Organisationen, die Juden unterstützen. Es ist populär, zu seinen jüdischen Wurzeln zu stehen. Das Paradoxe ist, dass meine Familie ihr Jüdischsein in all den Jahren nie verleugnet hat. Viele haben ihre Namen geändert, wir nicht. Das wäre in meinem Fall auch Unsinn gewesen. Schauen Sie mich an, ich bin eine Jüdin und sehe auch aus wie eine!
Vieles wurde dadurch schwerer. Aber wir Juden sind ein Volk der Überlebenskünstler – selbst Hochbegabte von uns müssen oft um Anerkennung ringen. Ich habe schließlich Ingenieurwissenschaften in Moskau studiert und parallel dazu als technische Zeichnerin gearbeitet. In Kiew wäre das nicht möglich gewesen.
Mein Verhältnis zur Ukraine ist heute kompliziert. Ich liebe mein Land, aber ich verstehe viele politische Entscheidungen nicht. Etwa warum Faschisten und Nazi-Kollaborateure heute als Nationalhelden gefeiert werden. Den aktuellen Krieg hat niemand gebraucht, niemand will ihn. Ich bin froh darüber, dass ich nach Deutschland kommen durfte. Schon in den Neunzigern sind viele Ukrainer hierher migriert, darunter auch Juden. Man kann in Deutschland gut leben, es gibt hier eine gesunde Demokratie. Der Empfang im Heim war sehr herzlich, die Menschen auf der Straße helfen mir, wenn ich den Weg nicht weiß. Aber natürlich habe ich nur einen Wunsch: zurück nach Hause!
Träger des „El-Jana“ ist die Volkssolidarität Berlin. Während des Gesprächs hat die Leiterin des Heimes, Laura Rose, gedolmetscht.
Protokolliert von Ruben Donsbach.