„Es gibt einen Hass auf Macron, der spektakulär ist“

Die jüngsten Präsidentschaftswahlen haben Emmanuel Macron im Amt bestätigt, doch viele Wähler glauben nicht mehr an die Politik. Im Zuge der Parlamentswahlen kommentiert Rokhaya Diallo im Interview die politische Neuformierung in Frankreich

Interview mit Rokhaya Diallo

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Juni 2022

 

Frau Diallo, nach fünf Jahren im Amt wurde Emmanuel Macron im April als Staatspräsident wiedergewählt und kämpft derzeit darum seine Mehrheit zu behalten. In welchem Zustand befindet sich Frankreich?

Es gibt sehr viele Ressentiments. Viele Menschen fühlen sich nicht gehört oder herablassend betrachtet. Dies erklärt die Spannungen und die Tatsache, dass sich so viele Französinnen und Franzosen für die extreme Rechte entscheiden. Sie haben das Gefühl, dass die herkömmliche Politik nicht mehr in der Lage ist, auf ihre Probleme zu reagieren. Selbst wenn Emmanuel Macron behauptet, dass er sich neu erfinden wird, glauben ihm die Menschen nicht mehr wie 2017. Es gibt einen Hass auf Macron, der spektakulär ist. Die Menschen sind bereit, um jeden Preis gegen den Präsidenten zu sein, selbst wenn sie meinen, dafür eine Rechtsextreme wie Marine Le Pen wählen zu müssen.

Wie lässt sich das beispiellos erfolgreiche Abschneiden der extremen Rechten bei den Präsidentschaftswahlen erklären?

Es ist ein Ausdruck von Verzweiflung und der Tatsache, dass Marine Le Pen viel an ihrem Image gearbeitet hat. Die Menschen haben vergessen, wer sie ist und woher sie kommt. Während des Wahlkampfes wurde nicht mehr über ihr fremdenfeindliches und sexistisches Programm oder die Einführung eines Polizeistaates gesprochen. Ein Teil ihrer Wählerschaft ist sich der Bedrohung, die sie darstellt, nicht mehr bewusst. Sie hat sich als starke Frau im Angesicht der Widrigkeiten präsentiert. Die Kandidatur des rechtsextremen Éric Zemmour, einem ehemaligen Journalisten der Tageszeitung „Le Figaro“, mit seinen noch kruderen Thesen ließ sie außerdem als vergleichsweise vernünftig erscheinen.

Auch die Regierung hat zu dieser Banalisierung beigetragen. In einer Debatte warf ihr der Innenminister Gérald Darmanin sogar vor, sie sei zu „weich“. Wenn sie zu weich ist, kann sie in den Augen vieler Wählerinnen und Wähler nicht wirklich gefährlich sein. Selbst der Präsident der Republik erklärte zwischen den beiden Wahlgängen, dass er sie respektiere.


 

„Die französische Verfassung ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Sie wurde auf Charles de Gaulle zugeschnitten, und man kann von einer republikanischen Monarchie sprechen”

 


Welche Verantwortung tragen die Medien bei dieser Strategie der Entdämonisierung?

Ein Teil der Presse, Blätter wie „Le Monde“ und „Libération“ und die Online-Zeitung „Mediapart“ haben ihre Arbeit getan, haben die Maßnahmen ihres Programms erklärt und auf die Gefahren, die davon ausgehen, hingewiesen. Aber in einigen sehr populären Fernsehsendungen wurde sie wie alle anderen Politikerinnen und Politiker empfangen. Man stellte ihr Fragen zu ihrem Junggesellendasein, ihrer Liebe zu Katzen, ihrer schwierigen Kindheit, die sie angeblich wegen ihres Nachnamens hatte. Die wesentlichen Fragen wurden übergangen.

Die Wahlbeteiligung erreichte beim letzten Urnengang einen neuen Tiefpunkt. Unter den Nichtwählerinnen und Nichtwählern sind viele junge Menschen. Verweist dies auf ein Desinteresse an der Politik?

Ich glaube nicht, dass man die Jugend als entpolitisiert bezeichnen kann. Diese Generation engagiert sich, ist sich im Vergleich zur vorherigen vieler Probleme bewusst, sie demonstriert viel, etwa für den Klimaschutz. Nur glauben viele der Jungen nicht mehr an die Politik, wie sie heute praktiziert wird, und dass sich die Dinge durch sie verändern werden. Emmanuel Macron hat eine sehr offensive Rede zu Klimafragen gehalten und seine Versprechen letztlich nicht gehalten. Allgemeiner betrachtet, herrscht ein Misstrauen gegenüber der Politik, die die Generation ihrer Eltern vertritt.

Wie soll der Wandel dann stattfinden?

Das ist eine gute Frage. Die neue Generation vertraut sehr stark auf Aktivismus und den Druck der Strasse. Was auch immer man von den Gelbwesten halten mag, sie haben es geschafft, Zugeständnisse von Emmanuel Macron zu erhalten.

Sind Sie der Meinung, dass das politische System geändert werden muss? Die Angst vor dem Niedergang ist allgegenwärtig, und gleichzeitig wird kaum über eine grundlegende Verfassungsreform diskutiert.

Die französische Verfassung ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Sie wurde auf Charles de Gaulle zugeschnitten, und man kann von einer republikanischen Monarchie sprechen. Verglichen mit anderen westlichen Demokratien hat der Präsident sehr viel Macht. Wenn der Präsident nicht mit einer Regierung zusammenarbeiten muss, die einem anderen politischen Lager angehört, also die Regierungsverantwortung teilen muss, dann gleicht die Assemblée nationale einem reinen Abnickparlament. Unsere Verfassung müsste mehr Demokratie gewährleisten.


 

„Ich glaube an eine Neuerfindung des politischen Systems, weil sich die politische Landschaft in den letzten Jahren stark verändert hat. Es gab eine spektakuläre Neuverteilung der Macht sowohl auf der linken als auch der rechten Seite”

 


Wie soll das gehen?

Wir brauchen ein Verhältniswahlrecht bei den Parlamentswahlen, damit die Opposition stärker vertreten ist, und der Präsident muss vor dem Parlament Rechenschaft ablegen. Zwischen der Präsidentschaftswahl und dem Ende der fünfjährigen Amtszeit passiert nichts, da die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zur gleichen Zeit stattfinden und eine Cohabitation unwahrscheinlich ist.

Glauben Sie an eine Neuerfindung des politischen Systems?

Ich glaube daran, weil sich die politische Landschaft in den letzten Jahren stark verändert hat. Es gab eine spektakuläre Neuverteilung der Macht sowohl auf der linken als auch der rechten Seite. Vor zehn Jahren hätte sich niemand vorstellen können, dass die Sozialistische Partei praktisch verschwinden würde, dass La France insoumise, die Partei von Jean-Luc Mélenchon, die mal als demokratisch sozialistisch, mal als linkspopulistisch bezeichnet wird, einen derartigen Höhenflug erleben würde. Niemand hätte gedacht, dass es bei den Parlamentswahlen zu einem Bündnis aller Linken kommen könnte. Die Kraft der Veränderung ist also da.

Wie weit wird diese Kraft reichen?

Ich glaube, dass die Menschen einem Systemwechsel nicht abgeneigt sind. Es müsste einen Kandidaten geben, der eine Erneuerung des Systems samt Verfassungsänderung konsequent durchsetzen will und kann. Das hat auch das Ergebnis des ersten Wahlgangs im April gezeigt, in dem Jean-Luc Mélenchon den Einzug in die zweite Runde nur knapp verpasste.

Aber wollten viele, die für Mélenchon stimmten, nicht vor allem ihre Enttäuschung über Emmanuel Macron zum Ausdruck bringen?

Es gibt auch viele, die aus tiefer Überzeugung für ihn gestimmt haben, weil sie sich eine echte linke Politik wünschen. Mit dem Verfassungsmodell, das Mélenchon vorschlägt, will er ein starkes Forum für Fragen der soziale Gerechtigkeit schaffen.

Ist der französische Universalismus für unsere heutige Zeit geeignet?

Es besteht ein Unterschied zwischen dem, was Universalismus ist, und dem, was die Menschen darüber sagen. Es gibt in Frankreich eine Form des Universalismus, die völlig theoretisch bleibt, eine Legende, die man sich erzählt, die man benutzt, um die Menschen, die die Werte der Republik hochhalten wollen, mundtot zu machen. Dabei war die Republik schon immer ausgrenzend, von Anfang an. Nach der Revolution von 1789 schaffte man die Sklaverei ab, um sie dann einige Jahre später wieder einzuführen. Die Republik war sexistisch, bis 1944 durften Frauen nicht wählen. Das Konzept des Universalismus wurde immer von Menschen formuliert, die sich in einer Position der sozialen Dominanz befanden. Meiner Meinung nach ist der französische Universalismus ein Werkzeug, um Menschen, die Gleichheit wollen, zum Schweigen zu bringen. Zugleich wünsche ich mir einen neuen Universalismus. Aber er kann nur aus dem Antirassismus, dem Feminismus und aus Ideen derer hervorgehen, die von Ungerechtigkeiten betroffen sind. Der Universalismus, wie er heute formuliert wird, ist blind für die Realitäten unserer Zeit und die Probleme, die das Land hat.


 

„Das Tragen von Burkinis hat nichts mit dem Laizismus zu tun. Der Laizismus gilt für den Staat und seine Beamten – und nicht für die Besucherinnen und Besucher von Schwimmbädern. Die Unkenntnis der Gesetzestexte ist erstaunlich“

 


Sollte man den Begriff also gar nicht mehr verwenden?

Ganz im Gegenteil, wir müssen ihn uns wieder aneignen, er gehört nicht einer kleinen Gruppe von Personen. Es gibt eine Menge Universalismus bei den Feministinnen wie auch bei den Menschen, die gegen Polizeigewalt demonstrieren. Dies sind Kämpfe, die allen zugutekommen.

Wie würden Sie Universalismus definieren?

Es ist eine politische Orientierung, die Partikularismen nicht leugnet, die es allen unabhängig von ihren Besonderheiten ermöglicht, einen angemessenen Platz in einem politischen Raum zu finden, den sie sich miteinander teilen.

Der Laizismus bleibt ein großer Zankapfel. Die jüngste Entscheidung des Bürgermeisters von Grenoble, das Tragen von Burkinis in den städtischen Schwimmbädern zu erlauben, hat das ganze Land elektrisiert. Warum ist dieses Thema in Frankreich so brisant?

Die gleiche Frage wird immer wieder gestellt. Man arbeitet sich daran ab, obwohl im Gesetz von 1905 zur Trennung von Kirche und Staat alles gesagt ist. Das Tragen von Burkinis in Schwimmbädern hat nichts mit dem Laizismus zu tun. Er gilt für den Staat und seine Beamten und nicht für die Besucherinnen und Besucher von Schwimmbädern. Die Unkenntnis der Gesetzestexte ist erstaunlich. Im Dezember 2018 hat die unabhängige Verwaltungsbehörde „Défenseur des droits“, die dafür zuständig ist, die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger zu verteidigen, eine Entscheidung getroffen, als einer Frau, die einen Burkini trug, der Zugang zu einem Schwimmbad verweigert wurde: Sie kam zu dem Schluss, dass es sich um eine Diskriminierung handelte, und forderte die Einrichtung auf, ihre Hausordnung zu ändern.

Man kann sich nicht jedes Mal auf die Republik berufen, wenn sich in den Gesetzestexten nichts findet, das Dinge wie ein Burkini-Verbot in Schwimmbädern rechtfertigen würde. Es werden ständig Spannungen um ein Thema erzeugt, das letztendlich nur wenige Personen betrifft. Es gibt eine Anweisung, auf eine bestimmte Art und Weise Franzose zu sein, nämlich weiß und christlich. Diese Debatte läuft seit 1989, als ein Streit um drei muslimische Mädchen entbrannte, die an ihrer Schule Kopftuch trugen, und wir kommen nicht voran.

Im Jahr 2017 hatte Emmanuel Macron doch immerhin eine gewisse Offenheit in dieser Frage gezeigt.

Während seiner fünfjährigen Amtszeit hat er sich in dieser Hinsicht völlig verändert. Im Jahr 2018 sagte er in einem Interview, dass das Tragen des Kopftuches nicht mit einer gewissen Höflichkeit vereinbar sei. Darüber hinaus hat er Politiker, die das Gesetzs von 1905 über den Laizismus auf restriktive Weise auslegen wollen, etwa dem Innenminister Gérald Darmanin und Ex-Bildungsminister Jean-Michel Blanquer, einiges an Macht gegeben. Er ließ sie mit einer Art Selbstgefälligkeit gewähren und versteifte sich im Laufe der Jahre.

Dies ist ja nicht das einzige Thema, bei dem der Präsident seine Position verändert hat.

Genauso ist es bei der Erinnerungspolitik. Er hatte gesagt, dass die Kolonisierung Algeriens ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war, um schließlich, als es um Solidaritätskundgebungen für die Black Lives Matter-Bewegung ging, die Proteste zu kritisieren und die Polizeigewalt herunterzuspielen. Er hat sich völlig versteift, man hat den Eindruck, dass er nicht die gleiche Person wie 2017 ist.


Das Interview führte Cécile Calla.