Juni 2022
Was bedeutet Heimkehren? Die Künstlerin und Autorin Nacha Vollenweider stellt sich dieser Frage in ihrem autobiografischen Comic-Essays auf sehr persönliche Weise. Nach der Scheidung von ihrer Frau, mit der sie mehrere Jahre in Hamburg zusammenlebte, zieht sie zurück nach Córdoba in Argentinien, die Stadt ihrer Kindheit. Doch wie findet man nach Jahren in der Fremde wieder einen Platz in der alten Heimat? „Eine Reise in die verkehrte Richtung, vom Norden in den Süden, wird wie eine Niederlage gesehen. Eine enttäuschte Hoffnung“, fasst Vollenweider ihre Eindrücke bei dieser Rückkehr zusammen.
In kleinen, fein beobachteten Alltagsszenen, die in kontrastreichen Schwarz-Weiß-Zeichnungen festgehalten sind, nähert sich Vollenweider dem Rhythmus Córdobas an. Sie porträtiert Autowäscher, die für ein paar Pesos Trinkgeld die Wagen der Nachbarschaft bewachen, und Straßenhändlerinnen, die von Tag zu Tag mehr Mais verkaufen müssen, um über die Runden zu kommen: Die allgegenwärtigen Zeichen der Inflation spielen eine große Rolle, das Land steckt seit Jahren in einer massiven Wirtschaftskrise. Stundenlang stehen die Menschen an, um Grundnahrungsmittel zu erwerben.
„Der Schmerz ist ein überlebensgroßes Monster mit Reißzähnen, das sich nachts nähert“
In dieser Welt findet Vollenweider nach und nach wieder ihren Platz. Sie schlendert durch die Straßen, kauft Heiligenfigürchen der Mischreligion Umbanda mit ihrer afrikanischen, indigenen und christlichen Symbolik. Ganz langsam bekommt sie wieder ein Gefühl für das Land: „Der Umgang mit Zeit ist nicht so streng. Nicht so genau. Nicht so wichtig.“ Parallel dazu zeichnet die Autorin in Rückblenden teils über mehrere Jahre, und indem sie prägende Erlebnisse an verschiedenen Orten schildert (Córdoba, Hamburg, Belém in Brasilien, Grindelwald in der Schweiz), das Scheitern ihrer Beziehung nach. Atmosphärisch dicht und mit überzeugender Bildsprache illustriert sie ihren Schmerz über den Verlust der Liebe als überlebensgroßes Monster mit Reißzähnen, das sich nachts nähert. Erst als sie beginnt, sich dem Schmerz zu stellen, verwandelt sich auch das Ungetüm: Es schrumpft in sich zusammen, bis es nur noch als harmlose schwarze Taube erscheint. In einer der schönsten Szenen des Comics schwingt sich die Vollenweider-Protagonistin auf den Rücken des Vogels und fliegt davon – letztlich befreit durch die Scheidung.
Besonders packend ist die Graphic Novel auch dort, wo sich die Autorin ihrer komplizierten Familiengeschichte widmet. Als Vollenweider in einem alten Karton Bücher ihres deutschstämmigen Urgroßvaters findet, begibt sie sich auf eine Reise in die Vergangenheit. Anhand der nachgezeichneten Buchseiten, die ganz im Geist des europäischen Kolonialismus stehen und vielsagende Titel tragen wie „Die Rassenschönheit des Weibes“ oder „Unsere Reichswehr“, nähert sie sich der Gedankenwelt ihres Vorfahren an. Sie hinterfragt die Privilegien, mit denen ihre Ururgroßeltern einst nach Lateinamerika kamen, und blickt kritisch in die Gegenwart: „Wie viel davon besteht heute noch fort?“
Nacha Vollenweiders Graphic Novel ist eine sehr persönliche Reflexion über Verlust und Akzeptanz, Abschiednehmen und Zugehörigkeit. Es gelingt ihr, aus den unterschiedlichen Erzählsträngen ein kohärentes Ganzes zu schaffen. Die Alltagsszenen wechseln sich ab mit Erinnerungen, Bilder von der Wirtschaftskrise mit solchen, in denen die eigene Familiengeschichte aufgearbeitet wird: All das entwickelt beim Lesen einen Sog, dem man sich erst entziehen kann, wenn die letzte der 200 Seiten umgeblättert ist.
Die Graphic Novel „Zurück in die Heimat“ von Nacha Vollenweider ist erschienen im Avant-Verlag, Berlin 2022