Ich und mein Whity

Weiß, Schwarz, queer, cis-gender: Wo soziale Konstrukte und die Realität von Geburt an aufeinanderprallen, da sind Konflikte vorprogrammiert. Ein Streit mit meinem anderen Ich

Ein Essay von Max Lobe

August 2022

Meine Mutter sagt, dass ich Weiß geworden bin. Und genau das denkt auch der andere, das heißt, der Weiße, der bei mir wohnt, in meinem Inneren. Sieh an, da ist er auch schon! Er steht vor dem Schwarzen, der zu sein ich vorgebe, dem Schwarzen, der ich gerne gewesen wäre, wenn ich bloß wüsste, was das ist, Schwarz sein.

Er fragt mich, mit vor Wut bebender Stimme: Was willst du eigentlich? Hey! Was zum Teufel willst du? Willst du wieder dorthin zurückgehen und da leben, bei diesen Leuten, ist es das? Verdammt nochmal! Siehst du denn nicht, dass es hier viel besser ist, hier bei mir?

Ich frage mich, was er wohl damit meinen könnte, mit diesem “hier bei mir”. Bei ihm? Aber mein armer Whity, du bist hier, bei mir. Hier, das bedeutet bei mir, selbst wenn wir in einem Land der Weißen leben. Ich weiß, wenn ich ihm so komme, wird er blitzschnell erwidern, dass ich ein Rassist bin, echt mal jetzt! Das ist ja wohl Diskriminierung reinsten Wassers, ach was, die absolute Negation der Idee, dass er und ich friedlich koexistieren könnten. Und weil ich mich nicht streiten will, mit ihm, dem Weißen, der nicht nur bei mir lebt, sondern in mir, der mein Schatten ist, schlucke ich die Worte lieber herunter, die mir auf der Zunge liegen.

 


 

„Genau das denkt auch der andere, das heißt, der Weiße, der bei mir wohnt, in meinem Inneren… Er steht vor dem Schwarzen, der zu sein ich vorgebe, dem Schwarzen, der ich gerne gewesen wäre, wenn ich bloß wüsste, was das ist, Schwarz sein.“


 

Ich tue so, als würde ich ihm keinerlei Aufmerksamkeit mehr schenken. Ich zwinge mich dazu, ihn weder anzusehen noch ihm zuzuhören. Auf dem Flyer in Form einer Postkarte, der vor mir liegt, steht: Wollen wir über Chemsex reden? Das Bild auf der Vorderseite zeigt drei Kerle, deren verschwitzte, nackte Körper ineinander verschlungen sind. Die Zunge des einen berührt sacht das Ohrläppchen des anderen, der in Sandwichposition in der Mitte liegt, während der dritte an seinem Rücken klebt. Alle drei sind Whitys. Ich sage mir, dass die drei Kerle auf der Karte gar nichts anderes sein können als Whitys. Ja, weil meine Mutter sagt, dass unsereins sowas nicht macht. Und in diesem Punkt stimmt der Weiße in mir ihr einmal mehr zu: Ich bin Weiß geworden, denn er weiß, oh ja, er weiß, dass ich das mag, dass ich das bin, das auch bin.

Auf der Rückseite der Karte steht, dass jeder frei heraus reden soll. Jeden Dienstag pünktlich um zwanzig Uhr kann man, hat man endlich (!) das Recht, frei zu reden und sein Geheimnis zu verraten. Dort steht: “Sucht”. Immer noch auf der Rückseite wird präzisiert, dass Diskretion versichert wird, dass eine gastfreundliche Aufnahme in die Gruppe garantiert ist, niemand wird verurteilt, großes Ehrenwort. Man braucht keinen Termin zu machen. Man kann direkt zu der Sitzung hingehen, Dienstagabend, pünktlich um zwanzig Uhr.

Ich kriege einen Lachanfall, der meine Schultern zum Beben bringt. Zwischen den Tremolos meines Hohngelächters sage ich dem anderen, dass es mehr bringt, zu Hause zu bleiben und sich ganz allein einen runterzuholen, als zu solchen Treffen zu gehen. Das ist alles riesiger Quatsch, und ich weise es verächtlich von mir.

Er verharrt sprachlos. Der Weiße bei mir zuhause, derselbe, der da vor mir steht, in meiner Küche, in mir, schafft es nicht, seinen Ekel zu verbergen. Er schleudert mir entgegen: Du bist echt ein Mistkerl! Er macht eine Pause, als suche er nach einer Aussage, die noch genauer und zweifellos noch verletzender wäre als sein einfaches “Du bist echt ein Mistkerl!” Er schüttelt den Kopf und die Spritzer seiner Enttäuschung besudeln mich.


 

„Auf der Karte steht, dass jeder frei heraus reden soll. Jeden Dienstag pünktlich um zwanzig Uhr hat man endlich das Recht, frei zu reden und sein Geheimnis zu verraten“

 


 

Ok! Überrascht lasse ich den Zankapfel, die Karte, auf den Tisch fallen. Mein Bester, zische ich ihm energisch zu: Jetzt kann ich nicht mal mehr in meinem eigenen Zuhause lachen, ohne dass du mich als Mistkerl beschimpfst?

Das hätte ich besser nicht tun sollen. Nein, ich hätte diese Worte nicht aneinanderreihen sollen, diese unschuldige Behauptung, die mein Gewissen beruhigt. Ich hätte es nicht tun sollen, denn das bringt ihn vollends aus der Fassung, meinen Whity. Es platzt aus ihm heraus: Du bist nichts als ein Feigling! Ein Feigling, hörst du?

Beim Treffen am vergangenen Dienstag, fährt er fort, ohne die Stimme zu senken – im Gegenteil, sie wird noch eine Stufe lauter, um tausend Dezibel: Vergangenen Dienstag beim Treffen hast du geflennt wie ein kleiner Junge, als du die ganzen Substanzen aufgezählt hast, die du in deinen Körper hineinkippst. Du durchtränkst dich ja damit, du dreckiger Junkie! Du hast gesagt, wenn du es dir spritzt, fühlst du dich wie der Kleine Prinz, wie ein Flugzeug, dass der Weltraum sich noch nie so groß angefühlt hat, wie in dem Moment, in dem du es dir über die Blutbahn gibst.

Du hast sogar gesagt, und zwar wortwörtlich: Du fliegst davon. Du hast gesagt, dass mit dieser ganzen Chemie die Kollision des Fleisches kein simples und banales Lusterlebnis mehr ist, nein, du hast gesagt, dass es zu Treibstoff für den Raumflug wird. Dass du nicht weißt, wie du dich davon lösen sollst, denn jedes Mal, wenn du wieder auf der Erde landest, unserer von Angst beschmutzten Erde, hättest du nur einen Gedanken im Kopf: Wieder abzuhauen, erneut wegzufliegen. Beim Aufenthalt zwischen den Sternen sind die anderen Kerle nichts als Schafe. Ja, das hast du selbst gesagt, vergangenen Dienstag, erinnerst du dich? Du Bastard!

Ich sage nichts mehr. Meine Miene verschließt sich. Da, da, über dem Herd, dem Dunstabzug, über der steinernen Arbeitsplatte. Da, über der Spüle, die Schränke mit den Metallgriffen. Mechanisch öffne ich das Fach, in dem ich die Glasflaschen aufbewahre. Ich nehme eine davon heraus und fülle sie mit Leitungswasser.

Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass mein Whity mittlerweile am Tisch sitzt, dort, genau da, wo ich vor ein paar Sekunden noch gesessen habe. Er dreht sich einen Joint. Das Grau in dem Rauch, den er ausatmet, ist eine Mischung aus Wut und Demütigung. Er lächelt nervös und spöttisch zugleich. Sein Gesicht zeigt ostentativ den Ausdruck eines Siegers. Er scheint zu glauben, dass er mich mit seiner Tirade fertiggemacht hat, mit seiner stichelnden Erzählung.

Das Küchenfenster rahmt das Porträt der Sonne. Unter dem Zifferblatt stehen Pflanzen. Ihre Töpfe stehen auf einer Eichenbohle, die an die Wand geschraubt ist, etwa einen Meter über dem Boden. Die Blätter sind groß, das ist wahr, aber sie hängen schlaff herunter, sie sterben ab und ihr Grün verliert an Lebendigkeit. Ich gieße sie.

Nachdem ich die Gießflasche auf der Küchenzeile unterhalb der Schränke mit den Metallgriffen abgestellt habe, wende ich mich an den anderen: Siehst du, mein Whity, du weißt noch nicht mal, wie man sich um eine Pflanze kümmert. Um eine arme Pflanze und um das Leben in ihr. Ich wusste nicht, dass die Whitys Pflanzen derart vernachlässigen. Siehst du, das sind die Dinge, die du ernst nehmen solltest. Und außerdem,  please, sage ich genervt, please, sprich mit mir nicht mehr über diese Sache mit den Treffen am Dienstagabend.

Und warum nicht, antwortet er wie aus der Pistole geschossen.

 



Ich hole tief Luft und greife an: Weil, mein lieber Whity, ich nicht dort hingehe, weil ich um irgendeine Hilfe bitten will. Und das weißt du genau. Du weißt es besser als ich. Ja, du weißt es genau, weil nämlich kein anderer als du selbst mich auf die Idee gebracht hat: dort hinzugehen, um Frischfleisch zu finden, Kerle, kleine Neulinge, Stammgäste, Daddys, Möchtegern-Heteros, und vor allem gute Apotheker. Du warst es, ja, du, der mir gesagt hat: Geh da hin! Dort findest du alles, was du brauchst. Die Telefonnummern dort sind die besten. Du wirst sehen, dort gibt es große, sehr, sehr große Hotdogs.

Ah! Du willst mich mit den Augen verschlingen, ist es das? Der Mistkerl von uns beiden hier bist du, mein armer Heuchler! Ja, du bist ein Heuchler! Du hattest mir gesagt, dort wird dein Leben sich ändern. Und es stimmt, es hat sich verändert. Und wie! Seit ich diesen Redefreiheitsclub frequentiere, ist es so wie an allen anderen Tagen in der Woche, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag, wie an all diesen anderen Tagen stecke ich mir meine Worte in den Arsch.

Zack! Dienstagabend um 20 Uhr mache ich meine Körperöffnungen auf und befreie meine Stimme! Sie entflieht meinem Mund, während diesem Scheißtreffen, und danach, ganz kurz nach dem Treffen füllt sich mein Mund, mit Fleisch, mit neuem Fleisch, mit gutem dickem Fleisch, jede Woche, in diesem befreienden Mund, dem meinen, meine Körperöffnungen sind die Öffnungen der Freiheit, in denen sich die ganze Kraft irgendwelcher armen Typen verflüssigt.

Siehst du, mein hässlicher Lehrmeister? Siehst du, all diese Kerle, du warst es, der mich aufgefordert hat, sie mit nach Hause zu nehmen. Je mehr, desto besser, wie du immer sagst. Ich, ja, ich, zu deiner Information: Ich bin nicht Weiß geworden. Nein, nein und nochmal nein. Ich bin, was ich bin, und ob es meiner Mutter passt oder nicht: Ich bin Schwarz.

Was für ein Schwachsinn! regt sich der andere auf, angeekelt. Er ist mittlerweile fast bis auf einen Zentimeter an mich herangerückt. Wenn ich noch irgendetwas sage, wird er mir seine Faust in die Fresse hauen. Schwachsinn! bekräftigt er. Du bist ein dreckiger Lügner. Ein dreckiger Manipulator, der nur an sich selbst denkt, die Sehnsucht nach da drüben bringt dich noch mehr um als alles, was du so runterschluckst. Und daran soll ich schuld sein?


 

„Zu deiner Information: Ich bin nicht Weiß geworden. Nein, nein und nochmal nein. Ich bin, was ich bin, und ob es meiner Mutter passt oder nicht: Ich bin Schwarz“


 

Was bist du für ein Arschloch! Du manipulierst mich, du Idiot! Seit über zwanzig Jahren lebst du hier. Achtundzwanzig, um genau zu sein. Du bist hier geboren. Du warst es, der mich angefleht hat, mich in dir niederzulassen, dir die Augen für dein Glück zu öffnen, nur das, dein Glück! Du hast mich angefleht, dich vor diesen Leuten zu beschützen, denen aus deiner Heimat da drüben, du Wilder!

Vor deiner Familie und all den anderen Unglücklichen, die ihre Zeit nur damit verbringen, zu betteln, die Hände immer ausgestreckt. Ja, weil bei dir da drüben schlägt man den Homo zusammen, aber sein Geld nimmt man gerne an. Und ich soll der Heuchler sein? Ha!

Du warst es, der mir gesagt hat, dass du das willst, dass man dich ausfüllt, weil du leer bist, diese Leute haben dich deines ganzen Lebens beraubt und leer zurückgelassen. Kein Licht mehr. Sieh dich doch an. Du hast mir gesagt, dass du willst, dass man dich von überall her vollstopft, das Fleisch, alle Löcher, die Peitsche. Ach ja, das hatte ich vergessen, die Peitsche! 

Du hast mir gesagt, dass der Schwarze die Peitsche der Sklaverei niemals vergessen hat, dass in seinen Genen die Peitsche der Kolonisation schläft, in ihm, in dir, diese Gewalt, von der du willst, dass man sie dir wie einen Blumenstrauß schenkt, einen Peitschenstrauß, diese uneingestandene Lust, du warst es, der sie von mir verlangt hat. Was sage ich, du verlangst sie ja ständig.

Also, mein Ärmster, wechseln wir nicht das Thema. Na, mein alter Affe! Ich muss dir doch wohl nicht das Grimassenschneiden beibringen, oder? Sag mir, und sieh mir dabei in die Augen, sieh dich an, in mir, Schwarz, Weiß, füge sämtliche Farben hinzu, alle Lackierungen, die du willst, wenn es dir Spaß macht, aber sage mir, sage mir now: Willst du wirklich dorthin zurückkehren, um dort zu leben?

 


Aus dem Französischen von Caroline Härdter

Max Lobes Bücher erscheinen in der Schweiz auf französisch im Verlag Éditions Zoe. Auf Deutsch sind die Romane „Vertraulichkeiten“ (Akono Verlag 2022) sowie „Drei Weise aus dem Bantuland“ (austernbank Verlag 2020) verfügbar.  

Zum Dossier


 

Afrikanische Literatur heute: Ein Blick hinter die Kulissen