Familienleben | Syrien

Was kommt nach der Stunde Null?

Eine syrische Familie trifft sich zum Abendessen. Zum ersten Mal seit Jahren sind auch Angehörige dabei, die im Exil waren. Wovon träumen sie, was wünschen sie ihrem Land?
Eine Familie sitzt beisammen auf ihrem Balkon in einem Vorort von Damaskus

Die Familie Al-Masri auf dem Balkon ihres Wohnhauses in Jaramana, einem Vorort von Damaskus 

Es ist sieben Uhr abends in Jaramana, einem Vorort von Damaskus. Das Abendlicht streift einen alten Betonbau in einer Seitenstraße eines lebendigen und lauten Viertels. Über die Jahre scheint es ebenso standhaft geblieben zu sein wie seine Bewohnerinnen und Bewohner. Oben, im zweiten Stock des Gebäudes, fällt Licht durch ein Fenster auf einen Tisch, der gerade für das Abendessen gedeckt wird. Rundherum unterhalten und umarmen sich Menschen, die diesem Ort lange fernbleiben mussten. Überall finden sich hier Spuren der drei Enkelkinder: Spielzeug, Bücher, verstreute Stifte. An den Wänden hängen Familienfotos vergangener Feste.

Amal al-Masri, die Matriarchin, stellt eine Schale mit noch dampfendem Reis auf den Esstisch, dazu ein goldbraunes Hühnchen, das wegen der andauernden Stromausfälle etwas länger im Ofen gebraucht hat. Es ist ein Gericht, das sie in den letzten Jahren oft zubereitet hat. Doch dieses Mal ist alles anders. Dieses Mal ist die ganze Familie endlich wieder an ihrem Tisch versammelt.

„Sie alle hier spüren, dass nun ein neues Kapitel ihres Lebens beginnt“

Neben Amal nimmt ihr ältester Sohn Issam Platz. Vier Jahre lebte er im Exil in Erbil, der Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan im Irak, um dem syrischen Wehrdienst zu entkommen. Seit dem Tod seines Vaters Abu Issam ist er das Oberhaupt der Familie. Sein jüngster Bruder Ward setzt sich dazu, ebenso seine Schwester Nancy, die sich um ihre drei Kinder Sari, Waddah und Sirin kümmert. Nancys Mann Diaa wirkt entspannt, er ist endlich zurück von einem anstrengenden Jahr Arbeit in einer Brikettfabrik im Libanon.

Ihr aller Beisammensein wirkt lindernd auf eine Wunde, die sich erst langsam zu schließen beginnt. Eine unter vielen nach dem Fall des Tyrannen Baschar al-Assad. Sie alle hier spüren, dass nun ein neues Kapitel ihres Lebens beginnt. Kurz ist es still, dann sagt Issam: „Vielleicht hat unsere Revolution, die 2011 begann, noch nicht alle ihre Ziele erreicht, aber dass ich wieder mit euch an diesem Tisch sitze, das ist der wahre Beweis dafür, dass das Regime mit all seiner Brutalität der Vergangenheit angehört.“

Eine syrische Familie sitzt zusammen beim Abendessen um einen Tisch herum

Mitte rechts sitzt Amal al-Masris Tochter Nancy neben ihrem Mann Diaa, neben ihnen die Kinder Sirin (ganz rechts) und Waddah (links)

Es sind nur Worte, doch sie bringen die Realität vieler syrischer Familien auf den Punkt: Ihre verstreuten Angehörigen, ob sie nun freiwillig gegangen sind oder vertrieben wurden, kehren nach Jahren der Trennung zurück nach Hause. Laut UNHCR sind es mittlerweile über 1,4 Millionen. Und die „Revolution“ – das ist der Syrische Bürkerkrieg, der 2011 begann. Ein gemeinsames Essen wie das der Familie in Jaramana ist also ein kostbarer Moment, den viele syrische Familien lange vermisst haben. Diese Veränderung im Leben der Menschen ist kurioserweise kaum ein Thema in den Nachrichten oder in politischen Reden, aber ihre Bedeutung zeigt sich in Details: vormals leere Stühle, auf denen wieder jemand sitzt, in Stille verfallene Häuser, in denen ein lange vermisstes Leben erwacht ist. 

„Wer hat wen getötet? Wer hat Gefangene ausgeliefert? Wer hat das Land geplündert?“

Doch längst ist nicht alles gut. Issam war nach seiner Rückkehr aus dem Exil geschockt über den wirtschaftlichen Niedergang seines Heimatlandes. Die Preise für Alltagsprodukte sind in einem Maß gestiegen, das kaum zu bewältigen ist. Während er seiner Nichte Sirin Reis auf den Teller gibt, sagt er: „Ich hätte nie gedacht, dass ein Haus in Damaskus so viel kosten würde wie eins in Europa. Ich höre von 100.000, 200.000 Dollar! Selbst ein Gehalt vom Staat reicht nicht mal für eine Person, wie soll man da eine Familie ernähren? Du brauchst mindestens tausend Dollar im Monat, um in Würde leben zu können. Alles, was ich in vier Jahren im Exil in Erbil gespart habe, reicht hier jetzt gerade mal für ein gebrauchtes Auto.“ Diaa stimmt zu: „Alles, was ich im letzten Jahr im Libanon verdient habe, war im Nu weg. Das Leben ist unerschwinglich, ich konnte nichts für die Zukunft zurücklegen.“ Sie alle hoffen darauf, dass das Wissen und die Erfahrungen, die jene, die im Exil waren, dort gesammelt haben, existenziell sein könnten, um Syrien wiederaufzubauen.

Beim Abräumen der Teller sprechen Issam und Diaa über die politische Lage. Diaa sagt: „Die neue Regierung macht noch viele Fehler, vielleicht braucht sie Zeit. Vielleicht liegt es auch an dem schweren Erbe von Assad, den kaputten Institutionen, der jahrzehntelangen Korruption.“ „Die Leute haben halt Angst“, sagt Nancy. „Kein Wunder, dass sie nicht gleich vertrauen können. Manche, die früher mit dem alten Regime zusammengearbeitet haben, sind jetzt wieder da – und reden plötzlich von nationalem Zusammenhalt! Aber den wird es erst geben, wenn wir wissen: Wer hat wen getötet? Wer hat Gefangene ausgeliefert? Wer hat das Land geplündert? Wir können nicht einfach weitermachen, als sei nichts gewesen.“

Während er die Stühle zurück an den Esstisch stellt, sagt Issam: „Alles ist besser als der Albtraum unter Assad. Früher haben wir vom Überleben geträumt, heute reden wir vom Aufbau und vom Morgen. Aber unser Weg beginnt erst. Wir lernen zum ersten Mal, was Demokratie wirklich bedeutet, unsere Rechte einzufordern und uns nicht mehr nur mit dem Mindesten zufriedenzugeben.“

„Die Akten über Menschenrechtsverletzungen sind noch immer nicht öffentlich, die Schicksale der Vermissten unbekannt, die Täter noch unbehelligt“

Nancy unterbricht ihn lächelnd: „Wie wär’s mit einem Glas Tee auf der Veranda und ein paar Keksen vom Opferfest?“

Die Familie tritt hinaus, aber die Gespräche gehen weiter. Anders als vor kurzem jedoch sprechen alle ohne zu flüstern, ohne Angst. Sie alle haben einen Eindruck von der Freiheit bekommen, nun wollen sie mehr: wirkliche Gerechtigkeit, wirkliche Sicherheit für sich und ihre Kinder.

Doch überall hakt es. Der Aufbau der Übergangsjustiz, eigentlich Grundpfeiler des neuen Syrien, ist ins Stocken geraten, wenn nicht gar gescheitert. Die Akten über Menschenrechtsverletzungen sind noch immer nicht öffentlich, die Schicksale der Vermissten unbekannt, die Täter noch unbehelligt. Während sich das Alltagsleben der Menschen zögerlich entwickelt, bleibt dieses Unrecht ein Hindernis für jede echte Heilung.

Nach einem Schluck Tee fragt Issam fast flüsternd: „Gibt es Neues von Abu Mahmuds Sohn?“ Der Sohn eines gemeinsamen Freundes. Ward hebt nur langsam den Blick, sein Gesicht verfinstert sich: „Leider nein. Seine Familie weiß bis heute nichts. Sie haben sein Bild auf Facebook geteilt, Kontakt zur Regierung aufgenommen, alle Stellen abgeklappert: keine Spur. Seine Mutter war seit dem Regimesturz bei jeder Mahnwache.“ Alle senken die Köpfe. Diaa runzelt die Stirn: „Und was ist mit der Nationalen Vermisstenkommission? Haben die nicht gesagt, das sei jetzt Priorität der Regierung?“ Ward zuckt mit den Schultern: „Keine neuen Infos. Die Familien der Vermissten warten immer noch. Gott tröste unser geschundenes Volk.“

Eine syrische Familie sitzt in in ihrem Wohnzimmer beisammen

Sirin, die Enkelin von Amal al-Masri, im Wohnzimmer ihrer Großmutter 

Der Duft von Zimttee und mit Datteln gefülltem Gebäck vermischt sich mit der kühlen Abendluft, ganz so wie an vielen Sommerabenden vor dem Krieg. Während Amal und Ward die Pflanzen auf dem Balkon gießen, geht es um die Sommerferien. Diaa und Nancy schlagen vor, in ein Dorf in der Provinz Suwaida zu fahren, dort gebe es Ruhe, saubere Luft und Natur (Anm. der Redaktion: Kurz nachdem dieser Beitrag entstand kam es zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Drusen und sunnitischen Beduinenstämmen in Suwaida). Die Kinder unterbrechen sie und rufen: „Nehmt uns mit ans Meer! Ras al-Bassit, Wadi Qandil, der blaue Strand, wir wollen schwimmen!“ Issam und seine Mutter wechseln einen Blick. Noch ist es zu früh, so etwas zu entscheiden. Die Sicherheitslage ist noch zu fragil, die Straßen zwischen den Provinzen nicht wirklich sicher. Issam streicht den Jungs übers Haar: „Nächstes Jahr, versprochen: wohin ihr wollt. Aber jetzt ist es noch zu gefährlich. Besonders an der Küste.“ Diaa lehnt sich zurück, streckt sich, zum ersten Mal wirklich entspannt: „Ganz ehrlich? Mit euch hier auf dem Balkon zu sitzen, das ist besser als jeder Urlaub.“

„Wir sind wieder zusammen, unter einem Dach. Viele haben nicht mal mehr ein Zuhause“

Amal sammelt die Gläser ein, sie wirkt müde, aber auch dankbar. Sie sagt: „Wir sind wieder zusammen, unter einem Dach. Viele haben nicht mal mehr ein Zuhause. Und wieder andere wissen nicht, wo ihre Kinder sind, sie haben nicht mal ein Grab, das sie besuchen können.“ Sie drückt aus, was viele syrische Familien verloren haben: ihre Liebsten, ihre Häuser und ihre Verbindungen. 

So schlicht sind die Wünsche der Syrerinnen und Syrer. Sie sehnen keine großen internationalen Konferenzen herbei, keine leeren Versprechen. Was sie brauchen, ist klar: echte wirtschaftliche Unterstützung und eine Regierung, die verhindert, dass neues Leid und neue Gewalt das Land erschüttern, das sich gerade erst ganz langsam vom Trauma der Assads zu erholen beginnt.

Übersetzt aus dem Arabischen mithilfe von Übersetzungs­programmen, Bearbeitung von Ruben Donsbach

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