Verbrechen gegen die Menschlichkeit | Syrien

„Sie kamen ins Büro, tranken Kaffee, rauchten und folterten“

Unter dem Assad-Regime wurden Zehntausende Syrerinnen und Syrer gefoltert, teils über Jahre hinweg. Kann eine Gesellschaft solche Traumata jemals überwinden? Ein Gespräch mit dem Filmemacher Feras Fayyad

In seinen Dokumentarfilmen zeigt der syrische Regisseur Feras Fayyad, wie seine Landsleute dem unerbittlichen Terror des Assad-Regimes zu trotzen versuchten

Das Interview führte Ruben Donsbach 

In seinen Dokumentarfilmen „Die letzten Männer von Aleppo“ (2017) und „Eine Klinik im Untergrund – The Cave“ (2019), beide für einen Oscar nominiert, zeigt der syrische Regisseur, Produzent und Drehbuchautor Feras Fayyad, wie seine Landsleute dem unerbittlichen Terror des Assad-Regimes zu trotzen versuchten. Fayyad selbst wurde monatelang gefoltert. Er floh zunächst nach Jordanien, dann in die Türkei – kehrte aber heimlich nach Syrien zurück, um seine Filme zu drehen. Später war er der erste Zeuge weltweit, der – bei einem Prozess in Deutschland – vor einem Gericht über das Grauen in berüchtigten syrischen Gefängnissen wie Al-Chatib in Damaskus aussagte. 

Herr Fayyad, in Ihrer Doku „Die letzten Männer von Aleppo“ zeigen Sie, wie rücksichtslos das syrische Regime die eigene Bevölkerung bombadiert hat. Der Zuschauer lernt Chalid kennen, der mit einer Gruppe von Freiwilligen, den sogenannten Weißhelmen, versucht, Menschen aus eingestürzten Gebäuden zu retten. Immer wieder sieht man Leichen – darunter Kinder und Babys. Warum haben Sie diesen Film gemacht?

Am Kino liebe ich, dass es Raum für die Erinnerung schafft. Filme ermöglichen uns selbst und der Gesellschaft, die Kultur und die Geschichte, die uns prägen, sozusagen durch jemand anderen und dennoch auf persönliche Weise zu erleben. Gerade im Krieg ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir nicht nur Opfer sind und dass es um mehr geht als nur um Zahlen von Getöteten oder Verhafteten. Mich interessiert eine andere Art der Geschichte. Was bedeutet es, Vater zu sein in einer Extremsituation: etwa wenn man unbedingt die Stimme seiner Kinder am Telefon hören will – um zu wissen, dass sie noch leben –, während man selbst sein Leben dafür riskiert, die Kinder anderer zu retten?

Wie verändert der Krieg die Menschen?

Man sieht es in ihren Augen: Sie leben zwischen zwei Welten, der der Lebenden und der der Toten. Menschen wie Chalid aus „Die letzten Männer von Aleppo“ übernahmen Verantwortung für die Opfer, die sie bargen. Das klingt wie Wahnsinn, denn sie haben alles getan und alles aufs Spiel gesetzt, um Leben zu retten. Aber man nimmt diese Bürde dennoch auf sich. 

Sie selbst wurden Opfer des Regimes. Sie wurden inhaftiert und gefoltert.

Das stimmt. Es war pures Glück, dass ich überlebt habe. Zwischenzeitlich verlor ich jeden Glauben an die Menschlichkeit. Jean Améry schreibt in seinem Buch „Jenseits von Schuld und Sühne“: „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Die Tortur ist nicht wie ein heftiger seelischer Schock, nach dem man sich wieder beruhigen kann.“ Mit der ersten Ohrfeige verliere man „die Heimat in der Welt“. Ich selbst habe seither mit jedem meiner Filme versucht, den Glauben an das Menschliche zurückzugewinnen.

Nach Beendigung der Dreharbeiten starb Chalid bei einem Luftangriff.

Und wieder stellte ich meine eigene Rettung infrage.

Warum das?

Als ich an Khaleds Tod dachte – und an den Tod so vieler meiner Landsleute in den Folterkellern Assads –, fragte ich mich, warum ich überlebt hatte. Manchmal wünschte ich, ich wäre tot. Ich wünschte, ich hätte nicht überlebt, damit ich nicht weiter mit diesen Albträumen leben muss.

Szenenbild aus dem Dokumentarfilm „Die letzten Männer von Aleppo“: Feras Fayyads Protagonist Chalid starb nach den Dreharbeiten bei einem Luftangriff.

War das der Grund, warum Sie Filmemacher geworden sind, um Ihre eigenen Traumata zu verarbeiten?

Nein. Ich wollte Filme machen, um die Geschichte meiner Familie zu erzählen. Einer meiner Onkel wurde für 15 Jahre im berüchtigten Saidnaja-Gefängnis nahe Damaskus inhaftiert.

Aus welchem Grund?

Er war Militärpilot und verweigerte den Befehl, während einer Militäroperation die Stadt Hama zu bombardieren, eines der schlimmsten Massaker an der Zivilbevölkerung unter Hafis al-Assad. Ein weiterer Onkel wurde vom Regime getötet. Man schleifte seinen Körper siebzig Kilometer von der türkischen Grenze bis in sein Dorf.

Sie meinen, man schleifte ihn ans Auto gebunden dorthin?

Ja, mit einem Militärfahrzeug.

Warum?

Er hatte der Frau eines Familienangehörigen zur Flucht in die Türkei verholfen. Sie veranstalteten eine regelrechte Menschenjagd, fesselten ihn und verschleppten ihn zurück ins Dorf, aus dem auch meine Mutter kommt. Sein Körper war völlig zerstört. Man konnte ihn nur noch an seiner Hand und der Armbanduhr daran identifizieren. Meine Tante wurde gezwungen, ihn anzuschauen. Sie war damals schwanger und verlor das Kind durch den Schock. Danach zwang man seine Eltern, öffentlich zu erklären, dass er nicht ihr Sohn sei. 

Wahnsinn, das ist kaum zu ertragen. 

Mit solchen Geschichten bin ich aufgewachsen. Deshalb ging ich nach Damaskus, um Regisseur zu werden.

Fayyads 15 Jahre im Saidnaja-Gefängnis inhaftierter Onkel in Offiziersuniform während seiner Zeit an der Militärakademie

Fayyads 15 Jahre im Saidnaja-Gefängnis inhaftierter Onkel in Offiziersuniform während seiner Zeit an der Militärakademie

Während Ihrer Zeit in Damaskus begann die Revolution gegen das Assad-Regime, und Sie gingen auf die Straße, um sie zu dokumentieren. Was geschah dann?

Ich war in einem Internetcafé, machte mir Notizen und tippte E-Mails. Plötzlich kam jemand herein, verhaftete mich und brachte mich direkt in ein Foltergefängnis. Sie müssen verstehen, dass das syrische System kaum vergleichbar mit dem anderer autoritärer Staaten war. Sie kamen nicht zu dir nach Hause und verhafteten dich unter irgendeinem legalen Vorwand. Menschen sind einfach verschwunden – und niemand wusste, was mit ihnen geschehen war. Auch ihre Familien nicht.

Wie alt waren Sie, als sie verschleppt wurden?

23 Jahre, das war im Jahr 2011. Zuerst kam ich mit sechs anderen in eine Zweimannzelle. Aber weil ich Regisseur war, wollte man vermeiden, dass ich höre, was andere sagen. Also wurde ich in Einzelhaft gesteckt.

Wie lange blieben Sie dort?

Schwer zu sagen, es gab ja keinen Tag-Nacht-Rhythmus. Das Ziel war Häftlingen jedes Gefühl für Raum und Zeit zu nehmen. Es gab eine Art Mantra, das wir uns immer wieder sagten: »Wer verhaftet wird, der ist verloren. Doch wer wieder freikommt, der wird wie durch ein Wunder neugeboren sein.«

Waren Sie durchgängig in Haft?

Ich war zwei Mal für einen längeren Zeitraum interniert, insgesamt etwa ein Jahr. Doch auch dazwischen und danach blieb ich unter Beobachtung und musste mich mehrmals die Woche bei verschiedenen Behörden melden und verhören lassen – drei- bis fünfmal die Woche, vier bis acht Stunden lang.

„Es gab keine Fenster, kein natürliches Licht. Es roch nach Schimmel, Blut und verwesenden Körpern“

Und während der Inhaftierung?

Beide Male wurde ich zwischen verschiedenen Gefängnissen und Einrichtungen hin und her transferiert. In jedem dieser Orte wurde gefoltert, teils sogar auf dem Transport zwischen zwei Einrichtungen. Die zweite Verhaftung erfolgte am Flughafen von Damaskus, danach kam ich unter anderem in die Sektion 251 des Al-Chatibgefängnisses.

Das berüchtigte Gefängnis in Damaskus?

All diese Einrichtungen waren berüchtigt, weil es untereinander einen Wettbewerb gab, wer das brutalste Zentrum sei, um nach der Logik des Regimes einen guten Stand zu haben. Ich wurde etwa von Al-Chatib zum Nationalen Geheimdienst, zur Luftwaffen-Geheimdienstzentrale und so weiter verschleppt. Insgesamt war ich allein während der zweiten Inhaftierung in elf verschiedenen Einrichtungen.

Können Sie dennoch einen Eindruck davon geben, was für ein Ort das Al-Chatib gewesen ist?

Von außen gesehen war es ein ganz normales Gebäude im Osten von Damaskus. Doch innen war es eine andere Welt. Die Zellen befanden sich drei Stockwerke unter der Erde, sie waren nur durch eine sehr enge Treppe zu erreichen. Es gab keine Fenster, kein natürliches Licht. Es roch nach Schimmel, Blut und verwesenden Körpern. Die Zellen hatten niedrige Decken, es gab keine Matratzen, wir schliefen auf dem Betonboden. In vielen der Gefängnisse war es im Sommer so heiß und schwül, dass man fast erstickt wäre, im Winter dagegen eisig kalt, fast am Gefrierpunkt.

Was wollte man von Ihnen während der Verhöre wissen?

Es wurden Fragen gestellt, die man nicht beantworten konnte. Die meisten von uns wurden beschuldigt, Spione zu sein. Selbst wenn man sagte, was sie vermeintlich hören wollten, ging es weiter. Es war, wie Hannah Arendt sagte, die Bürokratie des Todes, die Banalität des Bösen. Sie kamen ins Büro, tranken Kaffee, rauchten und folterten – dann ging es für uns zurück in die Zelle.

Jeden Tag?

Oft mehrmals täglich.

In früheren Interviews sagten Sie, Sie seien geschlagen, stundenlang an den Handgelenken aufgehängt und sexuell gefoltert worden. Letzteres wird in Syrien kaum thematisiert, besonders nicht, wenn es Männern passiert.

Ja, es wird geleugnet, sogar von syrischen Feministinnen. Aber sexuelle Gewalt war eine alltägliche Praxis, auch gegen Männer. Ich wurde wiederholt mit einem Holzstock vergewaltigt. Und ich war nicht der Einzige. 

Über Generationen hinweg wurden in Syrien Menschen auf diese Weise inhaftiert und gefoltert?

In Syrien zu leben, bedeutete zu akzeptieren, dass Folter zum Alltag gehörte. Und wenn man sie überlebte, musste man schweigen, um weiterleben zu können. Sexuelle Gewalt war dabei ein zentrales Mittel. Es ging darum, Menschen vollständig zu zerstören, körperlich wie seelisch.

Im Jahr 2020 berichteten Sie in Koblenz in dem weltweit ersten Prozess wegen Staatsfolter in Syrien als erster Zeuge vor einem Gericht über die Geschehnisse in den Folterkammern des Regimes in Damaskus. Der Hauptangeklagte war Anwar Raslan, einer der führenden Männer im Al-Chatib. Auch Sie wurden von ihm gefoltert. Was ist das für ein Mann?

Für mich ist er der syrische Adolf Eichmann.

„Ich hatte Albträume, fürchtete, das Regime könnte Aufnahmen der sexuellen Folter veröffentlichen“

Der SS-Obersturmbannführer, der maßgeblich dafür verantwortlich war, die Deportation und Ermordung von Millionen von Juden zu koordinieren?

Ja, und das sage ich mit allem Respekt gegenüber den jüdischen Opfern. Genozide sind nicht vergleichbar, auch Schmerz ist es nicht. Aber der Vergleich kann Menschen im Westen helfen, die Dimension des syrischen Grauens zu verstehen.

Wie erkannten Sie ihn?

Normalerweise trugen wir bei den Vernehmungen Kapuzen. Wir knieten wie Tiere vor seinem Schreibtisch. Nur einmal konnte ich kurz unter der Kapuze hervorschauen, denn sie war verrutscht. Ich erkannte sein Gesicht. 

Hat man Sie bei diesen Vernehmungen beim Namen genannt?

Nein. Wir waren nur Nummern. 

Welche Nummer waren Sie?

Sie wechselte, aber ich erinnere mich an die Sechs.

Was bedeutete es Ihnen, Anwar Raslan in Koblenz gegenüberzusitzen?

Ich wollte mein Leben zurück. Ich hatte Albträume, fürchtete, das Regime könnte Aufnahmen der sexuellen Folter veröffentlichen. Ich hoffte, dass die Aussage mir Frieden bringt. Aber selbst danach wurde ich noch von syrischen NGOs sowie von russischen Trollen im Internet der Lüge bezichtigt. Das endete erst drei Jahre später, als Raslan schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Einmal nahmen Sie Ihre damals sieben Jahre alte Tochter mit ins Gericht. Was war ihre Reaktion?

Sie sagte über Raslan: „Er sieht aus wie Opa.“ Ich war geschockt. Ich sah ihn an und sagte: „Du hast recht. Er ist ein Mensch – wie wir.“ Vorher konnte ich das nicht begreifen.

Die Ruine des Wohnhauses der Familie Fayyad in einem Dorf nahe Idlib. Feras Fayyads Mutter sagt, es sei von russischen Soldaten aus Rache für seine Dokumentarfilme zerstört worden

Ihre Tochter ist jetzt elf Jahre alt und war noch nie in Syrien. Wollen Sie ihr Ihr Heimatdorf zeigen?

Es existiert nicht mehr. Die Russen haben alles mitgenommen, das Dach unseres Hauses, sogar die Bäume.

Die Bäume?

Ja, sie haben jahrhundertealte Olivenbäume ausgegraben.
Ich weiß nicht, wofür. 

„Niemand, der in den Gefängnissen von Assad interniert war, ist je wirklich wieder herausgekommen. Unsere Körper ja, aber unsere Seelen bleiben verloren“

Was für ein Ort war Ihr Zuhause?

Wir lebten auf einem Bauernhof in einem Dorf, das auf einem Höhenzug zwischen Aleppo und Idlib im Nordwesten Syriens lag. Es war ein wahres Paradies. Das Dorf befand sich an der M5-Schnellstraße zwischen Aleppo und Damaskus, weshalb es später strategische Bedeutung für die Russen bekam, die es zu einer Art Militärstützpunkt machten.

Was bedeutet dieser Verlust für Ihr Verhältnis zur Heimat?

Ich glaube, sie haben mein Herz zusammen mit den Bäumen herausgerissen. Unter diesen Bäumen habe ich gespielt, Frieden gefunden, Geschichten erfunden. Meine Kindheit lag unter diesen Ästen, und nun haben sie mir alles genommen.

Würden Sie sagen, so ist der Zustand Ihres Landes: Ihm wurde das Herz herausgerissen?

Manche haben ihr Zuhause zurückbekommen. Vielleicht finden sie Frieden. Aber jeder Ort, an den man geht, könnte ein Massengrab sein. Ein ehemaliges Folterzentrum. Ein Exekutionsplatz. Deine Nachbarn können Täter gewesen sein, Folterknechte in den Kellern des Regimes. Es geht um mehr als nur den Wiederaufbau von Häusern. Niemand, der in den Gefängnissen von Assad interniert war, ist je wirklich wieder herausgekommen. Unsere Körper ja, aber unsere Seelen bleiben verloren – zusammen mit all jenen Menschen, die in den Kerkern verschwunden sind und uns nun wie Geister umgeben.

Es muss doch irgend etwas geben, das man tun kann?

Erinnern. Den Getöteten ein Gesicht geben. Ihre Geschichten erzählen. Das ist nun unsere große Aufgabe. 

Das Interview führte Ruben Donsbach

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