Literatur | Lebenswege

Schreiben als Notfall

Der Schriftsteller Colm Tóibín musste nach Spanien und in die USA ziehen, bevor er über seine Trauer und seine Heimat Irland schreiben konnte
Schwarzweiß Portrait-foto des irischen Schriftstellers Colm Tóibín

Colm Tóibín ist einer der erfolgreichsten irischen Schriftsteller der Gegenwart

Ich bin in Wexford aufgewachsen, als viertes von fünf Kindern. Als ich zwölf war, starb mein Vater. Ein Schock. Drei, vier Jahre lang lebten nur meine Mutter, mein jüngerer Bruder und ich im Haus – in einer großen Stille. Es gibt Momente, in denen man nicht weiß, was man sagen soll. Nach einem Todesfall zum Beispiel. Dann überdeckt man das Schweigen mit Witzen oder banalem Geplauder. Das Drama liegt in der Luft, aber niemand schreit. Diese Stille hat mich früh geprägt.

Meine Mutter hatte mit 14 die Schule verlassen, sie war eigensinnig, las gern. Bei uns zu Hause gab es viele Bücher, besonders Lyrik. Für sie war ein Schriftsteller wichtiger als ein Bischof. Etwa 1967 begann ich Gedichte zu schreiben. Ich war noch Schüler, aber ich hatte bereits mein Thema gefunden: Traurigkeit – das wurde mir allerdings erst später klar.

Als ich am University College Dublin studierte, traf ich ein paar ältere Kommilitonen, die von Barcelona schwärmten. Dort, sagten sie, fände man immer Arbeit als Englischlehrer. 1975 zog ich mit zwanzig Jahren in die katalonische Stadt und verbrachte dort drei entscheidende Jahre, während einer Zeit, in der nach Francos Tod die Demokratie in Spanien Einzug hielt.

Das Barcelona, das ich damals kennenlernte, wirkte erstaunlich befreit, trotz der jahrzehntelangen Diktatur. In den Köpfen der Menschen hatte die Revolution offenbar schon Jahre vorher begonnen. Die jungen Leute kifften, hörten Bob Dylan, lasen alles, worauf sie Lust hatten, reisten viel. Nachts füllten sich die Straßen mit schwulen Männern. Es war die Zeit vor AIDS und Heroin – wir fühlten uns sicher, trotz aller Heimlichkeiten. Das Cruising war unglaublich intensiv.

Als ich Jahre später mal Pedro Almodóvar interviewte, stellten wir fest, dass wir 1975/76 oft an denselben Orten in Barcelona gewesen waren. Das Schrille der Zeit, die Aufbruchsstimmung ist in einigen seiner Filme deutlich zu spüren. Bis heute reise ich regelmäßig nach Spanien, habe ein Haus in Katalonien. Mein Leben ist ruhiger geworden. Entscheidend ist für mich, arbeiten zu können – egal wo.

Mein Leben besteht aus Ortswechseln. Mein Freund lebt in Los Angeles, ich unterrichte jedes Jahr ein Semester an der Columbia University. Auch in Dublin verbringe ich immer wieder Zeit. Morgens weiß ich manchmal nicht, wo ich bin. Für manche Schriftsteller wäre das ein Albtraum, für meine Arbeit ist es produktiv. Ich betrachte das Schreiben als Notfall: Wenn ich eine Geschichte nicht aufschreibe, tut es niemand. Und wenn ich sie nicht jetzt sofort in Worten festhalte, sterbe ich vielleicht weg, und die Story geht für immer verloren.

„Ich betrachte das Schreiben als Notfall: Wenn ich eine Geschichte nicht aufschreibe, tut es niemand.“

Man muss Geschichten zu Ende bringen. „Nora Webster“ zum Beispiel, ein sehr persönliches Buch über das Trauern, das in Wexford spielt, schob ich lange vor mir her. Als das Buch schließlich 2014 erschien, waren meine Mutter und mein Bruder, mit denen ich die Erfahrung des Verlustes geteilt hatte, selbst gestorben. Ich war der Einzige, der noch lebte. „Nora Webster“ entstand größtenteils in Los Angeles und Spanien. Von dort hatte ich einen klareren Blick auf die Vergangenheit. Über Los Angeles habe ich hingegen noch nie geschrieben, obwohl ich dort seit zwölf Jahren phasenweise lebe. Vielleicht muss man einen Ort erst verlieren, bevor man über ihn schreiben kann.

Ich kam nach Amerika, als ich ein Semester in Austin, Texas, unterrichtete. Das wurde zur Gewohnheit. Oft verfasste ich dort Kurzgeschichten, wie „One Minus One“, die an einem einzigen Tag entstand. Was ich an den beschriebenen Orten erlebte, erfüllte mich mit einer seltsamen, dunklen Energie. Das Bett war fremd, meine Bücher fehlten. Ich wollte dieses Hin und Her zwischen Europa und den USA beenden, aber es kamen immer neue Angebote. Schließlich bot mir die Columbia University eine feste Stelle an. Die akademische Welt wurde Teil meiner Normalität.

In den Phasen, in denen ich unterrichte, schreibe ich meist keine Geschichten, sondern recherchiere, reise oder besuche meinen Freund in L. A. Die aktuelle Lage in den USA empfinde ich als grotesk. Dieses Land war stets fast unerträglich stolz auf seine Verfassung, seine Institutionen, seine Demokratie. Die Amerikaner bauten neogriechische Tempel wie das Kapitol, das Weiße Haus, die ganze oberflächliche Grandezza, und jetzt lässt ihre Verfassung sie so elend im Stich.

Das Problem ist nicht erst durch Trump entstanden. Wie kann in einem Land, das sich selbst als Demokratie bezeichnet, ein einziger Mensch so viel exekutive Macht haben? Republikanern sage ich: Wenn Sie etwas gegen Zugewanderte haben, dann denken Sie daran, dass Sie am Ende Ihres Lebens von ihnen umgeben sein werden. Wenn Sie zu schwach sind, um ein Glas Wasser zu heben, wird ein illegal eingewanderter Mensch es Ihnen reichen. Denken Sie daran.

Protokolliert von Jess Smee

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