„Ich will die Geschichte meiner Urgroßmutter erzählen“
Der Ovaherero-Aktivist Laidlaw Peringanda in seinem Genozid-Museum in Swakopmund, Namibia
Foto: Martin Sturmer, Lidine Mia
Das Interview führte Morgane Llanque
Herr Peringanda, Sie leiten das einzige Museum in Namibia, das den deutschen Genozid an Ihrem Volk auf absolut schonungslose Weise dokumentiert. Wie reagieren Ihre Gäste, wenn sie die Fotografien der angeketteten Kinder und ermordeten Menschen sehen?
Viele sind völlig schockiert – vor allem, weil die meisten gar nicht wissen, dass es überhaupt ein Konzentrationslager in Swakopmund gab, in dem, lange vor der Herrschaft der Nazis in Deutschland, so viele Menschen ermordet wurden. Auch die meisten deutschen Touristen wissen nur vom Holocaust an den Jüdinnen und Juden. Aber sie haben noch nie davon gehört, was hier passiert ist.
Wie kam es dazu, dass Sie das Museum gegründet haben?
Meine Urgroßmutter war eine versklavte Frau hier in Swakopmund. Andere Familienmitglieder von mir wurden ermordet. Ich wollte ihre Geschichte bewahren. Ich musste dieses Museum eröffnen, um ihre Geschichten zu erzählen. Meine Urgroßmutter wurde von deutschen Kolonialsoldaten vergewaltigt, sie musste sogar Schädel von ermordeten Angehörigen und Freunden berühren. Manche von uns, die versuchten zu fliehen, wurden geköpft. Ihre Schädel wurden nach Deutschland und in andere Länder verschifft. Als ich letztes Jahr in Deutschland war, habe ich selbst menschliche Überreste meiner Vorfahren gesehen, das war sehr hart für mich.
Wo genau haben Sie diese Schädel gesehen?
Im Übersee-Museum Bremen und in Göttingen. Auch die Universität Straßburg in Frankreich hat mir einen Brief geschickt, dass sie zwei Schädel aus meinem Stamm aufbewahren. Die Liste ist lang: Das American Museum of Natural History in New York hat neun Schädel und zwei Skelette aus Namibia. Auch in unserem Nachbarland Südafrika werden Überreste von insgesamt über 120 Ovahereros aufbewahrt. Im Februar hat mich der deutsche Botschafter hier in Namibia eingeladen. Er möchte mir helfen, die Rückführung der Schädel zu ermöglichen.
„Der Genozid macht im Lehrplan unserer Schulen nur eine halbe Seite aus.“
Die Botschaft hat angekündigt, Sie auch finanziell unterstützen zu wollen.
Ja. Im Mai habe ich einen Vertrag mit der deutschen Botschaft unterschrieben. Sie wollen unser Museum mindestens zwei Jahre lang fördern, mit mehreren Zehntausend Euro. Dieses Geld wird in die Restaurierung unserer Gräber fließen, in die Verwaltung, in neue Technik, Laptops, Projektoren, Bücher. Und wir möchten das Museum erweitern. Wir wollen ein größeres Grundstück bekommen, möglichst im Stadtzentrum. Im Moment sind wir weit außerhalb, und nicht alle finden ihren Weg zu uns. Ich brauche außerdem Unterstützung bei Führungen und Vorträgen, daher will ich mit dem Geld auch Personal anstellen. Vielleicht könnten auch Freiwillige aus Deutschland mithelfen. Es gab bereits einzelne Austauschprogramme mit deutschen Organisationen.
Ist es schwierig für Sie, mit der deutschen Regierung zusammenzuarbeiten, obwohl diese sich bis heute nicht offiziell bei den Ovaherero und den Nama für den Völkermord entschuldigt hat?
Ja, das ist ein Widerspruch. Aber das größere Problem war bislang immer unsere eigene Regierung in Namibia. Der Genozid macht im Lehrplan unserer Schulen nur eine halbe Seite aus. Wir sind im eigenen Land eine Minderheit, die kleingehalten wird. Die Regierung will nicht, dass wir geeint auftreten, denn dann müssten sie uns auch Land zurückgeben.
Sie beziehen sich auf das Land, das Ihren Vorfahren im Zuge der Kolonialisierung gewaltsam weggenommen wurde.
Ja. Dabei vergessen wir aber oft die Ovaherero und die Nama, die heute außerhalb von Namibia leben. Viele flohen damals vor den deutschen Truppen durch die Wüste nach Botswana oder Südafrika. Sie oder ihre Nachkommen wollen zurückkehren, auf das Land ihrer Vorfahren. Das ist Land, das ihnen gehören sollte. Doch bis heute sind über siebzig Prozent des Landes in Namibia in der Hand der weißen Minderheit, die nur etwa zwei Prozent der Bevölkerung stellt, viele davon Deutsche. Das meiste davon ist kommerzielles Farmland. Es reicht nicht, uns nur Geld zu zahlen und an den Genozid zu erinnern. Die Landfrage ist zentral.
Haben Sie Hoffnung, dass es unter der neuen Präsidentin Namibias, Ndemupelila Netumbo Nandi-Ndaitwah, einen Wandel geben wird? Zum Beispiel fand dieses Jahr am 28.Mai der erste nationale „Genocide Remembrance Day“ in Namibia statt.
Die Zeit wird es zeigen. Nandi-Ndaitwah hat immerhin bereits gesagt, dass Deutschland mehr zahlen müsse, um Wiedergutmachung zu leisten. Sie scheint offener für unsere Anliegen zu sein als die vorherigen Regierungen, und sie hat auch Regierungsposten an Herero und die Nama vergeben. Vor ihr gab es viel Korruption – Geld, das eigentlich an die Herero und die Nama fließen sollte, versickerte in den Taschen Einzelner. Deshalb fordere ich, dass Deutschland diesmal eine unabhängige Kommission einsetzt, die die Vergabe von Entschädigungszahlungen an uns kontrolliert.
Einige der von Ihnen bereits erwähnten Deutsch-Namibier haben Ihnen in der Vergangenheit mit Gewalt gedroht. Erleben Sie immer noch Bedrohungen aus diesem Lager?
Ein älterer Deutscher in Swakopmund hat mir gesagt, die Nazis hier würden mich ermorden. Als wir letztes Jahr ein Bild von Bismarck von der Swakopmunder Hauptstraße entfernt haben, kam es zu Einschüchterungsversuchen. Aber ich wehre mich. Ich habe Anzeige gegen einen deutschen Restaurantbesitzer hier in Swakopmund erstattet, der öffentlich gesagt hat, es habe gar keinen Völkermord gegeben. Das Verfahren läuft noch, aber es geht schleppend voran. Auch, weil viele Polizisten hier die weißen Eliten schützen.
Die Gräber der Opfer des Genozids in Swakopmund drohen zu verfallen, und sie sind durch Vandalismus gefährdet. Können Sie sie schützen?
Wir versuchen es. Die Mauer um den Friedhof ist teilweise eingestürzt, Hunde graben Knochen aus. Die Stadt weigert sich, sich zu kümmern. Wir gehen viermal im Jahr dorthin, um die Gräber zu pflegen. Wir würden uns eine Infotafel wünschen, vielleicht einen Zeitstrahl an einer der Mauern. Damit die Menschen erfahren, was sich dahinter befindet. Nur wenige Minuten entfernt liegt übrigens der Friedhof der deutschen Schutztruppen: Der wird täglich gepflegt. Es gibt einen Wachschutz.
Auch ein deutscher AfD-Politiker legte 2024 demonstrativ einen Kranz an den Gräbern der deutschen „Schutztruppen“ ab. Wie wehren Sie sich als Künstler gegen derartige Beleidigungen?
Dieses Jahr planen wir eine große Installation rund um das sogenannte Marine-Denkmal in Swakopmund. Wir werden es sieben Tage lang symbolisch verdecken: mit Schädeln, Skeletten und übersetzten Inschriften in indigenen Sprachen. Wir haben oft darum gebeten, dass das Denkmal entfernt wird. Es steht direkt neben der Sommerresidenz der Präsidentin und ist ein Denkmal für deutsche Kriegsverbrecher. Das ist untragbar.
Glauben Sie, dass jemals eine offizielle Entschuldigung aus Berlin kommen wird?
Der deutsche Botschafter hat angekündigt, dass der Präsident der Bundesrepublik vor dem namibischen Parlament sprechen will. Aber viele Herero und Nama wollen keine Entschuldigung im Parlament – sondern direkt bei den betroffenen Gemeinschaften. Alles andere werden sie nicht als echte Entschuldigung anerkennen.
Der Genozid in Namibia und seine Aufarbeitung
1904-1908 – Der Völkermord an den Ovaherero und Nama
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Deutsche „Schutztruppen“ verüben den Völkermord an den Ovaherero und Nama in der damaligen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika
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Völkermord wird zum juristischen Strafbestand
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Als Reaktion auf den Holocaust wird Völkermord durch die Erklärung der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 11. Dezember 1946 als ein Verbrechen gemäß internationalem Recht bezeichnet. Auf Grundlage dieser Erklärung wird Völkermord 1948 als Verbrechen gemäß internationalem Völkerrecht klassifiziert.
2021 – Gemeinsame Erklärung von Namibia und Deutschland
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Mai 2021: Außenminister Heiko Maas verkündet die „Joint Declaration“ mit Namibia:
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Deutschland erkennt den Völkermord an den Ovaherero und Nama (1904–1908) offiziell an.
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Deutschland bittet Namibia und die Nachkommen der Opfer um Vergebung. Bundespräsident Frank Walter Steinmeier soll die Entschuldigung im Falle einer Unterzeichnung der Erklärung durch beide Staaten offiziell in Namibia vor dem Parlament aussprechen.
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1,1 Milliarden Euro sollen über 30 Jahre als Entwicklungsprojekte (Landreform, Infrastruktur, Berufsbildung) fließen – aber es erfolgt keine rechtliche Anerkennung von Entschädigungsansprüchen in Form von Reparationen, sondern nur eine Anerkennung der politisch-moralischen Schuld. Die Argumentation ist, dass Genozid zum Zeitpunkt des verübten Verbrechens noch kein juristischer Strafbestand war. Es wird aber anerkannt, dass es nach heutigem Verständnis als Genozid einzuordnen ist.
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Reaktionen auf das Abkommen:
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Namibische Regierung bezeichnete es als „Schritt in die richtige Richtung“.
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Vertreter der Ovaherero und Nama beklagen, dass sie nicht direkt an den Verhandlungen beteiligt waren und werfen der Regierung fehlende Transparenz vor. Einige verlangen außerdem Reparationen.
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Ovaherero- und Nama-Vertreter fordern, dass die Entschuldigung außerdem direkt an die betroffenen Gemeinschaften gerichtet werden müsse – nicht an den namibischen Staat allein.
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April 2024: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kündigt bei einem Besuch an, eine persönliche Entschuldigung in Namibia müsse bald erfolgen.
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2025: Namibia begeht erstmals den Genozid-Gedenktag mit einer nationalen Zeremonie in Windhoek.
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Präsidentin Netumbo Nandi-Ndaitwah fordert formelle Reparationen und kündigt an, die komplexen Gespräche mit Deutschland fortzuführen.
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Vertreter der Ovaherero und Nama kritisieren weiterhin, dass das bisherige deutsche Angebot nicht ausreiche.
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Gerichtliche Auseinandersetzung:
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Gegen die „Joint Declaration“ läuft derzeit eine Klage in Namibia, da Opfergemeinschaften ihre Rechte verletzt sehen.
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Deutschland ist für Anfang Oktober 2025 vor Gericht in Namibia vorgeladen, um Stellung zu nehmen.
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