„Wir sind noch da“
Foto: Kassim Dabaji
Das Interview führte Jess Smee
Herr Chahrour, wie war die Premiere Ihres neuen Stücks „When I Saw the Sea“ in Beirut?
Bis kurz vor Beginn wussten wir nicht einmal, ob sie überhaupt stattfinden würde. Es gab im Mai viele Bombenangriffe, und es war unklar, ob jemand zur Vorstellung kommen würde – und ob mein Team sicher war. So ist die Lage in dieser Stadt – aber wir arbeiten weiter, Tag für Tag. Die Ungewissheit ist zermürbend. In Beirut ist nichts selbstverständlich, erst recht nicht Kunst. Menschen im Theater zu versammeln, ist politisch. Es ist ein Akt des Widerstands. Ich weiß nicht, wie man kämpft, aber ich weiß, wie man tanzt. Das ist meine Art zu überleben und zu zeigen: Wir sind noch da.
Welche Rolle spielt Kultur derzeit im Libanon?
Sie ist von großer Bedeutung, aber die Bedingungen im Land sind weiterhin schwierig. Vor zehn Jahren gab es rund zwanzig Theater in Beirut. Heute haben wir wegen des Krieges nur noch drei. Bei den Proberäumen ist die Situation noch dramatischer. Und doch bleibt die Kultur zentral: Kunst, Musik und Tanz bringen die Menschen zusammen. Sie halten die Geschichten jener lebendig, die verstummt sind oder keine Gerechtigkeiterfahren. Durch Theater und Tanz können wir die Geschichte dieser Menschen neu schreiben und ihr Andenken ehren. Heutzutage kaufen die Leute keine Theaterkarten im Voraus – aus Angst, dass sie bei einem Bombenangriff verfallen. Alles geschieht kurzfristig. Und trotzdem waren viele unserer Tanzveranstaltungen ausverkauft.
„Die Idee kam mir während des Kriegs, den Israel 2024 gegen den Libanon führte. Als die Bomben fielen, flohen viele Libanesen und ließen ihre Hausangestellten zurück – ohne Pass, ohne Geld und ohne Unterkunft. Manche dieser Migranten strandeten buchstäblich am Meer – völlig auf sich gestellt.“
In „When I Saw the Sea“ erzählen Sie von Migranten, die während des Kriegs 2024 im Libanon gestrandet sind. Was hat Sie zu dem Stück bewogen?
Die Idee kam mir während des Kriegs, den Israel 2024 gegen den Libanon führte. Als die Bomben fielen, flohen viele Libanesen und ließen ihre Hausangestellten zurück – ohne Pass, ohne Geld und ohne Unterkunft. Manche dieser Migranten strandeten buchstäblich am Meer – völlig auf sich gestellt. Wir stießen auf ein Video, das uns tief bewegte: eine Frau, die trotz allem lächelte. Sie erzählte, sie sehe das Meer zum ersten Mal. Dieses Bild – diese reine Freude inmitten des Grauens – hat sich mir eingeprägt. Mein Regieassistent und ich begannen, über das Kafala-System zu recherchieren – eine moderne Form der Sklaverei, die im Nahen Osten weit verbreitet ist. Wir wollten den betroffenen Menschen auf der Bühne eine Stimme geben. Zusammen mit drei äthiopischen Frauen, zwei von ihnen selbst Wanderarbeiterinnen, entwickelten wir das Stück. Ihre Geschichten spiegeln die von Tausenden wider, die in derselben Lage gefangen sind.
Sie arbeiten oft mit Laiendarstellern. Warum?
Ihre Bewegungen sind sozusagen roh und nicht durch irgendeine Art von Schulung beeinflusst – das bringt eine besondere Form der Ehrlichkeit mit sich, eine ungefilterte Emotionalität. Für mich als Choreograf steckt darin große Kraft. Jede und jeder hat eine eigene Geschichte und ganz eigene Bewegungen im Gepäck. Sie sind gewissermaßen organisch. Sich so auszudrücken, fällt professionellen Tänzern oft schwerer.
Und wie erleben Sie diese Zusammenarbeit in der Praxis?
Jede Person bringt ihre Lebenserfahrungen und ihre Art der Bewegung mit auf die Bühne. Das können ausgebildete Tänzerinnen oder Tänzer kaum nachahmen. In einem früheren Stück von mir trat zum Beispiel meine Cousine auf, die als professionelle Klagefrau arbeitete. Nach Hunderten von Beerdigungen trug sie die entsprechenden Bewegungen und Emotionen in sich. Ihre einfachen Gesten waren voller Gefühl. Auch die drei Frauen in meinem letzten Stück hatten alle jeweils eine ganz eigene, unverwechselbare Art, sich zu bewegen. Manchmal wirkten ihre Bewegungen verschlossen und steif – ein Ausdruck ihrer inneren Abgrenzung gegenüber dem Schmerz. Ein wesentlicher Teil meiner Arbeit besteht darin, den Menschen ein Gefühl von Sicherheit zu geben, damit sie ihre eigene Art der Bewegung annehmen können. Erst dann kann ich mit der Choreografie beginnen.
Welche Rolle spielt Ihre Kindheit für Ihre Arbeit?
Ich komme aus einer schiitischen Gemeinschaft und habe die Ashura-Rituale erlebt: zehn Tage des gemeinsamen Trauerns, Erzählens, Singens, Sich-Bewegens. Das hat mich tief geprägt – auch wenn ich heute keine Religion mehr praktiziere. Die Rituale haben mir gezeigt, wie man durch einfache, wiederholte Bewegungen Trauer ausdrücken kann. Es geht um Solidarität ohne Worte. In meiner Arbeit versuche ich, diese emotionale Intensität und die Verlangsamung der Zeit zum Ausdruck zu bringen und dem Publikum Raum zu geben, wirklich zu sehen und zu fühlen. Im Alltag nehmen wir uns selten die Zeit, geliebten Menschen in die Augen zu schauen, sie anzusehen oder zu berühren. Durch Entschleunigung zeigen wir auf der Bühne, was wirklich zählt.
Funktioniert diese Darstellung auch in Europa? Werden Sie dort anders wahrgenommen?
Ich glaube nicht an starre Kategorien. Wir sind alle Menschen, wir teilen Gefühle – auch wenn unsere Erfahrungen unterschiedlich sind. Ein einheimisches Publikum reagiert vielleicht anders als ein internationales, aber die Nähe und Aufrichtigkeit, die meine Aufführungen prägen, berühren Menschen überall. Ja, ich arbeite mit arabischer Musik und Themen aus dem Nahen Osten, aber ich lasse mich und mein Team nicht auf Klischees reduzieren. Meine Stücke sind nicht „exotisch“. Manche glauben, dass meine Arbeiten zwangsläufig vom Krieg handeln müssen – allein wegen meiner Herkunft. Doch meine Arbeit dreht sich um Menschen – nicht um politische Schlagzeilen.