Literatur | Lateinamerika

Neu und Unbequem

Immer mehr weibliche Stimmen der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur finden Gehör –vielfältig, regional geprägt und global relevant. Vier Neuerscheinungen aus Argentinien, Mexiko und Peru, die Wellen schlagen.

Um sich ihrem Mann und ihren Kindern zu entziehen, taucht die Frau bis auf den Grund des tiefen Sees hinter ihrem Haus hinunter und hält, um dort sitzen bleiben zu können, stundenlang die Luft an. In ihren Erzählungen aus dem Band „Das gute Übel“ geht es Samanta Schweblin um Themen wie Isolation, das Bedürfnis nach menschlicher Nähe oder das Überwinden von Schicksalsschlägen. Die Argentinierin, die auch schon für den Booker Prize nominiert war, ist eine der Ikonen lateinamerikanischer Gegenwartsliteratur. Ihr beklemmendes Buch „Fever Dream“ über Pestizidvergiftungen bei Kindern und die elterlichen Ängste davor, diente 2021 als Vorlage für eine Netflix-Verfilmung.

Schweblin dürfte die bekannteste der neuen Generation der lateinamerikanischen Autorinnen sein, die international Beachtung finden. Deren Werke handeln von aktuellen Themen wie Umweltkrisen, Gewalt gegen Frauen, sozialer Ungerechtigkeit, Kolonialismus, Rassismus und Migration. Die Autorinnen sprechen aber auch offen über neue Formen der Liebe, Mutterschaft, Identität und Gemeinschaft. Auch wo es politisch wird, ist der Ansatz der Autorinnen oft ein sehr persönlicher. So erzählt Cristina Rivera Garza in ihrem Roman „Lilianas unvergänglicher Sommer“, mit dem sie den Pulitzer-Preis in der Kategorie Autobiografie gewann und der nun auf Deutsch vorliegt, die Geschichte des Femizids an ihrer Schwester. Diese wurde 1990 – mit gerade einmal zwanzig Jahren – von ihrem Ex-Freund ermordet. Garza schildert bis ins Detail, welche Auswirkungen der Mord in Mexiko, dem Land mit einer der höchsten Femizidraten in Lateinamerika, auch auf ihre emotionale Entwicklung hatte. „Mit der Trauer zu leben“, schreibt sie, „bedeutet genau das: nie wieder allein zu leben.“

Auch die Peruanerin Gabriela Wiener wirft in ihrem autobiografischen Roman „Unentdeckt“ einen genauen Blick auf ein Familienmitglied. In ihrem Fall ist es allerdings ihr Ururgroßvater, der österreichische „Entdecker“ Charles Wiener, der Tausende präkolumbianische Artefakte nach Europa mitnahm, aber seine peruanische Frau und ein Kind in der Neuen Welt zurückließ. Wiener streift Themen wie Rassismus, Identität und Kolonialismus. Sie versucht, sich selbst zu „dekolonialisieren“, unter anderem, indem sie ihre eigene lang gehegte Annahme hinterfragt, dass Geschichte grundsätzlich „weiß und männlich ist“. Ein Merkmal der neuen Autorinnen ist bei einer thematisch oft ähnlichen Stoßrichtung die stilistische Vielfalt.

In „Grelles Licht für darke Leute“ versucht Mariana Enriquez in zwölf Geschichten den Schrecken, der im scheinbar harmlosen Alltagsleben haust, im Genre der Horrorliteratur zu fassen. Für Enriquez bietet dieser Stil die Möglichkeit, auf die allgegenwärtige Gewalt und die damit verbundenen Traumata im heutigen Argentinien hinzuweisen. „Ich will nicht Teil des Verschweigens sein«, sagte sie in einem Interview mit „The Guardian“. „Vielleicht drehe ich die Lautstärke manchmal bis elf hoch. Das mag an dem Genre liegen, in dem ich schreibe. Aber genau so lässt sich Licht auf den wirklichen, realen Horror werfen, der sich manchmal hinter Begriffen wie politische Gewalt verbirgt.“ Diese vier ins Deutsche übersetzten Bücher sind Teil eines umfassenden Wandels in der lateinamerikanischen Literatur. Insgesamt geht es bei der Frage, was veröffentlicht wird, zunehmend demokratischer zu, und so findet eine größere Bandbreite von Stimmen Gehör.

„Auch wo es politisch wird, bleiben die Autorinnen sehr persönlich“

Das gilt auch für aufregende Autorinnen wie Fernanda Melchor, Valeria Luiselli, Claudia Piñeiro, Margarita García Robayo und Guadalupe Nettel, um nur einige zu nennen. Sie alle stehen in starkem Gegensatz zu der Tradition lateinamerikanischer Literatur, die in anderen Teilen der Welt Bekanntheit erlangt hat, auch in Deutschland. Ein Meilenstein dabei war die sogenannte Boom-Bewegung der 1960er- und 1970er-Jahre. Stilistisch wird sie mit dem Magischen Realismus assoziiert, der Erzählform, bei der fantastische und übernatürliche Elemente mit der Schilderung von vermeintlich Alltäglichem einhergehen.

Bei der Boom-Bewegung ergab sich als Leitmotiv etwas, das man maskulinen Mystizismus nennen könnte, eine Huldigung (vermeintlich) außergewöhnlicher Protagonisten. Diese waren – ähnlich wie die Autoren der Werke – überwiegend männlich: große Abenteurer, Politiker, Träumer, Freiheitskämpfer, Forscher oder Generäle der lateinamerikanischen Revolution. Unter den weiblichen Figuren befanden sich dagegen erschreckend viele Prostituierte. In den Büchern der Boom- Bewegung drehte sich fast alles um übergeordnete Themen wie Tod, Liebe, Gerechtigkeit oder die Suche nach Bedeutung.

Die Hauptvertreter dieser Richtung waren kultivierte und gebildete Persönlichkeiten, deren Namen Bücherregale rund um die Welt zierten: Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa, Carlos Fuentes und Julio Cortázar. Die Alphamänner der intellektuellen Elite sozusagen. Die Schriftstellerinnen jener Zeit schafften es hingegen nicht in die erste Reihe des Booms. Erst ein bis zwei Jahrzehnte nach dem Start der Bewegung, in einer Phase, die man auch als Post-Boom bezeichnet hat, wurde ihnen etwas Aufmerksamkeit zuteil. Autorinnen wie Isabel Allende gehörten zu dieser Gruppe, die sich insgesamt durch eine oft einfachere Sprache und Erzählweise auszeichnete. In der darauffolgenden Zeit war die lateinamerikanische Literatur international weniger präsent, der Strom der Übersetzungen versiegte nahezu. Das hat sich mit den Autorinnen, die in den letzten Jahren immer mehr Beachtung gefunden haben, wieder geändert. Im Vergleich zu Boom ist die gegenwärtige Bewegung deutlich feministischer und insgesamt dadurch geprägt, dass historisch Totgeschwiegenes wieder auf die Tagesordnung kommt. So wird die Geschichte neu geschrieben – und die lateinamerikanische Literatur auf eine längst überfällige Weise revolutioniert.

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