Nachtleben | Syrien

Im Chaos geboren

Menschen in Syrien entdecken das Nachtleben neu. Den musikalischen Underground zu feiern, kommt für sie einer Wiedergeburt gleich. Ein Streifzug durch Damaskus
Feiernde in einem Club in Damaskus während einer Lasershow

Feiernde in einem Club in Damaskus. Für viele der hier Anwesenden ist das Nachtleben auch ein emotionaler Schutzraum vor den Traumata des jahrelangen syrischen Bürgerkrieges

In dem grell beleuchteten Innenhof des jahrhundertealten Qasr Nassan Palais in Damaskus dröhnt der Bass durch die Nacht. Schatten tanzen im Rhythmus der stroboskopartig flackernden Lichter. Der Partystrom kommt aus einem Generator, der immer wieder den Geist aufgibt. Aber die Menschen nehmen es hin, Stromausfälle sind hier Teil der Performance. 

Willkommen in der Renaissance des syrischen Nachtlebens; der Rave ist zurück in unserem Land, wenn auch vorerst nur im Verborgenen. Bislang gibt es kaum offizielle Genehmigungen oder öffentliche Werbung, keine Türsteher oder Sicherheitskontrollen vor dem Club. Die Orte, an denen die Partys stattfinden, wechseln ständig. Mal ist es eine Villa in Saidnaja, einer Kleinstadt nahe Damaskus, mal ein historisches Gebäude im Zentrum der Hauptstadt. Das Einzige, was immer da ist, sind die Musik und die Botschaft »Syrien lebt!«. 

Vor noch nicht allzu langer Zeit hatten die Menschen nicht mal mehr eine blasse Erinnerung an das einstige Nachtleben. Da waren nur Krieg, Vertreibung und die alltägliche Not. Ausgangssperren und Kontrollpunkte statt Einladungen und Gästelisten. Ganze Städte wurden zu Ruinen, Millionen Menschen flohen, an eine Party oder gar an eine kulturelle Wiederbelebung war kaum zu denken. Doch nun, da der Bürgerkrieg offiziell beendet ist, entdeckt eine Generation, die im Chaos geboren wurde, was es heißt, zu leben. In Damaskus und Aleppo pulsiert eine neue kreative Energie. Sie hat etwas Experimentelles, Improvisiertes – und wurzelt in einer Kultur des Widerstands. Doch trotz dieser Aufbruchsstimmung verbirgt sich die neue Feierbewegung bisher im Untergrund. Die Angst vor Übergriffen ist nicht verschwunden. Viele Künstlerinnen und Veranstalter bewegen sich in einem Graubereich, in dem ein Fehltritt den Abbruch eines Events, das Ende einer Karriere oder auch Schlimmeres bedeuten könnte. Manche fürchten die Überwachung und mögliche Sanktionen durch offizielle Stellen, andere Vergeltung durch Extremisten. Allen ist klar: Sicherheit ist eine Illusion. 

„In der syrischen Partyszene ist man nicht leichtsinnig. Im Gegenteil. Die Veranstaltungen sind sorgsam inszenierte Akte des Überlebens"

Millionen Syrerinnen und Syrer leiden unter der andauernden Wirtschaftskrise und den psychischen Traumata aus den Kriegsjahren. Und immer noch müssen sie Angst haben, etwa vor Gewalttaten wie jenen der letzten Monate: Bei einem Selbstmordanschlag auf die Mar-Elias-Kirche in Damaskus starben im Juni dieses Jahres 25 Menschen. Es war der erste Anschlag dieser Art seit Jahren. Er hat das fragile Gefühl der Normalisierung erschüttert. Aber er hat auch Trotz erzeugt. „Wir haben uns nicht von Baschar al-Assad aufhalten lassen“, sagt Yamen Mekdad, Mitbegründer des Kreativkollektivs Rock Paper Scissors aus Damaskus. „Also wird uns das auch nicht stoppen. Aber wir sind vorsichtig.“ In der syrischen Partyszene ist man nicht leichtsinnig. Im Gegenteil. Die Veranstaltungen sind sorgsam inszenierte Akte des Überlebens.

Eine Besucherin in einem Club in Damaskus im roten Schein der Beleuchtung

Nun, da der Syrische Bürgerkrieg offiziell beendet ist, entdeckt eine Generation, die im Chaos geboren wurde, was es heißt, zu leben

Rock Paper Scissors ist ein junges Musik- und Produktionskollektiv. Es wurde von den drei Freunden Yamen, Mustafa und Jude gegründet. Der Name des Kollektivs spiegelt ihr Selbstverständnis wider, sie wollen flexibel, spielerisch, nostalgisch, aber dennoch widerständig sein. Was als Idee eines Musik- und Soundfreaks und eines Grafikdesigners begann, ist heute eine der ambitioniertesten Kulturplattformen im Syrien der Nachkriegszeit. Die Mission von Rock Paper Scissors klingt einfach: Musik möglich machen. Das heißt Live-Auftritte, faire Bezahlung für Künstlerinnen und Künstler und sichere Räume in einer Stadt bieten, deren Infrastruktur zusammengebrochen ist. Das Trio glaubt daran, dass selbst flüchtige Momente der Freude auf eine traumatisierte Gesellschaft transformierend wirken können. „Wir versuchen, Möglichkeiten zu schaffen, damit Musikerinnen und Musiker proben, auftreten und Geld verdienen können, ohne Syrien verlassen zu müssen“, sagt Yamen. „Im Moment gibt es kaum funktionierende Veranstaltungsorte. Man tut einen Raum auf und muss ihn erst mal von Grund auf herrichten.“

Oft finden ihre Events an ziemlich ungewöhnlichen Orten statt, wie etwa im eingangs erwähnten Qasr Nassan Palais in Damaskus, einer architektonischen Perle, die aus gegebenem Anlass von einer eleganten Residenz in eine improvisierte Konzerthalle umfunktioniert wurde. Betritt man das Gebäude mit den kunstvoll bemalten, aber verblassten Fliesen, dem achteckigen Brunnen und einem Innenhof voller Orangenblüten, hat man den Eindruck, einen Schritt in eine andere Welt zu machen. Hier veranstalteten Rock Paper Scissors eine Show mit Lynn Adeb und Tanjaret Daght, die Elemente traditioneller arabischer Musik mit Pop, Indie, Elektro und Metal verbinden. Das Publikum war divers: Künstlerinnen und Studierende, Rückkehrer aus Europa, aber auch Mitglieder alteingesessener Familien aus Damaskus. „Die Einnahmen haben wir an Menschen gespendet, die im Gefängnis Saidnaja gefoltert wurden, oder an deren Familien“, sagt Yamen. „Die Botschaft war klar: Selbst in Zeiten der absoluten Dunkelheit kann etwas Bedeutsames entstehen.“ 

„Es war ein kollektives Gefühl der Erlösung. Wir hatten ein weiteres Jahr überlebt, wir waren noch immer da"

Aber so eine Veranstaltung in Syrien durchzuführen, ist heute ein logistischer und emotionaler Kraftakt, das reicht von der Frage, wo man sich das Equipment ausleihen kann, bis zu der, wie man die Lautsprecher an den Veranstaltungsort kriegt. Selbst den Treibstoff für den Generator zu beschaffen, ist eine Herausforderung. „Wir informieren die Sicherheitsbehörden vorab. Wir durchsuchen die Gäste. Wir vermeiden Provokationen“, erklärt Yamen. „Und doch spürt man immer die Last der Verantwortung.“ Trotzdem machen sie weiter, denn die Alternative wäre zu schweigen.

Eine Szene in einem Club in Damaskus mit Feiernden und einer Discokugel an der Decke

Der Fotograf Hasan Ibrahim Belal sagt, bei den von ihm dokumentierten Partys sei es „nie nur um Musik oder Tanzen“ gegangen. Es seien „sichere Räume“ gewesen, „temporäre Zufluchtsorte für menschliche Verbundenheit, errichtet im Schatten der Gewalt [...]. Wir feierten das Leben, während nahe von uns Schüsse durch den Himmel hallten“. Belal ist 31 Jahre alt, studierte Wirtschaft und arbeitet seit 2010 hauptberuflich als Fotograf. Er hat unter anderem für Unicef, AFP, „Le Monde“ und die Caritas gearbeitet

Getragen wird die musikalische Renaissance, die Syrien derzeit zu erfassen scheint, auch von einer Gruppe innovativer DJs, die den Sound als Therapie begreifen. Nicht nur für sich selbst, sondern für eine Gesellschaft, die es verlernt hat, ausgelassen zu sein. Einer der DJs ist Maher Khudhuer, geboren und aufgewachsen in Damaskus, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Green. In seiner Musik meint man die verletzte Seele der Stadt und die Narben ihrer Geschichte zu spüren. „Ich verbinde klassische orientalische Elemente mit elektronischen Beats“, sagt Maher. „Ich will einer Generation eine Stimme geben, die aus dem Krieg hervorgegangen ist und trotz allem an eine bessere Zukunft glaubt.“

Diese Hoffnung, so zerbrechlich sie auch sein mag, scheint auch die Mitglieder des Kollektivs Kaseta anzutreiben, ein in Damaskus ansässiges Label und eine Eventplattform, die Maher mit Freunden gegründet hat, darunter das DJ-Duo Boshoco aus Aleppo. Gemeinsam haben sie etwas Besonderes geschaffen: eine Graswurzel-Community aus Fans und Kunstschaffenden, die eine Vision für den Sound der syrischen Nachkriegszeit haben. Es geht nicht nur um Unterhaltung, sondern darum, die kulturelle Identität des Landes neu zu denken. Maher und Boshoco legten gemeinsam auf mehreren Pop-up-Partys in Damaskus auf, darunter ein elektrisierendes Set am Neujahrstag, das viele als Schlüsselmoment der Szene bezeichnen. „Die Leute tanzten in purer Freude“, erinnert sich Maher. „Es war ein kollektives Gefühl der Erlösung. Wir hatten ein weiteres Jahr überlebt, wir waren noch immer da.“ Auch für Maher war dieser Abend mehr als nur eine Party. Er war der Beweis, dass Kunst in Syrien noch einen Platz hat, nicht um einem Eskapismus zu frönen, sondern als Akt des Beharrens. „Wir haben nicht viele Locations, aber die Leute kommen in Massen“, sagt er. Auch für Boshoco ist die Bedeutung dieser Nächte tiefgehend. Dass sie zu einem der erfolgreichsten Acts in Syrien werden konnten, verdankt sich keinen großartigen Werbekampagnen, sondern ihrer Ausdauer und der Tatsache, dass sie einen ganz eigenen neuen Sound jenseits des Mainstreams geschaffen haben. Bekannt für ihre Mischung aus arabischen Skalen und Rhythmen mit Deep House und Techno, ist ihr Stil so hybrid wie das Land selbst: zwischen Levante und großer weiter Welt, Melancholie und Euphorie. „Wir versuchen, eine Sprache zu kreieren, die man fühlen kann“, sagt einer der DJs von Boshoco nach einem Auftritt. „Auch wenn man das Genre nicht kennt, man spürt die Emotion.“

„Öffnet das Land. Lasst die Leute herein. Lasst die Kreativen atmen“

Wenige Geschichten spiegeln den Zwiespalt zwischen Verwurzelung und globalem Anspruch so sehr wider wie die von Safi Joukhaji, auch bekannt als SJ14. Mit gerade einmal 25 Jahren zählt er zu Syriens einflussreichsten Produzenten elektronischer Musik. „Meine Familie merkte früh, dass ich Rhythmus im Blut habe“, erzählt er. „Sie gaben mir eine Darbuka“ – eine arabische Trommel – „und das war’s. Ich war süchtig.“ Aufgewachsen in Aleppo während des Krieges, lernte Safi früh, dass Leidenschaft allein nicht reicht. Er brauchte Durchhaltevermögen. Am Sabah-Fakhri-Institut studierte er klassische Gitarre und Musiktheorie; dieses Wissen lässt er heute in seine elektronische Musik mit einfließen. Das technische Know-how eignete er sich ohne Mentor an, autodidaktisch über Onlinekurse und YouTube-Videos. Sogar während die schärfsten Sanktionen in Kraft waren, als keine Zahlungsdienste funktionierten und man nicht an Softwarelizenzen kam, fand er Möglichkeiten zu arbeiten. Erst mit veralteter Technik produzierte Tracks konnte er auf internationalen Foren präsentieren, und schließlich landete er bei Labels wie Exx-Underground und Area Verde. Seine EP »Reflection« erscheint bei einem großen europäischen Label. „Es geht ums Nach-innen-Schauen“, sagt er. „Um das, was wir verloren haben, und das, woran wir noch immer festhalten.“ 

Ein Mann schreit seine Euphorie dem DJ in einem Club in Damaskus entgegen

Das neue syrische Nachtleben knüpft weder an den staatlich inszenierten Glamour der Vorkriegsjahre noch an die Kriegsjahre an. Es ist etwas Neues: fragmentiert, intim, zerbrechlich und dabei extrem vital

Obwohl sein Blick auf internationale Bühnen gerichtet ist, will Safi seine Karriere auch in Syrien weiterverfolgen. Mit dem CRKT-Kollektiv tritt er regelmäßig auf Events auf, bei denen elektronische, Indie- und Akustikmusik auf einer Bühne zusammenfinden. „Wir brauchen ein echtes Ökosystem“, sagt er. „Tourismus. Veranstaltungsorte. Produktionsfirmen. Und vor allem Vertrauen in unsere Künstlerinnen und Künstler.“ Sein Appell an Politik und Investoren lautet: „Öffnet das Land. Lasst die Leute herein. Lasst die Kreativen atmen. Wenn ihr uns Raum gebt, schenken wir euch etwas Schönes.“

Nicht alle in Syriens Kreativszene sind so voller Hoffnung. Für Veranstalter wie Adexe vom CRKT-Kollektiv sind die Herausforderungen immens. „Das Nachtleben hat in diesem Land keine Priorität“, sagt er. „Die Leute können sich oftmals kaum die notwendigsten Lebensmittel leisten. Das kannst du bei der Partyplanung nicht ignorieren.“ CRKT entstand in den letzten Kriegsjahren als loses Netzwerk aus DJs, Designerinnen und Veranstaltern. Heute sind sie ein Motor des syrischen Undergrounds. Doch auch sie müssen kämpfen. „Wir hatten Events, bei denen mitten im Set der Strom ausfiel“, erzählt Adexe und lächelt müde. Trotz einiger aufsehenerregender Veranstaltungen, Techno-Raves unter freiem Himmel oder Crossoververanstaltungen mit elektronischer und traditioneller arabischer Musik bleiben die wirtschaftlichen Bedingungen schwierig. „Selbst wenn die Shows ausverkauft sind, ist es schwer, kostendeckend zu arbeiten“, sagt er. „Alles ist teuer, ob nun Benzin, Technik, Genehmigungen oder die Miete.“ Noch tiefer als die ökonomischen Sorgen sitzen für ihn die Ängste der Menschen: „Die psychischen Probleme, die man seit rund zehn Jahren verstärkt beobachten kann, sind immens“, sagt Adexe. „Es mag paradox klingen, aber die Leute haben mittlerweile weniger Angst vor Bomben als davor, sich glücklich zu fühlen – und dieses Gefühl dann wieder zu verlieren.“ 

„Selbst in den schlimmsten Jahren haben Menschen getanzt. Jetzt wollen sie es nur endlich ohne Angst tun“

Das neue syrische Nachtleben knüpft weder an den staatlich inszenierten Glamour der Vorkriegsjahre noch an die Kriegsjahre an. Es ist etwas Neues: fragmentiert, intim, zerbrechlich und dabei extrem vital. Niemandem geht es hier um Perfektion, allen um die Intensität des Erlebens. „Die Flucht aus dem Alltag, die die Musik ermöglicht, ist nötiger denn je“, sagt Maher. „Selbst in den schlimmsten Jahren haben Menschen getanzt. Jetzt wollen sie es nur endlich ohne Angst tun.“ Die Aufhebung der US-Sanktionen, neue Investitionen aus den Golfstaaten und Pläne für einen Kulturtourismus haben Hoffnung geweckt. Aber auf Wunder hofft niemand. „Wir brauchen keine ausländischen Firmen, die uns Festivals vorsetzen“, sagt Safi. „Wir brauchen unsere eigenen Räume. Wir müssen den Prozess selbst gestalten.“ Eine Meinung, die viele hier teilen: Kultur muss von innen wachsen, mithilfe derjenigen, die geblieben sind, derer, die zurückkehrt sind, und all jener, die nie aufgehört haben zu träumen.

Es ist mittlerweile spät in der Nacht im Palais in der Altstadt. Der letzte Beat ist verklungen, doch die Menge verweilt im Kerzenlicht. Ein Mädchen lacht, jemand reicht eine Zigarette herum, ein junger Mann liegt auf den Mosaikfliesen und blickt durch das Oberlicht mit der zerbrochenen Scheibe in den Sternenhimmel. Es ist nicht nur eine Party, es ist die Rückeroberung der Stadt, Nacht für Nacht. „Wir haben fast alles erlebt“, sagt Maher bei einer Tasse Tee nach seinem Set. „Aber das hier? Das gehört jetzt uns.“ Für die jungen Kreativen, die Syriens kulturelle Renaissance tragen, ist Musik kein Beiwerk. Sie ist Identität. Widerstand. Erinnerung. In einem vom Krieg gezeichneten Land bedeutet sie fast alles.

Übersetzt aus dem Englischen von Ruben Donsbach

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