Indigene Rechte | Mexiko

„Jeden Tag laut sein“

Indigen, aus bescheidenen Verhältnissen und noch dazu eine Frau: Eine politische Laufbahn war für Eufrosina Mendoza Cruz nicht gerade vorgezeichnet. Doch sie setzte sich für bessere Lebensbedingungen indigener Frauen ein und wurde Abgeordnete. Ein Gespräch über Selbstbestimmung und Beharrlichkeit
Die indigene mexikanische Aktivistin Eufrosina Cruz Mendoza posiert für ein Portrait auf einem Stuhl in traditioneller Kleidung

Eufrosina Cruz Mendoza

Das Interview führte Xochitl Zepeda 

Frau Cruz Mendoza, Sie sind eine indigene Frau in der Politik – was waren die größten Herausforderungen auf Ihrem Weg?

Ich bekam von Anfang an viel Gegenwind. Als Indigene, die aus bescheidenen Verhältnissen kommt, wurde mir die Fähigkeit, eine Karriere in der Politik zu machen, grundsätzlich abgesprochen. 2007 wollte ich Bürgermeisterin meiner Gemeinde werden, um strukturelle Veränderungen für die Lebensverhältnisse von Frauen zu bewirken. Doch die Männer haben das verhindert.

Dank bestimmter Formen der indigenen Selbstverwaltung konnten wir zwar unsere Identität und unsere Traditionen bewahren. Doch zugleich pflegen unsere Männer einen Machismo und vertreten patriarchalische Positionen: Wir Frauen sind für sie nur zum Gebären da, für die Erziehung der Kinder und dafür, Essen zuzubereiten.

Immer passiv, auf die häusliche Sphäre beschränkt, ohne ein Mitspracherecht, was unsere Körper oder unser Leben anbelangt, das von Gewalt geprägt ist. Mit 26 Jahren stand ich vor den Männern der Gemeindeversammlung vollkommen allein da, mitten in den Bergen. Ich konfrontierte sie mit einer grund­legenden Frage: Wer hat diese Sitten und Gebräuche festgelegt?

Ich begriff, dass ich in die Politik gehen musste, wenn ich die Situation der Frauen verbessern wollte.

Wie haben die Männer in Ihrer Gemeinde reagiert?

Sie haben Druck gemacht. Meine Eltern sagten, man würde uns meinetwegen aus der Gemeinschaft rauswerfen. Meine Brüder wurden ausgegrenzt und machten mir Vorwürfe. Ich begriff, dass ich in die Politik gehen musste, wenn ich die Situation der Frauen verbessern wollte. Ein paar Jahre später war ich Kongresspräsidentin von Oaxaca. Dort gelang es mir, 2011 eine Verfassungsänderung durchzusetzen, mit der den indigenen Frauen in unserem Bundesstaat ihre politischen Rechte vollumfänglich zugestanden wurden. 2014 erreichte ich als Koordinatorin für Indigene Angelegenheiten die Änderung von Artikel 2 der Verfassung. Damit erhielten die indigenen Frauen unseres Landes das aktive und passive Wahlrecht. 

Wurden Sie von niemandem in Ihrer Gemeinde unterstützt?

Von fast niemandem. Nur von meinem Lehrer Joaquín – dank ihm habe ich sehr jung die Freiheit entdeckt zu träumen. Auch mein Vater, der weder schreiben noch lesen, noch Spanisch sprechen konnte, brachte mich mit zwölf nach Salina Cruz, damit ich weiter zur Schule gehen konnte. Und meine Mutter gab mir hundert Pesos (etwa fünf Euro), als ich zum Studium fortging. Das war die Unterstützung, die ich bekam.

Ich habe es gehasst, in diesem Land eine Frau zu sein. Ich sah, wie meine Schwester neun Kinder zur Welt brachte, wie sie im Stillen weinte und flehte, keinen Geschlechtsverkehr mehr mit ihrem Mann haben zu müssen. Meine Großmutter sagte, auch sie wurde von ihrem Mann vergewaltigt und hat nie Liebe kennen­gelernt. Das war normal und wurde toleriert.

Was hat sich seit Ihrer Wahl zur Abgeordneten im Jahr 2010 für indigene Frauen geändert? 

Es hat sich einiges verändert, und das ist nicht nur mein Verdienst, sondern auch das vieler anderer indigener Frauen. Frauen meines Volkes können nun wählen und eine höhere Schulbildung abschließen, ohne fortziehen zu müssen, weil es inzwischen im ganzen Land kommunale Sekundarschulen in indigenen Gemeinden gibt. Sie bereiten sie auch auf die Hochschule vor.

In Oaxaca wurden mittlerweile schon 27 indigene Frauen zu Bürgermeisterinnen gewählt. Ich war Wegbereiterin dafür, nicht nur in Oaxaca, sondern in ganz Mexiko. 2023 habe ich erreicht, dass Mexiko das erste Land Lateinamerikas wurde, das die Verheiratung minderjähriger indigener Mädchen als Verbrechen ins Strafgesetzbuch aufnahm. Jetzt geht es darum, dafür zu sorgen, dass das Gesetz auch angewandt wird.

Mein Ziel ist es, dass kein Mädchen mehr zwangsverheiratet wird. Dass die Frauen in ihren Gemeinden mehr Möglichkeiten haben, sich weiterzubilden. Viele junge Frauen spielen mittlerweile Fußball oder Basketball. Das bedeutet für uns einen großen Fortschritt und zeugt von Emanzipation. Wir kämpfen für die Freiheit, uns zu jedem Thema äußern zu können, zu lachen, Ja oder Nein zu sagen.

Dennoch sind indigene Frauen in der Politik immer noch unterrepräsentiert.

Auch wenn wir viel erreicht haben, ist der Kampf noch lange nicht vorbei. Bei den lokalen Wahlen der Indigenen 2022 wurde keine Parität erzielt, also keine gleiche Verteilung der Ämter nach Geschlechtern. Doch zahlreiche Kollektive indigener Frauen haben Einspruch erhoben, und 2025 müssen die indigenen Gemeinden die paritätische Repräsentation in die Praxis umsetzen. Wir müssen jeden Tag laut sein. 

Wie unterschiedlich entwickelt sich die Situation der indigenen Frauen in den verschiedenen Regionen Mexikos? Wo muss noch besonders viel getan werden?

Im Bundesstaat Guerrero zum Beispiel werden nach wie vor Mädchen in die Ehe verkauft, da es den Eltern ökonomischen Gewinn bringt. Doch das Gute ist, dass mittlerweile darüber gesprochen wird. Viele Entwicklungen machen uns Mut, zum Beispiel die Gemeinde Santa Inés Yatzeche in Oaxaca, in der vor einigen Jahren zum ersten Mal indigene Frauen gewählt wurden. Inzwischen stellen sie siebzig Prozent des Cabildos, unserer Ratsversammlung. Sie wurden wiedergewählt, weil sie ihre Arbeit gut gemacht haben. 

Glauben Sie, dass sich die Art, wie indigene Minderheiten in Mexiko gesehen werden, in den letzten Jahren insgesamt verändert hat?

Es hat sich etwas getan, aber der mexikanische Staat und die Politiker betrachten die Gemeinden immer noch als arme Opfer. An dem Tag, an dem sich das ändert, an dem man uns wirklich wahrnimmt und daran glaubt, dass wir mit unseren eigenen Mitteln vorankommen, an diesem Tag wird es für die indigenen Gemeinden einen tiefgreifenden Wandel geben. Wir sind keine bloßen Opfer oder Bürger zweiter Klasse. In meinem Umfeld war ich die Erste, die studiert hat. Inzwischen verfolgen auch meine Schwestern eine berufliche Laufbahn, als Ärztinnen, Architektinnen, Geschäftsführerinnen. Wir sind für unsere eigene Geschichte verantwortlich. Nicht die Herkunft ist entscheidend für unsere Zukunft, sondern die Bildung.

Mexiko ist ein sehr ungleiches und rassistisches Land

Die Politikerin Marichuy, eine Ärztin von der Gemeinschaft der Nahua aus Jalisco, hat 2018 für die mexikanische Präsidentschaft kandidiert, und auch Sie haben es probiert. Nun ist wieder eine indigene Frau erfolglos gegen die siegreiche Präsidentschaftskandidatin Claudia Sheinbaum angetreten. Glauben Sie, die Mexikanerinnen und Mexikaner sind bereit für eine Frau im Präsidentenamt, aber noch nicht für eine Indigene?

Die diesjährigen Wahlen waren schmerzhaft für mich. Die Kandidatin der Opposition, Xóchitl Gálvez, gehörte der Koalition meiner Partei an. Sie wurde aufgrund ihrer Erscheinung verunglimpft, zum Beispiel wegen ihrer Zähne oder wie sie spricht. Obwohl ihre Eltern dem Volk der Otomí angehören, hat man ihre indigene Herkunft angezweifelt. Zugleich wurde sie diskriminiert, viele wollten das oberste Amt im Staat nicht einer indigenen Frau anvertrauen.

Mexiko ist ein sehr ungleiches und rassistisches Land. Wir haben nicht gelernt, einander fair zu begegnen. Die Kandidatin, die jetzt zur Präsidentin gewählt wurde, Claudia Sheinbaum, ist eine Frau, doch sie ist weiß und europäischer Abstammung. Und die Tatsache, dass sie eine Frau ist, bedeutet noch nicht, dass sie eine feministische Politik macht. Ich werde Forderungen an die neu gewählte Regierung stellen, damit die indigenen Frauen in Mexiko ihre Rechte voll und ganz ausüben können. Es ist nicht leicht, in dieser diskriminierenden Gesellschaft die herrschenden Paradigmen zu durchbrechen. Nur wir indigenen Frauen selbst können das garantieren. Wir müssen uns die Räume zurück­erobern, die uns gehören. 

Aus dem Spanischen von Lea Hübner