Zusammenleben | Israel

„Wie hält man an der Vision von Frieden fest, ohne naiv zu wirken?“

Avital Benshalom leitet die Hagar-Schule in Be’er Sheva, in der jüdische und arabische Kinder gemeinsam lernen. Doch wie konnte das nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem folgenden Krieg in Gaza weiter gelingen? Ein Interview
Ein schwarz-weißes Porträt der Friedensaktivistin Avital Benshalom

Avital Benshalom

Interview von Sandra Rendgen

 

Frau Benshalom, Sie leiten die Hagar-Schule in Be’er Sheva im Süden Israels. Sie nehmen jüdische und arabische Kinder auf und unterrichten sie gemeinsam. Was macht Ihre Schule im Vergleich zu anderen aus?

Unter den rund 5.000 Grundschulen in Israel gibt es nur acht mit gemischter Schülerschaft. Hagar ist eine davon. Unsere Gesellschaft ist stark segregiert. Das macht sich besonders bei Kindern bemerkbar. Kinder aus jüdischen und arabischen Gemeinschaften haben sehr wenig Gelegenheit, einander kennenzulernen und zusammen zu spielen.

Ungefähr 60 Prozent unserer Schülerschaft sind arabisch und 40 Prozent jüdisch. Auch unser Kollegium ist gemischt und unterrichtet auf Hebräisch und auf Arabisch. Wir wollen, dass unsere Schülerinnen und Schüler die vielen verschiedenen Kulturen Israels erleben können und ihre eigene bewusst zum Ausdruck bringen.

Wie gestalten Sie solche Begegnungen für die Kinder?

Zuerst einmal ist es wichtig, das Eis zu brechen. Für die sehr jungen Kinder in unserem Kindergarten haben wir zum Beispiel eine „Freundschaftsbank“. Da können sie sich zusammen hinsetzen und sich gegenseitig erzählen, was sie mögen, was sie am liebsten essen und was sie für Lieblingstiere haben. Das hilft, Vertrauen aufzubauen.

„Wir wollen bei unseren Schülerinnen und Schülern ein Bewusstsein für ihre eigene Kultur, Religion und Identität und für die der anderen schaffen“

Für Ältere haben wir etwas komplexere Projekte, die einen Bezug zu unserer Stadt Be’er Sheva haben, also zum Lebensumfeld der Kinder. Wir gehen zum Beispiel durch die Stadt und schauen uns die Straßenschilder an. Die Schülerinnen und Schüler fangen an zu recherchieren: An wen erinnern die Straßennamen? Was haben diese Menschen geleistet?

Dabei fällt den Kindern auf, dass nur wenige Menschen mit arabischem Hintergrund in den Straßennamen vorkommen, dass also die arabische Bevölkerung unterrepräsentiert ist. Im nächsten Schritt entwickeln die Kinder Vorschläge, welche Menschen arabischer Herkunft man ehren könnte. Diese Vorschläge schicken sie in Briefen an die Stadtverwaltung.

Was nehmen die Kinder aus solchen Projekten mit?

Die Freundschaftsbank und die Straßenschilder sind natürlich nur Beispiele. Entscheidend sind letztlich die Bildungsziele, die dahinter stehen. Als Erstes wollen wir bei unseren Schülerinnen und Schülern ein Bewusstsein für ihre eigene Kultur, Religion und Identität und für die der anderen schaffen. Aber der zweite Schritt ist, bei diesem Wissen um die Unterschiede nicht stehenzubleiben. Was fange ich damit an? Was kann ich für die Gesellschaft bewirken?

Die Schülerinnen und Schüler schicken zum Beispiel Briefe an die Kinos in der Stadt und sagen: Wir wollen Filme nicht nur auf Hebräisch sehen, sondern auch Arabisch und Amharisch – eine semitische Sprache, die in Äthiopien gesprochen wird – oder auf Russisch. In Be’er Sheva leben viele Eingewanderte.

„Mathe-, Hebräisch- oder Arabischstunden sind manchmal die beste Möglichkeit, um die Kinder von den Nachrichten fernzuhalten“

Manche Schülerinnen und Schüler bieten Restaurants an, ihre Speisekarte zu übersetzen, damit sie zweisprachig werden. Ziel ist die Erziehung zum aktiven multikulturellen Miteinander. Den israelisch-palästinensischen Konflikt werden wir natürlich nicht lösen, aber ich will, dass die Kinder wissen: Sie haben viele Möglichkeiten, ihr Umfeld zu verändern.

Wie haben Sie die Zeit unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 erlebt? Konnten Sie mit diesem Lehrprogramm überhaupt weitermachen?

Zuerst mussten wir uns ein Bild von der Situation unserer Schulgemeinschaft machen und in Erfahrung bringen, ob jemand zu Schaden gekommen ist. Acht Familien in unserer Gemeinschaft hatten Verwandte, die von den Ereignissen betroffen waren. Als Erstes ging es darum zu sehen, wie wir konkret helfen können.

Einen Monat blieb die Schule geschlossen, vor allem weil Be’er Sheva unter starkem Raketenbeschuss stand. Nach einer Woche haben wir wieder mit Onlineunterricht angefangen. Viele waren der Meinung, in so einer Situation sollte man keinen Unterricht machen, sondern darüber reden, wie es einem geht. Ich habe gesagt: Doch, lasst uns Unterricht machen, wir brauchen diese Stabilität.

Videocalls sind nicht das richtige Medium, um sich über Emotionen auszutauschen. Mathe-, Hebräisch- oder Arabischstunden sind manchmal die beste Möglichkeit, um die Kinder von den Nachrichten fernzuhalten. Die Familien haben so viel Mühe darauf verwendet, die Kinder wenigstens etwas von dem ganzen Horror abzuschirmen.

„350 Kinder innerhalb von einer Minute zu evakuieren, ist eine Herausforderung“

Wie war es, als Sie wieder mit dem Präsenzunterricht begannen?

Am 5. November 2023 haben wir die Schule wieder geöffnet. Wir wussten nicht, ob die Kinder überhaupt wiederkommen würden. Ob die jüdischen Familien ihre Kinder wieder zur Schule schicken, ob es sich für die arabischen Familien richtig anfühlt, wenn ihre Kinder wieder herkommen.

Am ersten Tag erschienen 82 Prozent unserer Schülerinnen und Schüler zum Unterricht. An manchen Schulen waren es nur zehn Prozent. Wir hatten die höchste „Rückkehrerquote“ in Be’er Sheva. Das war für uns ein sehr positives Signal und lag meiner Meinung nach gerade daran, dass wir eine gemischte Einrichtung sind.

In den ersten Wochen war ich wegen der Raketenangriffe besorgt, aber wir mussten nur zwei- oder dreimal mit den Kindern in die Schutzräume rennen. 350 Kinder innerhalb von einer Minute zu evakuieren, ist eine Herausforderung. Wir haben das immer wieder geübt.

Die Familien in Ihrer Schule fühlen sich der Idee des guten Miteinanders ja offenbar verbunden, aber Sie haben sicher trotzdem schwierige Gespräche geführt.

Ja, auf jeden Fall. Man braucht eine neugierige und weniger eine kritische Haltung, dann bekommt man einen Draht zu den Familien. Mich freut, dass die meisten selbst in einer dermaßen komplizierten Wirklichkeit bei uns einen Ort finden, an dem sie über alles reden können. Auch nach dem 7. Oktober stand meine Bürotür immer offen.

„Wir starten inzwischen jeden Tag mit einem persönlichen Stärkungsprogramm und üben zum Beispiel, ruhig zu atmen“

Das ist anstrengend, aber es ist mein Job: für die Familien da zu sein. Dass sie ihre Kinder in so komplizierten Zeiten zum gemeinschaftlichen Unterricht schicken, finde ich bewundernswert. Natürlich gibt es unter den Erwachsenen viele Spannungen, doch wenn dann die Kinder zusammenkommen, erleben wir, dass alles okay ist. Aber ja, man muss rund um die Uhr einen Kommunikationskanal offen halten.

Wie haben Sie mit den Kindern die Ereignisse verarbeitet?

Wir starten inzwischen jeden Tag mit einem persönlichen Stärkungsprogramm und üben zum Beispiel, ruhig zu atmen. Es geht dabei nicht darum, den Konflikt zu diskutieren, sondern darum, was man tun kann, wenn man Angst hat oder angespannt ist.

Manche Kinder brauchen das, wenn sie die schrecklichen Nachrichten aus Gaza hören, andere, wenn es um die Kibbutzim in unserer Region geht. Das Wichtigste ist, dass die Kinder ein Gefühl der Sicherheit haben. Manchen hilft es, wenn sie Seifenblasen machen. Andere üben positives Denken.

Ansonsten haben wir festgestellt, dass die Kinder es vermeiden, direkt über den Krieg zu sprechen. Für die Lehrerinnen und Lehrer war das zunächst verwirrend. Wir haben dann die „Compassion Corner“ eingerichtet: einen Briefkasten, in den die Schülerinnen und Schüler Briefe oder Zeichnungen einwerfen können, um ihr Mitgefühl für die Menschen auszudrücken, die Leid erfahren haben – für die Kinder in Gaza oder für getötete israelische Militärangehörige. Einige Botschaften waren sehr berührend.

„Wir werden hier mit unserer jüdisch-arabischen Gemeinschaftserziehung weitermachen“

Was ist in Ihrem Schulalltag momentan die größte Herausforderung?

Ich würde sagen, an der Vision von Frieden festzuhalten, ohne dass man naiv oder unrealistisch wirkt. An der Hoffnung festzuhalten, dass das Leben in Israel und Palästina anders sein kann und anders sein sollte – und anders sein wird.

Ich nehme an, dass das an Ihrer Schule ein ständiges Thema ist.

Ja. Wir machen uns natürlich auch wie jede Schuldirektion Gedanken darüber, wie wir bessere Ergebnisse im Sprachunterricht erzielen oder wie wir unseren Lehrplan so gestalten, dass sich die Bevölkerungsgruppen darin wiederfinden. Das Spezifische bei uns ist die Frage, wie wir dafür sorgen können, dass die Schule sowohl für jüdische als auch arabische Kinder ein sicherer Ort bleibt.

Stellen Sie fest, dass es seitens der Stadtbevölkerung mehr Feindseligkeit gegenüber der Schule gibt?

Die meiste Zeit herrscht bei uns Normalbetrieb. Im Viertel akzeptieren uns die Menschen, das gilt auch für das Bildungsministerium und die Stadtverwaltung. Doch in den vergangenen Monaten gab es tatsächlich ein paar Vorfälle. Neulich hatten unsere Fünftklässler gemeinsam mit Kindern aus anderen Schulen Schwimmunterricht.

Einer meiner Schüler hat sich mit einem Jungen unterhalten, und der fragte: „Mann, wie kannst du nur mit diesen Arabern in die gleiche Schule gehen?“ Unser Schüler war überrascht und sagte: „Ich bin Araber“, und darauf reagierte der andere Junge mit offener Verachtung. Das war eine sehr demütigende Erfahrung von Rassismus.

Aber es gab Leute vor Ort, die die Situation thematisiert haben. Wir fühlen uns also nicht unsicher. Wir werden hier mit unserer jüdisch-arabischen Gemeinschaftserziehung weitermachen. Wir wollen uns so viel wie möglich an lokalen Aktivitäten beteiligen und zeigen, dass wir hier sind und dass das normal ist.