Stadt als Leinwand
Laite y Pólvora, La Merced, Mexiko-Stadt
Foto: „Muros Somos. 33 murales con historia“ von Cynthia Arvide Sousa (2022)
Manchmal sind es riesige Ornamente, die an abstrakte Kunst erinnern und sich über Wände ziehen oder um Fenster und Türen ranken. Anderswo sind es symbolträchtige Figuren, Schlangen, Vögel und Fantasiewesen, die wie aztekische Motive aussehen. Aber auch Graffiti und Comicstrips sind vertreten: Fassade um Fassade, Haus für Haus, ganze Stadtteile werden mit Bildern und Farben bedeckt – manchmal innerhalb von Tagen und Wochen, manchmal ist es aber auch eine Entwicklung von Monaten oder Jahren.
So etwa in Santa María Xixitla, einem Stadtteil von Cholula im Bundesstaat Puebla, wo auf die Initiative des Colectivo Tomate im Jahr 2016 eine eindrucksvolle Serie von Bildern entstand; oder in San Miguel de Allende, Guanajuato, wo während der „Muros en Blanco“-Festivals, die hier von 2014 bis 2020 stattfanden, zahllose Künstlerinnen und Künstler aktiv wurden. Manchmal geht es auch um politische Statements. So schaffen auf der Insel Cozumel und der Isla Mujeres in Quintana Roo Straßenkünstlerinnen und Wandmaler im Rahmen des Programms „Sea Walls: Artists for Oceans“ seit Jahren großformatige Bilder zum Thema Umwelt- und Artenschutz.
„Städte und Gemeinden setzen auf die Wirkkraft der Kunst, um Straßen für Anwohner und Touristen angenehmer zu machen“
In den vergangenen 15 Jahren ist es in etlichen mexikanischen Städten vom Norden bis tief in den Süden zu einer regelrechten Explosion urbaner Kunst gekommen. Dazu trug eine Reihe von Faktoren bei. Zunächst ist da der globale Kontext: Street-Art ist heute eine der bedeutendsten und aktivsten Kunstbewegungen unserer Zeit. Inzwischen gibt es zahlreiche Festivals und Förderprojekte; selbst Universitäten bieten immer mehr Kurse an, teils sogar ganze Studiengänge. Städte und Gemeinden setzen auf die Wirkkraft der Kunst, um Straßen für die Anwohner in eine angenehmere Umgebung zu verwandeln und attraktiver für den Tourismus zu machen.
Dank dieses Trends erlebt nun auch das jahrhundertealte Erbe mexikanischer Wandmalerei eine Renaissance, wenngleich viele der Street Artists heute der Ansicht sind, dass sie andere Bilder erschaffen, und sich fragen, ob sie mit den großen Namen der 1920er-Jahre mithalten können. Schon in vorkolonialer Zeit schufen Künstler der Maya oder der Mexica (wie sich die Azteken selbst nannten) in Tempeln und Palästen Wandmalereien mit großer sozialer und religiöser Bedeutung: Rituale, Szenen aus der Mythologie und historische Ereignisse wurden mit Naturpigmenten auf den Mauern festgehalten. Dank dieser Gemälde kennen wir heute viele Details aus dem Leben und der Organisation dieser Kulturen und wissen, wie sie sich das Universum vorgestellt haben.
Jahrhunderte später erlangte der Begriff der „Wandmalerei“, spanisch „Muralismo“, in einem anderen Kontext eine noch größere Bedeutung: als eine Gruppe von Künstlern nach der Mexikanischen Revolution von 1910 bis 1920 die Gelegenheit bekam, an einem ambitionierten bildungspolitischen Projekt mitzuwirken. Im Auftrag der Regierung schufen mehrere Künstler und ein paar Künstlerinnen, darunter so berühmte wie José Clemente Orozco, Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros und Aurora Reyes, ab den Zwanzigerjahren etliche symbolkräftige Werken in oder an öffentlichen Gebäuden.
„Manche Werke sind das spontane Statement anonymer Artists, andere entstehen im Regierungsauftrag“
Darin thematisierten sie den Klassenkampf, die soziale Ungleichheit, aber auch die mesoamerikanische Geschichte und den sogenannten „mestizaje“, die „Vermischung“ der Ethnien und Kulturen zwischen der weißen und der indigenen Bevölkerung der Region. Über den Zeitraum von insgesamt rund fünfzig Jahren entstanden so zahlreiche beeindruckende Bilderwelten, wie zum Beispiel die Marktszene in Tlatelolco von Diego Riviera im Nationalpalast von Mexiko-Stadt, die die mexikanische Bevölkerung dauerhaft geprägt haben und in der Weltgeschichte der Kunst ein eigenes Kapitel bilden.
Dieses künstlerische Erbe hat ein einzigartiges Vermächtnis für mehrere Künstlergenerationen hinterlassen, vor allem für diejenigen, die den öffentlichen Raum als Ort der Kreativität und der Kommunikation verstehen – im ganzen Land, auf großen Hauptstraßen ebenso wie auf Nebenstraßen.
Seher One, Mexiko-Stadt
Foto: „Muros Somos. 33 murales con historia“ von Cynthia Arvide Sousa (2022)
Manche Werke sind das spontane Statement anonymer Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfer, andere entstehen im Regierungsauftrag, wieder andere dagegen werden von NGOs oder Unternehmen mitfinanziert. Insbesondere in den letzten zehn Jahren haben Entscheidungsträger in vielen Kommunen Urban-Art-Programme ins Leben gerufen. Dabei erhalten junge Talente den Auftrag, ein meist figuratives Werk zu gestalten, das Persönlichkeiten oder typische Motive aus der jeweiligen Region zeigt. Damit will man den öffentlichen Raum zurückerobern, verschönern und ein Gefühl der Verbundenheit und Solidarität unter den Bewohnerinnen und Bewohnern stärken.
So wurden die Fassaden von Markthallen, Geschäften und Wohnsiedlungen, aber auch Wände an Brücken, Tunneln, Autobahnen und Haltestellen, ja selbst von Verwaltungsgebäuden, Haftanstalten und Dachterrassen plötzlich zur Bildfläche. Grautöne und blätternde Anstriche wurden mit kraftvollen Farben und Geschichten übermalt, mit Porträts, Motiven aus der Flora und Fauna, mit Gottheiten und prähispanischen Symbolen.
Unter den Regierungsinitiativen ist das Programm „Hidro-Arte“ der Versorgungsbetriebe von Mexiko-Stadt besonders erwähnenswert. Mit den Mitteln der Kunst soll es zum verantwortungsvollen Umgang mit Wasser aufrufen, denn die Wasserversorgung wird in der Stadt zu einem immer größeren Problem. Dutzende junge Künstlerinnen und Künstler wurden dazu eingeladen, Gemälde an den Betriebsgebäuden zu schaffen, so etwa im Parque Delta, ein Einkaufszentrum gegenüber einer Kläranlage in Mexico-Stadt.
Seit 2020 macht in der mexikanischen Hauptstadt auch die Initiative „Senderos Seguros: Camina Libre, Camina Segura“ von sich reden („Sichere Wege: sich sicher und frei bewegen“). Mit einer Reihe von Aktionen will die Initiative die städtische Infrastruktur verbessern und dafür sorgen, dass sich alle – insbesondere Frauen – sicher in der Stadt bewegen können. Mehr als einhundert Künstlerinnen und Künstler haben dazu über eintausend Wandgemälde realisiert.
„Ziel ist eine gesellschaftliche Wirkung an strategisch ausgewählten Standorten, um auf soziale, politische oder ökologische Probleme hinzuweisen“
Wer in Iztapalapa in Mexiko-Stadt die Seilbahn der Linie 2 oder einen Trolleybus der Linie 10 nimmt, der aufgeständert wie eine Hochbahn verkehrt, blickt von oben auf Hunderte Wandgemälde auf Dachterrassen und an Fassaden. Sie zeigen lokale Traditionen und Handwerksberufe, thematisieren die Binnenmigration und kulturelle Diversität; man fährt vorbei an Porträts von Frauen aus dem Viertel, die im Sport, in der Wissenschaft oder Kunst Herausragendes geleistet haben.
Diese Werke sind Teil des gewaltigen Iztapalapa-Mural-Programms, zu dem auch ein farbenprächtiges Mosaik aus 3.400 neu gestrichenen Häusern gehört. Das Projekt, das mehr als 11.000 Interventionen aus den Jahren von 2018 bis 2024 umfasst, gilt als das größte Programm für Wandmalerei und urbane Kunst in ganz Lateinamerika.
Neben diesen öffentlich finanzierten Programmen, bei denen es auch um eine möglichst breite Beteiligung geht und nicht unbedingt um die Qualität jedes einzelnen Werkes, haben einige zivilgesellschaftliche Organisationen Wandgemälde von strengerer Form und Aussage gefördert. Deren Ziel ist eine größere gesellschaftliche Wirkung an strategisch ausgewählten Standorten, um auf soziale, politische oder ökologische Probleme hinzuweisen.
Gleichzeitig nutzen natürlich inzwischen auch Werbeagenturen Wandmalereien für kommerzielle Zwecke. Teilweise vergeben sie sogar eigens Aufträge an aufstrebende Künstlerinnen und Künstler für handgefertigtes Marketing.
Himed, Guadaljara, Jalisco
Foto: „Muros Somos. 33 murales con historia“ von Cynthia Arvide Sousa (2022)
Trotz alledem findet sich abseits des Mainstreams auch weiterhin eine den Ansprüchen des Graffiti genügende Straßenkunst. Unzählige unabhängig geschaffene Werke des Underground offenbaren den Drang, die Straße als Raum für die freie Meinungsäußerung zu nutzen, ein Territorium zu markieren und im urbanen Kontext Präsenz zu zeigen.
Das gilt für Graffiti genauso wie für zahlreiche andere Techniken, die schnelle und massive Aktionen ermöglichen, wie Stencils, Aufkleber und Plakate oder sogenannte Paste-ups, mit Leim aufgezogene Poster. Sie scheinen sich überall in der Stadt zu vermehren und überziehen den öffentlichen Raum inzwischen teils schon in mehreren Schichten.