Kunst | International

Die verborgene Kraft textiler Kunst

Die Arbeit mit Textilien wurde lange als Frauenhandwerk abgewertet. Eine Ausstellung im Stedelijk Museum in Amsterdam zeigt nun das subversive Potential dieser Kunstform
Ausstellung zu textiler Kunst: ein Mann steht im Ausstellungsraum im Barbican in London und schaut lange Stoffbahnen an, die von der Decke hängen

Die Ausstellung „Unravel“ war zuvor in der Barbican Art Gallery in London zu sehen und wird ab Herbst 2024 im Stedelijk Museum Amsterdam gezeigt 

Wer das Untergeschoss des Stede­lijk Museum in Amsterdam betritt, wird von Cecilia Vicuñas eindrucksvoller Installation „Quipu Austral“ (2012) begrüßt: einem in Erdtönen gehaltenen Wald aus langen Strängen unversponnener Wolle. Sie fallen wie Wasserfälle von der Decke und reichen bis zum Fußboden. Dadurch entsteht, was Vicuña selbst als „poem in space“, Raumgedicht, bezeichnet. Die chilenische Künstlerin nimmt mit der Installation Bezug auf die in den Anden entwickelte Knotenschrift „Quipu“ (das Wort bedeutet in der indigenen Sprache Quechua „Knoten“), die als Möglichkeit diente sich mit dem Kosmos zu verbinden und im Rahmen der spanischen Conquista verboten wurde. 

Vicuñas Arbeit ist ein bewegender Auftakt für die Ausstellung „Unravel: The Power and Politics of Textiles in Art“, die als Kooperation zwischen der Londoner Barbican Art Gallery und dem Stedelijk Museum entstand und ab dem 14. September im niederländischen Museum zu sehen ist. „Textilien sind eng mit unserem Leben verwoben. Nach der Geburt werden wir in Tücher gehüllt, genauso wie nach dem Tod. Wir nutzen Textilien täglich als Ausdrucksmittel unserer selbst. Inzwischen gibt es viel mehr Raum, um Textilien als Kunst in den Blick zu nehmen und nicht nur als Handwerk“, sagt die KoKuratorin der Ausstellung, Amanda Pinatih vom Stedelijk Museum.

„In unserer Sammlung können wir sehen, wie textile Kunstwerke ab den 1960erJahren dreidimensionaler und politisch werden. Gleichzeitig nutzen viele junge Künstlerinnen und Künstler textile Kunst als Medium, um sich mit gesellschaftlichen Themen auseinanderzusetzen und eigene Erfahrungen zu verarbeiten. Deshalb ist es an der Zeit, das subversive Potenzial dieses künstlerischen Mediums zu erkunden, nachdem ihm lange zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.“ Diesem Anspruch wird „Unravel“ absolut gerecht. 

„Textilien sind eng mit unserem Leben verwoben. Nach der Geburt werden wir in Tücher gehüllt, genauso wie nach dem Tod“

Die umfangreiche Ausstellung bringt rund hundert Werke von fünfzig Künstlerinnen und Künstlern zusammen – und schickt Besuchende auf eine emotionale und bisweilen schwierige Reise. Viele Arbeiten kritisieren lautstark und vehement Machtdynamiken, während andere Werke die Betrachtenden mit leisen Tönen in ihren Bann ziehen und eher die mühevolle Arbeit sichtbar machen, die in ihre Entstehung geflossen ist. Von Einzel- bis hin zu Gruppenarbeiten, von monumental bis handgroß und aus einer Fülle von alten und neuen Techniken entstanden – die Ausstellung ist enorm vielfältig und gerät damit zu einer Synthese aus Protestkundgebung, Therapiesitzung und Love-in.

Eine Abfolge von locker umrissenen Themenblöcken leitet durch die Ausstellung. Dadurch werden die Künstlerinnen und Künstler länder- und generationen übergreifend miteinander ins Gespräch gebracht.

Im ersten Abschnitt, der den Titel „Subversive Stitch“ („Der subversive Stich“) trägt, werden Werke präsentiert, die das Stereotyp von Textilarbeit als Frauenhandwerk infragestellen. Nähen, Sticken und Stopfen werden hier zum Mittel des Widerstands.

Ein gesticktes Textilkunstwerk in rötlichen Farben zeigt die Silhouette einer Frau mit gespreizten Beinen und schmerzverzogenem Gesicht wie bei einer Geburt

Judy Chicago: „Birth Tear“, 1982 

Die US-amerikanische Künstlerin Judy Chicago ist mit einer Stickarbeit aus ihrer Serie „Birth Project“ („Geburtenprojekt“, 1980–1985) vertreten. Es zeigt eine gebärende Frau, deren Körperqualen sich ins Psychedelische steigern. Die Serie entstand als Reaktion auf die ikonografische Leerstelle, was Bilder der Geburt in der westlichen Kunst anbelangt.

Die subversive Kraft, die in Textilien steckt, wird auch im Themenblock „Borderlands“ („Grenzgebiete“) deutlich. Hier sind Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern zu sehen, die sich über physische oder kartografische Grenzen hinwegsetzen.

Am eindrucksvollsten ist eine filigrane Installation des südafrikanischen Künstlers Igshaan Adams. Sie zeichnet die sogenannten „Desire Lines“ („Trampelpfade“) nach – so hießen in Südafrika während der Apartheid die informellen Fußwege, auf denen sich die Menschen schneller zwischen den abgeschotteten Townships hinund herbewegen konnten. Adamsʼ „Prayer Clouds“ („Gebetswolken“) sind Gebilde aus Draht, Muscheln und Fäden, die in der Luft hängen wie Staub. 

Das Thema „Bearing Witness“ („Zeuge werden“) zeigt Werke, die im Zeichen des Erinnerns und Trauerns stehen. Zwei großformatige Bildteppiche der Mexikanerin Teresa Margolles würdigen den in Staten Island in den USA ermordeten Eric Garner und Jadeth Rosano López, die in Panama-Stadt getötet wurde.

Die Künstlerin reiste mit dem Stoff an den jeweiligen Tatort, in die räumliche Nähe der ermordeten Person, und übergab ihn an eine Gruppe aus deren Umfeld. Diese bestickten anschließend die Teppiche. Dadurch wurden die Bildteppiche zu einem interaktiven Repositorium, in dem die Dokumente zu den brutalen Morden und dem durch sie erlittenen Verlust gespeichert werden. 

„Können unsere Traumata ausheilen oder wird immer eine Narbe bleiben?“

Von Gräuel und Not wechselt der Fokus in „Wound and Repair“ („Wunde und Heilung“) zu Werken, in denen das Herstellen von Textilien als meditativer Akt vollzogen wird. Angela Su aus Hongkong hat für ihre Serie „Sewing Together my Split Mind“ („Zusammennähen meines gespaltenen Verstandes“, 2019/2020) aus ihren eigenen Haaren ein Auge, eine Brust und eine Vulva gestickt, in die mit einer Nähnadel hineingestochen wird. Die Künstlerin stellt die prodemokratischen Proteste in Hongkong mit dem chirurgischen Vorgang, eine Wunde zu vernähen, in Zusammenhang und fragt: Können unsere Traumata ausheilen oder wird immer eine Narbe bleiben?

In „Ancestral Threads“ („Herkunftsfäden“) ehren Künstler und Künstlerinnen ihre indigenen Vorfahren – und damit diejenigen, die am meisten unter kolonialer Ausbeutung, Vertreibung und Auslöschung gelitten haben. Dabei geht es auch um den Versuch, die uralten Wissenssysteme der Vorfahren wieder neu zugänglich zu machen.

Die Serie „Messengers of the Sun“ („Boten der Sonne“, 2020) von Antonio Jose Guzman und Iva Jankowicz aus Panama besteht aus einer Reihe von übergroßen Umhängen aus indigoblauer Baumwolle. Dabei ließen sie sich unter anderem von dem Musiker Sun Ra und Gris Gris inspirieren, einer Art von Amuletten, die in Westafrika verbreitet sind. 

„Wenn von Widerstand, Aufbegehren und Emanzipation erzählt wird, kann das die Menschen berühren und anregen“

Der Wert eines solchen Umhangs entsprach im 18. Jahrhundert in etwa dem eines versklavten Menschen; der Textilienhandel war eng mit dem transatlantischen Sklavenhandel verknüpft. Damit interpretieren sie die vielfältige Kolonialgeschichte indigoblauer Textilien neu. 

Zum Schluss begegnen Besucherinnen und Besucher noch einmal Cecilia Vicuña. Ihre „Precarios“-Serie besteht aus kleinen Skulpturmontagen, die aus Fundstücken geschaffen wurden und Opfergaben an Mutter Natur darstellen. In ihrer Vergänglichkeit erinnern sie uns daran, wie fragil unsere natürliche Umwelt ist: „Mit diesem Werk als Schlusspunkt wollen wir die Besucherinnen und Besucher mit hoffnungsvollen, freudigen Gefühlen entlassen“, erklärt Amanda Pinatih.

„Viele Erzählungen in der Ausstellung haben etwas Schweres, weil die Künstlerinnen und Künstler sich gegen bestehende Regime und gegen feste Vorstellungen von Macht stemmen. Doch wenn von Widerstand, Aufbegehren und Emanzipation erzählt wird, kann das die Menschen berühren und anregen, in ihrem eigenen Leben das Gleiche zu tun.

„Unravel: The Power and Politics of Textiles in Art“, Stedelijk Museum Amsterdam, bis 5. Januar 2025