Geschlechterrollen | Mexiko

„Solange du ein Macho bist, ist es okay“

Der texanisch-mexikanische Künstler José Villalobos befasst sich mit der Kleidung der mexikanischen Norteño-Kultur. Die ist äußerst extravagant – und gilt zugleich als Inbegriff der Männlichkeit
Ein junger Mann mit nacktem Oberkörper posiert vor einem grauen Hintergrund. Er trägt einen extravaganten Kragen aus schwarzen Federn und einen schwarzen Cowboyhut mit einem Metallvogel als Verzierung. Die langen Fransen an der Hutkante verdecken die Augen des Mannes

Das Interview führte Jess Smee

Herr Villalobos, Sie sind in El Paso in Texas aufgewachsen, also nahe der Grenze zu Mexiko. Welche Rolle hat das Nachbarland in Ihrer Kindheit gespielt?

Meine Eltern sind beide aus Mexiko. Meine Mutter ist seit ihrem 13. Lebensjahr Tag für Tag ohne Papiere in die USA gependelt, um als Putzfrau zu arbeiten. Manchmal durchquerte sie den Rio Grande und lief durch die Wüste, manchmal wurde sie über die Grenze geschmuggelt. Abends kehrte sie auf demselben Weg wieder heim. Später zogen meine Eltern dann richtig nach El Paso, aber in meiner Kindheit fuhren wir weiter ständig hin und her. Die meisten unserer Verwandten lebten in Mexiko, und wir haben sie wöchentlich, zeitweise sogar täglich besucht. Die Grenzregion war immer durch eine besondere Dynamik geprägt; es ist ein seltsamer „Zwischen-Raum“.

„Von klein auf hat mich der extravagante Kleidungsstil meines Vaters, meiner Onkel und meiner Cousins beeindruckt“

In Ihren künstlerischen Arbeiten verwenden Sie häufig Kleidung, die typisch für die nordmexikanische Norteño-Kultur ist. Was bedeutet sie für Sie?

Von klein auf hat mich der extravagante Kleidungsstil meines Vaters, meiner Onkel und meiner Cousins beeindruckt. Mein Vater hat keine richtige Schulbildung genossen, aber er war musikalisch begabt und spielte in verschiedenen Norteño-Bands Akkordeon, Keyboard oder er sang. Als Kind fand ich die extravaganten Kleider dieser Leute faszinierend, vor allem die der Musiker. Sie traten in Fransen- und Glitzeroutfits auf.

In manchen Dingen ähnelt der mexikanische Norteño-Stil dem der amerikanischen Cowboys. Gibt es da eine Verbindung?

Die Stilrichtungen haben sich im Laufe der Zeit insbesondere in den Grenzregionen vermischt. Der klassische Cowboystiefel ist allerdings eher schlicht und zweckmäßig. Norteño-Stiefel dagegen sind oft kunstvoll verziert und bestehen aus exotischen Ledern wie Krokodil, Rochen, Strauß oder Hai. Einige sind mit Pailletten besetzt, bunt gefärbt, und sie können sehr spitz zulaufen.

Mein Stiefvater war ein mexikanischer Schuhmacher. Ich besitze einige Stiefel, die er gemacht hat. Ich habe ihn gefragt, warum er bestimmte Stichmuster verwendet hat, und habe ihn sogar darauf hingewiesen, dass die Stickerei ja traditionell ein eher weibliches Handwerk ist. Er konnte seine Einflüsse nicht genau erklären, er meinte nur, dass sie ihm gefielen.

„Ich habe gelernt, dass es vollkommen okay ist, sich extravagant zu kleiden, solange du ein Macho bist“

Manche Stiefel haben auch recht hohe Absätze.

Genau. Ich habe gelernt, dass es vollkommen okay ist, sich extravagant zu kleiden, solange du ein Macho bist. Aber wenn du dich grell anziehst und queer bist, dann wirst du als Schwuchtel oder als Tunte oder was auch immer beschimpft. Die Norteño-Kleidung war sozusagen performativ. Und sie war wie eine Rüstung. Sobald die Männer ihre Stiefel, Gürtel, Hüte und Hemden anhatten, verhielten sie sich anders, sie strahlten Macht aus und machten einen auf harter Typ.

War das auch ein homophobes Umfeld?

Meine Familie war konservativ und religiös, und erst im Alter von 22 oder 23 Jahren fand ich den Mut, mich zu outen. Vorher hatte ich Angst, dass man mir Gewalt antut oder dass meine Familie mich ablehnt. Nach meinem Coming-out hat meine Mutter eine Zeit lang nicht mehr mit mir geredet, und alle anderen Verwandten sagten: Wir werden für dich beten!

Irgendwann haben sie ihre Meinung geändert, aber es gibt ein Sprichwort bei uns: „Lo que se ve, no se pregunta“ – was man sieht, danach fragt man nicht. Meine Familie weiß, dass ich schwul bin, aber niemand redet darüber.

Ihre Kunst verpasst der Norteño-Kleidung einen völlig neuen queeren Look. Was hat Sie dazu inspiriert?

Ich wollte die Bedeutung, die man diesen Kleidern traditionell zuschreibt, hintertreiben. Ich habe angefangen, mit der traditionellen Symbolik zu experimentieren, die diese Objekte haben. Für mich strahlen diese Outfits Macht aus. Diese Macht wollte ich dekonstruieren und sie dann so subversiv wieder aufbauen, dass sie den Machismo unterminiert.

Sie haben zum Beispiel die Fransen von Männerhemden zur Dekoration für die Sombreros umfunktioniert. Damit treiben Sie die extravaganten Elemente vollständig auf die Spitze.

Wenn man diesen an sich schon grellen Stil noch weiter übertreibt, dann kommt das wahre Wesen dieser Kultur erst so richtig zum Vorschein. Für meine aktuelle Ausstellung in Frenchtown, New Jersey, habe ich riesige Skulpturen produziert. Sie sind von den Stickmustern inspiriert, wie sie sich normalerweise auf den Männerstiefeln finden. Sie haben mich gereizt, weil die Schuhe wirklich äußerst kunstvoll verziert sind. Doch obwohl die Stickereien teils sogar Blumenmotive enthalten, bleiben sie unter der Hose versteckt. Es ist eine geheime Verzierung, etwas, das man verbergen muss. Stiefel sind ja erst mal etwas Praktisches, sie schützen dich. Gleichzeitig offenbaren Norteño-Stiefel auch einen starken Sinn für Mode. Aber wenn du gegenüber diesen Machos das Wort „Mode“ auch nur erwähnst, werden sie es weit von sich weisen.

„Als Jugendlicher hatte ich das Gefühl, weder amerikanisch noch mexikanisch genug zu sein“

In vielen Arbeiten thematisieren Sie Ihre doppelte Identität, etwa in der Installation „Ni de aqui, ni de alla“ („Nicht von hier und nicht von dort“). Darin werden Sie von einem Pferd durch den Sand gezogen – eine Metapher für Zerrissenheit.

Das Gefühl, zwischen zwei Stühlen zu sitzen, ist typisch für die Menschen der ersten Generation, die an der Grenze aufgewachsen sind. Von El Paso braucht man mit dem Auto über den Highway gerade mal 15 Minuten nach Ciudad Juárez. Als Jugendlicher hatte ich das Gefühl, weder amerikanisch noch mexikanisch genug zu sein. „Mexican-American“ ist ein interessanter Begriff. Ich denke, ich bin Mexikaner, weil das meine kulturelle Prägung ist, aber die Leute sagen mir: Nein, du bist Amerikaner. In Mexiko würde man mich einen Gringo nennen. Es ist ein ständiger Kampf der Identitäten.

Sie hatten auch Ausstellungen in Mexiko, zum Beispiel in Ciudad Juárez.

In der Ausstellung ging es um Männlichkeit. Dafür habe ich ein Jahr lang im nordöstlichen Teil des Bundesstaates Chihuahua recherchiert. Ich habe Gemeinden auf dem Land besucht und an traditionellen Festen teilgenommen. Ich wollte wissen, wie Landbesitz und Männlichkeit zusammengehören, wie der Besitz geschützt und an (normalerweise männliche) Verwandte vererbt wird. Es geht dabei vor allem um Macht – und meiner Meinung nach hängt das traditionelle Bild von Männlichkeit ganz eng damit zusammen.

Ich habe auch gezielt Begegnungen mit queeren Menschen gesucht. Ich habe sie fotografiert und die groß­formatigen Porträts an Heustapeln angebracht. Ich habe die Fotos auf Stoff gedruckt, was dem Ganzen etwas Weiches gibt. Ich habe Bilder ausgewählt, auf denen man keine ganzen Gesichter sehen kann, damit die Fotografierten anonym bleiben.

„Gerade in den ländlichen Gemeinden Mexikos ist es für queere Menschen schwer, sich selbst ganz zu akzeptieren“

Spiegelt das auch eine mangelnde gesellschaftliche Akzeptanz für queere Menschen wider?

In gewissem Sinne ja. Einer der Männer, die ich fotografiert habe, sagte, seine Familie wisse zwar über ihn Bescheid, aber sie sprächen nicht darüber. Ein anderer hält sich nicht für schwul, obwohl er mit Männern schläft. Wieder ein anderer gibt sich sehr maskulin und zeigt seine andere Seite erst, wenn er allein mit engen Freunden zusammen ist. Gerade in den ländlichen Gemeinden Mexikos ist es für queere Menschen schwer, sich selbst ganz zu akzeptieren.

Wie reagieren die Menschen in Mexiko auf Ihre Arbeiten?

Ich bekomme positives Feedback, aber manche Reaktionen sind auch heftig. Eine meiner Installationen besteht aus elf Gürteln. Normalerweise prangt an diesen kunstvoll verzierten Gürteln der Nachname des Trägers – man brüstet sich mit seiner Herkunft. Auf meinen Gürteln dagegen ist jeweils ein homophober Spruch zu lesen.

Als ich sie in Mexiko ausgestellt habe, haben viele darüber gelacht. Aber das war kein fröhliches Lachen, sondern ein nervöses, so als würde jemand etwas an sich selbst bemerken und sich plötzlich schuldig fühlen.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld