Alltag | Mexiko

Reise ins Herz des Chilango*

Mexiko-City ist riesig. Wie kommt man am besten von A nach B? Vor allem mit Geduld. Ein Essay über den öffentlichen (und halb-öffentlichen) Nahverkehr der mexikanischen Hauptstadt
Eine Illustration zeigt Einwohner von Mexiko Stadt in Kleinbussen

Anstrengend und gefährlich: Fahrten in den Kleinbussen von Mexiko-Stadt

 

Der durchschnittliche „Chilango“* verbringt täglich etwa anderthalb Stunden in den öffentlichen Verkehrsmitteln von Mexiko-Stadt. Olga Cardona Santiago, 65 Jahre alt, gehört zu den dreißig Prozent, bei denen es sogar mehr als zwei Stunden sind. Die Fahrt von ihrer Wohnung in San Francisco Acuautla östlich der Hauptstadt bis zu ihrer Arbeitsstelle in der Zona Sur im Süden dauert ungefähr vier Stunden.

*Chilango: Einwohner von Mexiko-Stadt

Mit anderen Worten: Nur um zu ihrer Arbeit und wieder zurückzukommen, ist Olga jeden Tag bis zu acht Stunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Die Geschichte ihres täglichen Hindernislaufs zeigt, wie surreal die Strukturen sind, die den Alltag in unserem Land prägen.

Ihre Fahrt beginnt mit einem Bus, den sie bis zur Haltestelle der Metro nimmt. Das dauert eine halbe Stunde, manchmal länger, wenn Baustellen und dichter Verkehr dazwischenkommen, ein Unfall oder auch eine überschwemmte Straße, wie so oft in der Regenzeit. Zum Glück kennt Olga den Weg. Wäre dem nicht so, müsste sie den Gesamtplan des Verkehrsnetzes von Mexiko-Stadt zu Rate ziehen, doch bei diesem Dokument handelt es sich in mehrfacher Hinsicht um eine urbane Legende.

Es gibt Leute, die behaupten, dass er existiert, aber niemand hat ihn je zu Gesicht bekommen. Andere sagen, er sei noch gar nicht erfunden worden, und haben sich selbst die unmögliche Aufgabe auferlegt, ihn zu entwerfen. Die Stadtverwaltung verspricht immer mal wieder, einen anfertigen zu lassen, nächstes Jahr. Oder übernächstes.

„Niemand kennt das gesamte Netz der Pesero-Kleinbusse. Jemand, der über dieses Wissen verfügt, würde vermutlich als Orakel verehrt.“

Es gibt Pläne der staatlich betriebenen Systeme wie Metro und Metrobus, die täglich rund sechs Millionen Menschen befördern. Doch die Stadt ist so groß, dass man mit diesen offiziellen Verkehrsmitteln immer nur relativ nah an sein Ziel herankommt, aber nie ganz bis dorthin, wo man eigentlich hinmöchte.

Der größte Anteil der Fahrten wird daher mithilfe von „Peseros“ bewältigt, den Kleinbussen, die ein halb offizielles Verkehrsnetz bilden. Es wird nicht von den Behörden organisiert, sondern von der sogenannten „Pulpo camionero“, der „Verkehrsnetzkrake“. Das sind eine Handvoll Geschäftsleute, die mit der Stadtverwaltung Konzessionen aushandeln und die Routen unter sich aufteilen, auf denen die mehr als 16.000 Peseros von einem Ende der Metropole zum anderen unterwegs sind.

Um sich in Mexiko-Stadt zurechtzufinden, muss man also auf mündliche Überlieferung zurückgreifen. Wer in der Metropole von A nach B will und seine Strecke nicht kennt, muss den Fahrer fragen, andere Fahrgäste oder auch die fliegenden Händler und die Zeitungsverkäufer an ihren Ständen. Nur so lässt sich nach und nach herausfinden, in welchen Kleinbus man springen muss, um an sein Ziel zu gelangen.

„Der Pesero ist eine Ode an die Lokalfolklore. Feste Haltestellen gibt es nicht, man hält einfach Ausschau nach einem Fahrzeug, das die passende Strecke fährt.“

Die Routen der Peseros entstehen an einem Tag neu und verschwinden am nächsten plötzlich wieder – das hängt vom allgemeinen Verkehrsaufkommen ab, davon, welche Hauptverkehrsstraßen gerade durch Bauarbeiten blockiert werden und wie die Verhandlungen zwischen den diversen Konzessionsinhabern zuletzt verlaufen sind. Niemand kennt das gesamte Netz der Peseros. Jemand, der über dieses Wissen verfügt, würde vermutlich als Orakel verehrt. 

Der Pesero ist eine Ode an die Lokalfolklore. Feste Haltestellen gibt es nicht, man hält einfach Ausschau nach einem Fahrzeug, das die passende Strecke fährt: „Merced – Santo Domingo“, „Tacuba – Pantitlán“, „Cuemanco – Salto del Agua“. Haltewünsche im Bus werden per Klingel signalisiert – falls diese funktioniert. Manchmal baumelt aber auch ein Gummihuhn von der Decke, das quietscht, wenn man es drückt.

Jede Ecke, jeder Bürgersteig, der sich anfahren lässt, kann als Pesero-Haltestelle dienen, wobei der Ausdruck ein Oxymoron ist: Die Busse halten im Grunde gar nicht, sie bremsen lediglich auf eine Geschwindigkeit herunter, bei der die Leute aus dem fahrenden Wagen springen können.

Schätzungen zufolge ernährt ein Pesero bis zu drei oder vier Familien. Manche Fahrzeuge sind in einem grauenhaften Zustand, andere werden von ihren Besitzern gehegt, gepflegt und geschmückt: Sie schmücken sie mit maßgeschneiderten Sitzbezügen, mit Flammen-Tribals oder Cholo-Aufklebern mit Sprüchen und Motiven aus der mexikanischen Jugend- und Subkultur.

Sie installieren Hi-Fi-Anlagen im Wert von 10.000 Pesos (rund 500 Euro), teils mit bunten Lichtern, die im Rhythmus der Cumbia blinken, des Sounds mit afrikanischen, indigenen und spanischen Elementen, der die Fahrt untermalt. Manche Pesero-Besitzer bauen sogar musikalische Hupen ein, sodass einem der Soundtrack aus „Der Pate“ in den überfüllten Straßen entgegenschallt.

Das große Problem dieser „rollenden Särge“, wie sie auch genannt werden, ist ihre Unsicherheit. Die Fahrer sind berüchtigt dafür, sich auf ihren Routen sogenannte Carreritas, kleine Wettrennen mit anderen Bussen, zu liefern, auch bekannt als „Centavo-Krieg“: ein erbitterter Kampf darum, wer mehr Fahrgäste befördert und damit die höheren Tageseinnahmen hat.

In den Bussen selbst herrscht ein reger Betrieb mit fliegenden Händlern, improvisierten Pantomimeshows, Musikern, Clowns und Schnorrern. Manche von ihnen schwingen auch kleine Reden, in etwa so: 

„Guten Tag, entschuldigen Sie bitte die kurze Störung, ich habe drei Kinder und war bis vor Kurzem wegen eines bewaffneten Raubüberfalls im Knast. Jetzt versuche ich, mein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Vielleicht möchte mich ja heute jemand von Ihnen mit einer kleinen Spende unterstützen, was immer Ihr Herz so hergibt…“ 

Das Ganze ist stets mit der stillschweigenden Drohung verbunden, der Bettelnde könnte auf seine früheren Geschäftspraktiken zurückgreifen, falls die anderen Verkehrsteilnehmer nichts beitragen wollten. Und ein Clown ist bei einer polizeilichen Gegenüberstellung, wenn die Schminke ab ist, ja nur schwer wiederzuerkennen.

„Die inoffiziellen Transportmittel sind ein Fenster zur Seele der Stadt und wie die Metropole selbst in einem ständigen Wandel begriffen.“

Olga ist bereits mehrfach mit vorgehaltener Waffe überfallen worden. In dem Teil des Bundesstaats, durch den sie fährt, bevor sie die Hauptstadt erreicht, sind gewaltsame Überfälle so häufig, dass die Banditen mittlerweile einfach mit ihrer Waffe und dem bekannten Spruch in den Bus einsteigen: „Hallo die Herrschaften, ihr wisst Bescheid, Handys und Brieftaschen raus … Und vergiss die Armbanduhr nicht, mein Freund!“

Die inoffiziellen Transportmittel sind ein Fenster zur Seele der Stadt und wie die Metropole selbst in einem ständigen Wandel begriffen. Immerhin wurden inzwischen ein paar Pläne bestimmter Pesero-Linien erstellt mithilfe neuerer Technologien wie Google Maps oder Wikiando, einer digitalen Plattform, die es sich zum Ziel gemacht hat, die Mobilität in der mexikanischen Hauptstadt durch Datenerhebungen und Apps zu verbessern.

Vor Kurzem wollte die Regierung GPS-Tracker installieren, um die Routen der Peseros aufzuzeichnen und Geschwindigkeitsüberschreitungen zu kontrollieren; doch wegen Kurzschlüssen aufgrund der unterschiedlichen Spannungen in den elektrischen Systemen gaben die meisten Geräte schnell ihren Geist auf. Die Versuche, die Peseros ins offizielle Transportnetz einzubinden, scheitern unverändert. Zugleich erstrecken sich die Tentakel der Verkehrsnetzkrake immer weiter über die Stadt.

Mit ein bisschen Glück schafft Olga es bis sechs Uhr morgens zur Metro. Da ist Rushhour, es geht zu „wie in einem Zombiefilm«, sagt sie empört. In den überfüllten Waggons klammern sich die Reisenden, um nicht umzufallen, aneinander fest. Wenn man nicht aufpasst, wird man von den Horden von Massen, die ein- und aussteigen, mitgerissen wie von einer menschlichen Flutwelle.

Olga steht fast während der gesamten Fahrt. Als ich sie frage, wie sie sich die Zeit vertreibt, erklärt sie, dass sie genug damit zu tun hat, sich nicht totquetschen zu lassen. Mit ihren 65 Jahren musste sich Olga noch die Tipps und Tricks des U-Bahnfahrens aneignen: sich mit den Ellbogen Platz verschaffen, Leute zurückdrängen, ihr Hinterteil schützen — vor den Taschendieben, vor allem aber auch vor Grapschern.

Sexuelle Belästigung ist ein ernstes Problem in der U-Bahn der Metropole. Vor einigen Jahren versuchte die Stadtverwaltung es zu lösen, indem die Regel eingeführt wurde, dass die jeweils ersten beiden Waggons der Metros ausschließlich für Frauen und Kinder reserviert sind.

„Wenn du wüsstest …“, sagt Olga. „Im Frauenwaggon geht es noch unzivilisierter zu. Die Frauen stürmen und drängen in die Wagen. Sie geben ihren Sitz nicht frei, wenn ältere Leute oder Kinder dabei sind, und wenn sich jemand beschwert, schlagen sie zu. Ich bleibe lieber bei den Männern, da besteht wenigstens noch die kleine Chance, dass mir mal jemand seinen Sitzplatz anbietet.“

Olga fährt mit der Metro bis zur Station „Agricola Oriental“, die nächsten drei sind wegen Bauarbeiten geschlossen. Sie steigt aus und nimmt den Schienenersatzverkehr des RTP (Red de Transporte de Pasajeros). Zwar werden die U-Bahnen regelmäßig gewartet, doch der Verschleiß ist groß, und es fehlt an Geld und Ersatzteilen.

Dabei konnten findige Mechaniker die ursprünglich auf nur 25 Jahre ausgelegte Lebensdauer der Züge ohnehin schon auf erstaunliche fünfzig Jahre verlängern — etwa so lange, wie die Metro in Mexiko-Stadt existiert. Aber in den letzten Jahren hat der fortschreitende Verfall zu mehreren tödlichen Unfällen geführt. Mit ihrem untrüglichen Sinn für Humor erzählen sich die Leute nun, U-Bahnfahren in der mexikanischen Hauptstadt müsse als „Hochrisikoverhalten“ eingestuft werden.

Gegen halb acht Uhr morgens steigt Olga vom RTP in die Metro um, ein Vorgang, der sich wegen der sogenannten „Dosificaciones“, der „dosierten Einstiege“, üblicherweise in die Länge zieht. Die Stationen sind so überfüllt, dass die Behörden die Zugänge zum Bahnhof zeitweise sperren, bis die Bahnsteige sich wieder einigermaßen geleert haben. Dann lassen sie ein paar Leute durch – und sperren erneut.

Olga sagt, dass sie Albträume bekommt beim Gedanken daran, was alles passieren kann, wenn in einem solchen Moment eine Massenpanik ausbricht. Zwei Umstiege liegen jetzt noch vor ihr und noch eine letzte Fahrt im Pesero. Der setzt sie schließlich so ab, dass sie noch fünf Minuten zu Fuß zu ihrer Arbeitsstelle braucht. Dort verbringt sie die nächsten vier Stunden, bevor sie dann wieder den Rückweg antritt. Sie gibt gerne zu, dass sie zum Teil auch dafür bezahlt wird, in der Stadt unterwegs zu sein, weil das viel anstrengender ist als ihre eigentliche Arbeit.

Das Erstaunliche ist meiner Meinung nach nicht, dass der mexikanische Nahverkehr chaotisch ist, sondern dass er überhaupt funktioniert. Mehr schlecht als recht, aber er funktioniert. So dystopisch meine Schilderung wirken mag, diese Stadt hat ein System entwickelt, das mit einer gewissen Effizienz zwanzig Millionen Menschen pro Tag befördert. Das ist ein wahres Wunder an urbaner Logistik und an Erfindergeist. Und, wie ich immer gerne sage: Mexiko-Stadt ist kein perfekter Ort zum Leben, aber zumindest hat man hier keine Zeit, sich zu langweilen.

Aus dem Spanischen von Miriam Denger