Clubkultur | Vietnam

Elektronische Sounds aus Vietnam

Die vietnamesische Clubkultur wurde lange von Expats und Tourist:innen beherrscht. Seit einigen Jahren mischen verstärkt auch einheimische Kollektive und DJs in der Szene mit — und dabei geht es nicht nur um Musik und Partys
Der DJ Lorence V legt in einem Club in Vietnam auf

Der DJ Lorence V legt in einem Club in Vietnam auf 

In einem leerstehenden Raum über einem Burger­ King­ Restau­rant in Ho­-Chi-­Minh­-Stadt spielt Nhạc Gãy 140­-BPM­-Musik für ein begeistertes Publikum. Nhạc Gãy ist ein 2019 gegründetes Kol­lektiv aus vietnamesischen DJs, Produzentinnen und Künstlern.

Der Name bedeutet „gebrochene Musik“, eine treffende Selbstbe­schreibung für eine Gruppe, die für ihre experimentellen High­-Energy­ Raves in Ho­-Chi­-Minh­-Stadt und Hanoi bekannt geworden ist. Das Kollektiv steht für einen Wandel in der vietnamesischen Clubkultur, insbesondere in der Hauptstadt.

Ho­-Chi­-Minh­-Stadt und Hanoi sind seit Langem für ihre pulsie­renden Partyszenen bekannt, doch über viele Jahre wurde diese vor allem von Expats und Touristen dominiert. Das änderte sich 2018. Damals taten sich mehrere junge Vietnamesinnen und Vietnamesen zusammen, um die Entwicklung der einheimischen elektronischen Musik und einer entsprechen­den Szene voranzutreiben.

Trần Hữu Tuấn Bách, auch bekannt als B.A.X., gründete Holy Grail Music, ein Label und eine Platt­form für aufstrebende DJs, Produ­zentinnen und Produzenten. Im selben Jahr startete Mino Nguyen „V2X“, ein Onlinemagazin mit Radiostation, das lokale Musik­ schaffende fördert und Aus­ und Weiterbildungsprogramme anbie­tet, wie etwa DJ­-Unterricht und Kurse in Musikproduktion.

„Wir wollten etwas schaffen, das inklu­siv ist und Spaß macht“

Nhạc Gãy ist eins der Kollekti­ve, die an der Spitze dieser neuen Subkultur in Ho­-Chi­Minh­-Stadt stehen. Von Anfang an ging es ihnen darum, ein einzigartiges, queerfreundliches Umfeld zu schaffen und gleichzeitig der viet­namesischen Identität treuzublei­ben. Damit wollte das Kollektiv die Clubszene aufbauen, die sie in ihrer Heimat vermissten: „Wir wollten etwas schaffen, das inklu­siv ist und Spaß macht“, sagte Anh Phi, Mitbegründer des Kollektivs, in einem Interview.

Wir halten uns nicht an Konventionen, oder wir versuchen es zumindest. Gãy ist eine Art zu sagen, dass es in Ordnung ist, wenn Dinge chao­tisch und gebrochen sind.“ Diese Einstellung spiegelt sich auch in ihrer Musik wider. Sie ist häu­fig ein experimenteller Mix aus verschiedenen Genres, darunter Techno und IDM (Intelligent Dance Musik) sowie traditionellen vietnamesischen Klängen.

Die Pandemie setzte der Szene überraschenderweise kein Ende, sondern befeuerte sie sogar noch. Es gab zwar keine Möglichkeit, Raves zu organisieren, doch dafür konzentrierten sich die Künstlerin­nen und Künstler verstärkt darauf, ihre Sounds weiterzuentwickeln. Inzwischen haben sie auch inter­national Anerkennung gefunden. 2022 spielte Nhạc Gãy ein Set bei Boiler Room, einer Onlineplatt­form für internationale Under­ground­-Dance­-Music.

Im selben Jahr gingen sie auf Europatournee und traten vor großem Publikum in Berlin, Mailand und London auf. Die wachsende Szene in Vietnam hat auch Musikschaffende wieder nach Hause gelockt, die einst ins Ausland gezogen waren.

Einer von ihnen ist Lorence V, mit bürger­lichem Namen Vũ Duy Bảo Long, der nach seinem Studium in Euro­pa wieder nach Vietnam zurück­gekehrt ist. Der 1998 geborene DJ und Produzent verbindet melodi­schen Techno mit vietnamesischen Elementen: „Mich fasziniert unse­re reiche Musikgeschichte. Mit dem Mix aus traditionellem vietnamesi­schen Sound und Elektro hoffe ich, diese Klänge für ein junges Publi­kum zugänglicher zu machen und einen Beitrag zum Erhalt unserer Kultur zu leisten“, sagt er.

„Die Pandemie befeuerte die Szene: Künstlerin­nen und Künstler konzentrierten sich darauf, ihre Sounds weiterzuentwickeln“

Der experimentelle Ansatz ist jedoch nur eine Facette dieser neuen Szene. Ein weiterer Aspekt ist die Stärkung der lokalen Com­munity. Bei Ausbruch der Pande­mie initiierten viele der beteiligten Kollektive gemeinnützige Projekte. Mit dem Release der Compilation „Nhạc Gãy Tổng Hợp Số 1“ im Jahr 2020 verband das Kollektiv Aktivis­mus und Musik.

Das Album enthält 14 Tracks verschiedener Künstle­rinnen und Künstler. Mit dem Erlös werden Projekte unterstützt, die die Menschen für das Problem psychi­scher Erkrankungen sensibilisieren sollen – ein Thema, das in Vietnam immer noch tabu ist. Etwa zur glei­chen Zeit startete Nhạc Gãy einen Podcast über mentale Gesundheit.

Auch das multidisziplinäre Kollek­tiv VẤP CỤC ĐÁ verbindet Musik und politisches Engagement: In einer immer noch konservativen Gesellschaft organisieren sie Kon­zerte und Kunst­-Events rund um die LGBTQ­-Community, vor allem für Jugendliche. Auf vielen ihrer Partys gibt es Wettbewerbe im Ball­room­-Stil, ein Novum in Vietnam.

All diese Künstlerinnen und Aktivisten teilen den Wunsch, ein Netzwerk aufzubauen. Sie wollen zukünftige Trendsetter in Vietnam inspirieren und durch den neuen Sound ihre kulturelle Identität stär­ken. Damit bieten sie auch eine Visi­on, wie die Zukunft ihrer Ansicht nach aussehen und klingen sollte.