Mexikos vierte Transformation
Alle Fotos: Miguel Tovar für KULTURAUSTAUSCH
Vor sechs Jahren begann der damals neue Präsident Andrés Manuel López Obrador seine Amtszeit mit einem großangelegten Reformprogramm, das als „vierte Transformation“ oder kurz „4T“ bekannt ist. Dieser wirtschaftspolitische Prozess war für ihn nicht weniger als ein großes Kapitel in der Geschichte Mexikos: das vierte nach dem Unabhängigkeitskampf bis 1821, dem Bürgerkrieg um die liberale Verfassung von 1857, und der Mexikanischen Revolution, die bis 1920 tobte.
Trotz der Pandemie hat Obrador eine positive Wirtschaftsbilanz vorzuweisen: mit einem „Super-Peso“, der in den letzten Jahren gegenüber dem Dollar um etwa 16 Prozent an Wert gewonnen hat, einem niedrigen, aber stabilen Wirtschaftswachstum von durchschnittlich drei Prozent und einem Rückgang der Armutsquote von fast 44 auf 36 Prozent der Bevölkerung. Obradors Regierung geht nun zu Ende, doch mit der Wahl von Claudia Sheinbaum zur neuen Präsidentin haben sich die Mexikanerinnen und Mexikaner für eine Fortsetzung von Obradors Kurs entschieden.
Die neue Präsidentin muss jedoch etliche Probleme angehen: die Korruption grassiert, ebenso wie Straflosigkeit und Gewalt. So gelten in Mexiko mehr als 110.000 Menschen als „verschwunden“. War Obrador mit dem Motto „Die Armen zuerst“ angetreten, so lautet eines von Sheinbaum nun: „Wir alle schaffen es!“, und als erste Frau, die dieses Amt antritt, weckt sie Hoffnungen. Vor allem ärmere, unterprivilegierte Mexikanerinnen und Mexikaner haben sich bei den Präsidentschaftswahlen im Juni 2024 für sie – und damit für Kontinuität – entschieden. Wie haben sie die erste Phase des 4T-Pogramms erlebt? Was wünschen sie sich für die nächste?
Austreberta Casales kommt mit drei Mobiltelefonen zu unserem Treffen. Vor ein paar Monaten hat sie mit ihrem Sohn ein Geschäft für Handyservice und -zubehör eröffnet. Doch heute mussten sie ihren Laden schließen. Der Verkauf lief schlecht, sie können die Miete nicht mehr bezahlen. Entmutigen lässt sie sich davon aber nicht. Dann wird sie eben ohne Geschäftsräume Handyhüllen, Akkus und Displays austauschen, sagt sie.
Mit 64 Jahren sprüht Austreberta vor Energie. Jahrzehntelang war sie Verwaltungsangestellte in der Musikindustrie, als der Verkauf von CDs noch Geld brachte. Wegen gesundheitlicher Probleme gab sie den Job auf, doch ohne Rente muss sie trotzdem irgendwie über die Runden kommen. Sie hat es mit vielen Unternehmen probiert und plant aktuell die Eröffnung eines Waschsalons.
Ein heißer Nachmittag in der Colonia Guerrero, im Zentrum der Hauptstadt. Eine beliebte, aber auch verrufene, durch Gewalt geprägte Gegend, ein Arbeiterviertel mit Straßenmärkten und Tianguis, fliegenden Händlern. Es ist laut, es fahren viele Autos und Motorräder. Überall hört man Stimmen und Musik, hinter jeder Tür verbergen sich Welten, Innenhöfe, um die herum sich bis zu zwanzig Gebäude gruppieren.
Hier lebt Austreberta, ihre Tür führt auf eine Sackgasse hinaus, in der jeder weiß, wer kommt und geht. Sie legt ihre Schlüssel auf den Tisch, setzt sich und streichelt ihr Hündchen Cristal. Sofort kommen auch Princesa, Padme und Güera angerannt, die drei Welpen. Ihr Schoß bietet kaum genug Platz für alle, doch Doña Austre lächelt glücklich zwischen ihren sandfarbenen Chihuahuas.
Sie sei von der Regierung López Obrador überrascht worden, sagt sie. Die universelle Rente für Ältere findet sie gut, auch wenn sie selbst sie noch nicht bezieht. „Vorher waren wir alle ziemlich hilflos“, erklärt sie. Sie möchte, dass diese Politik fortgesetzt wird:
Die neue Präsidentin Claudia Sheinbaum hat eine Rente für Frauen zwischen sechzig und 64 Jahren angekündigt. Das finde ich großartig, denn wir geben alles für unsere Kinder und haben am Ende nichts [...]. Eine große Hilfe, weil wir Älteren von unseren Kindern abhängig sind, jetzt haben wir wenigstens etwas zu essen. Arbeit finden wir auch keine mehr, für Ältere gibt es keine Jobs. Die Stipendien für Studierende sind ein Ansporn, einen Abschluss zu machen oder zur Schule zu gehen. Viele tun das nicht, weil ihnen die Schulsachen fehlen. Jetzt wird es weniger Abbrecher geben, und wir können die Bildung weiter ausbauen, wir brauchen gebildete Leute, die wissen, wie man das Land verändert.
Austreberta wird bald 65. Sie freut sich sehr darauf, weil sie dann die Rente beantragen kann. Die Unterstützung bedeutet für sie mehr als Geld: Sie ist ein Signal, dass man den Alten den Rücken stärken will. Denn „manchmal spüren wir das Leben nicht mehr, wir sind nur noch zu Hause. Wir leben nur für ein langes Leben und wollen uns nicht mehr bewegen. Mit dem Geld, das ich dann bekomme, werde ich ins Kino gehen, etwas für mich tun [...]. Wir haben das Recht auf ein ruhiges Leben und darauf, unsere Kinder nicht anbetteln zu müssen.“
Eutiquia García arbeitet beinahe schon ihr ganzes Leben lang. Mit zwölf hat sie angefangen, heute ist sie 52 Jahre alt. So wie viele Mädchen vom Land hatte sie keine Möglichkeit zu studieren. Sie musste als Teenager die Schule beenden und einen Job finden, um ihre Familie und sich selbst zu ernähren. Die Bauerntochter, zweites von 14 Geschwistern, schuftete in der Montage, in einer Tortilla-Fabrik und in einem Restaurant. Mit 15 zog sie in die Stadt, putzte in Privathaushalten, wie Millionen andere Landmädchen auch. Hausarbeit ist ihr Beruf.
Eine Branche mit einer langen Geschichte von Ungerechtigkeiten: niedrige Löhne, Rassismus, an Sklaverei grenzende Misshandlungen. Einer Arbeitgeberin gefiel Eutiquias Name nicht, sie verlangte von ihr, ihn zu ändern, weil sie schließlich die Herrin über ihr Leben sei.
Trotz allem hat sie jeden ihrer Jobs gerne gemacht. Sie hat drei Kinder großgezogen, als Erwachsene einen Schulabschluss nachgemacht und ist jetzt dabei, sich eine Wohnung zu kaufen, mit einem Darlehen der Hauptstadtregierung. Sie wohnt in der Zona Sur, im Süden, und fährt jeden Tag lange Strecken mit dem Bus zur Arbeit; bei ihr zu Hause, in den Straßen am Hügel, kann man den nahen Wald schon riechen.
Interviews machen Euti nervös. Es strengt sie an, in ihrem begrenzten Wortschatz nach den richtigen Worten zu suchen. Ihre Antworten lassen auch erahnen, wie viel Rassismus sie in ihrem Leben bereits erfahren hat. Doch wenn es um die Wahlen geht, ändert sich ihr Ton und sie antwortet selbstsicher: Sie habe immer gewählt. Und, fügt sie hinzu, hier, wo es jahrzehntelang Wahlbetrug auf Kosten der Armen gegeben habe, „habe ich meine Stimme nie verkauft“.
Wie hat sich das 4T-Programm auf dich und deine Familie ausgewirkt? Es geht uns besser. Andrés Manuel [López Obrador] hat das Land verändert. Ich bekomme keine Unterstützung von der Regierung, aber meine Mutter erhält Altersrente. Sie, ihr Mann und mein Vater, sie alle bekommen jetzt die neue Rente, und vorher hatten sie nichts. Das hilft ihnen mit den Feldern, der Aussaat, ihrer Ernährung. Mein Enkel Santiago bekommt ein Stipendium, er geht auf eine öffentliche Schule, er wird seit dem Kindergarten vom Staat unterstützt. Mit dem Geld kaufen sie jeden Monat seine Schulsachen, Uniform, und was er sonst so braucht.
Was hat sich noch verbessert? Die Löhne. Der Mindestlohn wird jetzt jährlich angehoben, früher blieb er drei oder vier Jahre lang unverändert. Jetzt wird er jedes Jahr erhöht.
So wie viele Menschen aus einfachen Verhältnissen spricht Eutiquia offen über ihre Unterstützung für 4T. Das ist neu, früher hatten viele Menschen Angst, ihre politische Meinung zu äußern. Danach befragt, was ihr nicht gefällt oder worüber sie sich mit Blick auf die Zukunft Sorgen macht, nennt sie drei Dinge.
Erstens, die Korruption. Sie kennt Menschen, die nicht arbeiten, aber trotzdem am Programm „Jóvenes Construyendo el Futuro“ („Jugendliche erschaffen die Zukunft“) teilnehmen, das den Einstieg in den ersten Job erleichtern soll. Sie möchte, »dass das Programm stärker kontrolliert wird, es gibt Jugendliche, die es wirklich brauchen«. Ihre zweite Sorge gilt der Sicherheit, „weil Leute umgebracht werden. Das soll sich ändern. Auf der Straße will ich sicher sein.“ Als Drittes nennt sie das Gesundheitssystem: „Dass man im Krankenhaus auch mal drankommt, und nicht schlecht behandelt oder weggeschickt wird. Bei der Gesundheit brauchen die Menschen mehr Rechte.“
Seit 2023 ist die Sozialversicherung für häusliche Berufe verpflichtend. Eutiquia war bereits abgesichert, als die neue Politik zur besseren Wertschätzung von Hausangestellten eingeführt wurde – ihre Arbeitgeber zahlten für sie bereits Abgaben für die Altersvorsorge und die Krankenversicherung. So konnte sie eine notwendige Operation durchführen lassen und mehrere Krankenhausaufenthalte bezahlen.
Eutiquia leidet unter einer Autoimmunerkrankung. Vor zwei Monaten musste sie ins Krankenhaus. Sie wurde stabilisiert, wartet aber seit mehr als einem Monat auf einen Termin bei einem Hämatologen. Im öffentlichen Krankenhaus, in dem sie behandelt wird, arbeiten in diesem Bereich keine Spezialisten mehr.
Raúl Ramírez Florido ist 65 Jahre alt und hat im Alter von 14 Jahren angefangen zu arbeiten. Seit etwa vierzig Jahren verkauft er auf dem Markt von Coyoacán Lebensmittel: Käse, Eier, Tostadas, Bohnen, Getreide, Konserven, Milch, Nudeln, Kaffee und vieles mehr, von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends, sechs Tage die Woche. Mittwochs hat er eine Pause. Es ist ein anstrengendes Leben.
Raúl scheint gut informiert zu sein und kommentiert für seine Kunden die politische Lage in Mexiko und im Ausland. Was denkst du über den Sieg von Javier Milei?“, fragt er mich nach den Wahlen in Argentinien. Was das mexikanische Zeitgeschehen betrifft, so interessiert er sich besonders für die kritischen Nachrichten über die Regierung López Obrador. Mit der 4T ist er überhaupt nicht einverstanden.
Wie sehen Sie die derzeitige Situation in Mexiko? Widersprüchlich. Wirtschaftlich ist das Land mehr oder weniger stabil, aber es gibt eine starke soziale Polarisierung und keine gemeinsame Basis mehr. Dagegen hat der Präsident etwas unternommen. Aber er hat auch die Sozialprogramme genutzt, um im Amt zu bleiben; das finde ich nicht richtig, die werden nach dem Gießkannenprinzip verteilt [...], bei den Schülern macht es für mich keinen Sinn, dass sie einfach ein Stipendium vom Kindergarten bis zur Oberstufe bekommen, die meisten brauchen es nicht und haben es nicht verdient. Es gibt Kinder, die tun alles, was sie können, um zu lernen, und andere, die das nicht tun. Ich denke, ein Stipendium muss eine Belohnung für Anstrengung oder eine soziale Hilfe sein.
Was meinen Sie mit Polarisierung? Der Präsident hat gesagt: 'Jeder, der nicht für mich ist, ist gegen mich'. Die Polarisierung ist ausgeprägt, und die Leute sind sehr, sehr dumm. Er hat die Studenten, die Mittelschicht und auch die Intellektuellen beleidigt. Er hat Programme gekürzt, Treuhandfonds abgeschafft, er hat viele Dinge abgeschafft, die die Intellektuellen, die Studenten und die Mittelschicht direkt betreffen, und trotzdem haben viele von ihnen für ihn gestimmt!
Raúl redet sich in Rage, während er seine Meinung über López Obrador kundtut, aber er genießt auch die Diskussion. „Heute kommt er mit der Idee, dass zwanzig Reformen gut wären, und alle reden schon von Reformen! Nein! Warum gibt er die Tagesordnung vor? Ignorieren Sie ihn, und das war's.“ Raúl ist der Meinung, dass die Regierung „gleich oder schlechter“ ist als die vorherige. Als Beispiel nennt er den Bau des Flughafens in Texcoco, ein Projekt des ehemaligen Präsidenten Enrique Peña Nieto, das Obrador mit der Begründung abgesagt hat, es habe Korruption gegeben und öffentliche Gelder seien verschwendet worden. Im Gegenzug erwähnt Raúl die jüngste Erweiterung des Flughafens in Santa Lucía, die Obrador ebenfalls beschlossen hat, bei der es aber ebenfalls Korruptionsvorwürfe gab. Raúl sagt, dass „die gleichen Unternehmen immer noch für die Regierung arbeiten, im Klartext: die Mafia der Mächtigen, wie López Obrador sie nennt, arbeitet immer noch mit ihm und für ihn“.
Auch von Claudia Sheinbaum, der ersten Frau im Amt des Präsidenten, ist Raúl nicht besonders begeistert. Er glaubt, dass López Obrador auf diese Weise weiterhin die Politik diktieren und sich „an der Macht verewigen“ wird. Dann kommen noch ein paar Kunden und Raúl hat keine Zeit zum Reden, er geht wieder an die Arbeit.
Verónica Razo wurden 4593 Tage gestohlen. Am 8. Juni 2011 wurde sie von Polizeibeamten in Zivil verschleppt und sexuell, physisch und psychisch gefoltert, bis sie ein Geständnis unterschrieb. Man fabrizierte ein Verbrechen, das sie begangen haben sollte. Eine Praxis, der im sogenannten „Krieg gegen Drogen“ Tausende Menschen zum Opfer fielen, auch weil die Behörden vermeintliche Erfolgsmeldungen veröffentlichen wollten und entsprechende – gefälschte – Statistiken benötigten.
Mehr als zwölf Jahre saß Verónica unschuldig im Gefängnis. Vor einem halben Jahr wurde sie freigesprochen und lebt seitdem wieder in Freiheit. Sie ist noch arbeitslos und versucht, die stark veränderte Welt zu verstehen. Mit 4T ist sie nicht restlos einverstanden, „einige Ansätze sind gut, andere nicht“.
Sie macht sich Sorgen um die Wirtschaft, die Arbeit und die Gesundheit, „vor allem wegen des Medikamentenmangels“. Auch das Thema Gerechtigkeit beschäftigt sie. López Obrador gab 2020 zu, dass Tausende von Menschen zu Unrecht in Haft saßen, aufgrund von Verfahrensfehlern, Diskriminierung oder willkürlichen Verhaftungen. Oder, wie bei Verónica, wegen erfundener Verbrechen. Er versprach eine Amnestie, die aber nie in Kraft trat. Verónica hat „die Hoffnung aufgegeben. Ich würde mir wünschen, dass sich viele Dinge ändern, aber ich weiß, es wird nicht geschehen.“
T4 beinhaltet eine Justizreform, bei der die Richter vom Volk gewählt werden, wie denkst du darüber? Das wäre wunderbar. Denn die Richter fühlen sich unantastbar. Auch wenn das Gesetz eindeutig ist, machen sie, was sie wollen. […] Sie kritisieren sie [die mögliche Reform], weil sie ihnen nicht passt, weil sie ihren Cousins, Freunden oder Nachbarn weiterhin Ämter zuschieben oder Probleme mit viel Geld lösen wollen. Das ist Bürokratie und Korruption. Ich hoffe, dass Claudia die Projekte für echte Veränderungen umsetzen kann, für die sie mit ihrem guten Ergebnis belohnt wurde. Aber unter dem Blick einer kritischen Öffentlichkeit!
Richter und Richterinnen sollen gewählt werden. Das wäre gut, sonst kann ihnen ja keiner die Ämter wieder wegnehmen. Richter haben kein Einfühlungsvermögen und wissen nicht, was sie tun. Du bist nur eine Akte, und solange sie bezahlt werden, ist ihnen der Rest egal.
Die Richter, die über Verónicas Schicksal entschieden haben, sind ihr in elf Jahren nicht einmal begegnet. Sie haben ihr nie ins Gesicht gesehen und nicht mit ihr gesprochen. Unzählige Male bat sie um eine Anhörung und erhielt stets die gleiche Antwort: „Keine Zeit!“
Angélica Jazmín Navarro Arroyo, 36 Jahre alt, klein, wirkt zerbrechlich. Durch die chaotische Metropole von Mexiko-Stadt fährt sie mit ihrem Motorrad. „Das ist doch nicht groß, gerade mal 150 Kubikzentimeter“, sagt sie lachend und spielt ihren Wagemut herunter. Sie ist Fotografin mit einem Abschluss in Kommunikation, arbeitet in der öffentlichen Verwaltung und entwirft Strategien, um Frauen vor Gewalt zu schützen. Eine schwierige Aufgabe in einem Land, in dem Machismo, Ungleichheit in der Arbeitswelt und zehn Femizide pro Tag als normal gelten.
Angie hat mit dem Thema selbst ganz persönliche Erfahrungen. Ihr Vater hat ihre Mutter umgebracht. Zwei Tanten teilten sich die Betreuung der jüngeren Geschwister, sie, die Älteste, ließ man allein in der Hauptstadt zurück. Da war sie Teenager. Sie erzählt offen ihre Geschichte, macht sich dabei nicht zum Opfer. Sie spricht ganz unaufgeregt darüber, was ihr widerfahren ist. Auch mit ihrer Bewunderung für López Obrador hält sie nicht hinter dem Berg: »Er ist jemand, dem viel Schaden zugefügt wurde, der oft betrogen wurde, und so ist er zum Gesicht all derer geworden, denen man Ähnliches angetan hat.«
Sie hebt hervor, dass der Präsident, als die Pandemie das Land heimsuchte, „improvisieren musste, und aus meiner Sicht hat er das sehr gut gemacht und das Land nicht verschuldet“. Sie betont die Fortschritte, ohne die Realität aus den Augen zu verlieren: „Man kann in sechs Jahren nicht wiedergutmachen, was in 36 Jahren Neoliberalismus schiefgelaufen ist, oder in 200 Jahren ausbeuterischer Herrschaft.“
Angie spricht offenkundig aus eigener schlimmster Erfahrung: „Meine Mutter wurde ermordet, als ich 16 Jahre alt war. Allein volljährig zu werden, auf Jobsuche zu gehen und die Schule wiederaufzunehmen, das war hart. Ich war unsichtbar.“ Doch es waren Leute aus Obradors Regierung, die Angie halfen: »Sie sagten mir, sie hätten Arbeit für mich.« Kennengelernt haben sie Angélica, damals eine arbeitslose Aktivistin, bei einer Veranstaltung. Und sie haben ihr eine Stelle in der öffentlichen Verwaltung angeboten.
Was hältst du von den Sozialprogrammen? Sie können viel bewirken. Während meines Studiums musste ich arbeiten. Das war sehr schwierig [...]. Nach dem Mord an meiner Mutter kam mein Vater ins Gefängnis. Ich war also allein. Manchmal musste ich kalkulieren: ,Ich kann mir eine Dose Thunfisch leisten, aber ich habe eine Prüfung, also esse ich sie nachmittags, damit ich besser durch die Prüfung komme.‘ Das war meine Realität. Ich hatte ein Exzellenzstipendium, und damit habe ich mir den Thunfisch gekauft. Von meinem Arbeitslohn musste ich die Miete bezahlen [...]. [Stipendien] sehe ich als eine Investition in junge Menschen, damit sie nicht hungern müssen. Und wenn man das als Ausgabe betrachten will, ist es doch besser, hierfür Geld auszugeben als für gewisse exzentrische Eskapaden, wie sie Mexiko unter früheren Regierungen erlebt hat.
Angélica ist mit ihrer gegenwärtigen Situation zufrieden und damit, dass sie diesen historischen Moment miterleben kann. Sie spricht mit Blick auf 4T von einem Wandel mit unsicherem Ausgang. Von der neuen Präsidentin erhofft sie sich eine klare und direkte Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern – und: „Ich würde mir wünschen, dass sie die Art, wie wir arbeiten, reformiert.“ Mit anderen Worten, eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit von derzeit 48 auf vierzig Stunden, ein weiterer Punkt, der im Rahmen von 4T vorgesehen ist.
Was bedeutet es für dich und dein Land, dass zum ersten Mal eine Frau Präsidentin wird? Ich denke, das wirft ein neues Licht auf diese Macho-Dynamik, die wir nach wie vor zu Hause, am Arbeitsplatz und auf den Straßen erleben. Wenn sie als Präsidentin eine Konferenz besucht, ein Dekret erläutert oder durchs Land reist, wird Mexiko vor der großen Herausforderung stehen, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, nicht auf das, was sie trägt. Einmal wurde sie wegen eines Hosensaums kritisiert, der mit einer Klammer befestigt war [...].
Wir haben bereits seit 2018 ein paritätisch besetztes Kabinett und zehn Gouverneurinnen, also bei uns gibt es bereits Frauen in Machtpositionen. Sie mussten allerdings oft eine männliche Haltung an den Tag legen, um sich zu behaupten, sie mussten selbst ein bisschen zu Männern werden. Ich denke, der „Doctora Claudia“ wird es ähnlich ergehen. Sanftheit kann man jetzt von ihr noch nicht erwarten. Erst einmal brauchen wir ein Symbol, und schon die Tatsache, dass sie als Frau auf dem Stuhl des Präsidenten Platz nimmt, ist ein Symbol. Der erste Schritt ist gemacht.