Wassermangel | Mexiko

Mexiko-Stadt: Auf Wasser warten

Die Metropole leidet unter ihrer bisher schlimmsten Wasserkrise, die Haupt­ursachen sind Dürre und Leckagen. Millionen Familien sind auf die Versor­gung durch Tankwagen angewiesen

Im Innenhof von Eréndira López stehen keine Blumenkübel mehr, sondern zwei riesige Wassertanks. Die 67-Jährige musste sich von all ihren geliebten Pflanzen trennen, um die beiden Wasserbehälter mit einem Volumen von 1.100 und 600 Litern aufzustellen. Doch die Tanks sind fast immer leer. Seit über einem Monat kommt kein Tropfen mehr aus dem Hahn, und wenn das Wasser für ein oder zwei Stunden angestellt wird, schläft Eréndira manchmal oder ihre Kinder sind außer Haus, bei der Arbeit. Allein kann sie die Eimer nicht tragen. „Wozu sollte ich Pflanzen haben, wenn ich sie nicht gießen kann? Das wenige Wasser, das wir haben, geht fürs Duschen und Geschirrspülen drauf“, erklärt sie.

„Wozu sollte ich Pflanzen haben, wenn ich sie nicht gießen kann? Das wenige Wasser, das wir haben, geht fürs Duschen und Geschirrspülen drauf“

Ihre einzige Chance, an Wasser zu kommen, ist die Verteilung über die sogenannten „Pipas“, Tanklastwagen, die die Stadtverwaltung in Iztapalapa losschickt, dem mit zwei Millionen Einwohnern am dichtesten besiedelten Bezirk von Mexiko-Stadt. Um einmal wöchentlich einen dieser Tankwagen zu bestellen, muss man sich morgens um fünf Uhr an einem der vielen Tische anstellen, an denen Beamte die Verteilung organisieren. Allein in Eréndiras Siedlung werden täglich 200 Lastwagen für 14.000 Haushalte bereitgestellt. „Wir können mit der Nachfrage selten Schritt halten, das macht die Leute wütend“, gibt einer der Beamten zu. Der improvisierte Außenposten der Stadtverwaltung, der sich mitten auf der Hauptstraße befindet, wird von einer Polizeistreife bewacht, weil die Anwohner häufig verzweifeln und aggressiv werden.

Eréndira wurde gesagt, dass der Tankwagen heute jeden Moment eintreffen kann, also verbringt sie den ganzen Morgen zu Hause. Sie will „die wundersame Ankunft des Wassers“, wie sie es nennt, nicht verpassen. Manchmal kommt der Truck, manchmal nicht. Dann muss sie zurück zur Verteilerstelle und erneut auf eine Lieferung drängen. Wasser zu ergattern, ist zu ihrem wichtigsten Tagesziel geworden. Heute zum Beispiel hätte sie einen Arzttermin gehabt, doch den musste sie absagen. In der beengten Küche schwirren Fliegen um die seit Tagen nicht gespülten Teller und Gläser. Es stinkt, weil Eréndira auch das Bad nicht putzen konnte. „Der Reichtum der Armen ist ein sauberes Haus. Nur weil wir arm sind, müssen wir doch nicht im Dreck leben“, klagt sie. Iztapalapa ist der drittärmste und zugleich der bevölkerungsreichste Bezirk der mexikanischen Hauptstadt. In sieben von zehn Haushalten können die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Grundbedürfnisse, darunter der Zugang zu sauberem Wasser, nicht befriedigen.

„Der Reichtum der Armen ist ein sauberes Haus. Nur weil wir arm sind, müssen wir doch nicht im Dreck leben“

Das Gespräch bricht ab, als Eréndira in der Ferne den dröhnenden Motor eines Tankwagens hört, der durch das Labyrinth der Vorortstraßen donnert. Mehrere Nachbarn stehen in ihren Türen, um den Fahrer zum Anhalten aufzufordern. Manche Familien stellen sich sogar vor die Wagen, um sie zum Stoppen zu zwingen. Eigentlich ist der öffentliche Lieferservice gratis, doch die „Piperos“ verlangen meist etwas dafür. „Das ist nicht viel, eben so viel, wie sie uns freiwillig geben wollen. Unsere Arbeit wird immer riskanter. Wir müssen ja auch etwas verdienen“, rechtfertigt sich ein Fahrer, der anonym bleiben möchte. Nach Auskunft einiger seiner Kollegen blockieren Leute aus der Nachbarschaft die LKWs auf offener Straße, als Druckmittel, damit ein weiterer Truck losgeschickt wird. Ein paar Piperos wurden sogar schon mit vorgehaltener Waffe entführt und gezwungen, einen bestimmten Ort anzusteuern.

Nach einer halbstündigen Wasserlieferung ans Nachbarhaus ist Eréndira an der Reihe. Sie bietet dem Fahrer etwas zum Essen an, selbst gebackene Kekse und ein Erfrischungsgetränk. Er nimmt dankend an und führt den Schlauch durch das Metalltor und die Garage in den kleinen, etwa zwanzig Quadratmeter großen Innenhof, wo er zahlreichen Eimern, Fässern und Wannen ausweichen muss, die die Seniorin aufgestellt hat, um bloß keinen Tropfen der Lieferung zu verschwenden. Doch das Wasser, ungefähr 500 Liter, reicht noch nicht einmal aus, um den großen Tank bis zur Hälfte zu füllen. Es wird nur zwei oder drei Tage reichen. In den drei Zimmern des selbst gebauten Hauses lebt Eréndira mit ihrem Mann, zwei ihrer Kinder und deren Partnern sowie vier Enkelkindern. „Das ist unverzeihlich. Die wollen uns umbringen mit dieser ständigen Angst vor dem Austrocknen“, klagt sie, den Tränen nahe.

„Die Wasserknappheit in Iztapalapa ist ein historisch gewachsenes Problem“

Die Wasserknappheit in Iztapalapa ist ein historisch gewachsenes Problem, zurückzuführen auf Überbevölkerung, unkontrolliertes Bauen, Marginalisierung und die geografische Lage im Osten der Stadt. Denn das Viertel ist weit entfernt vom Cutzamala-System, benannt nach dem gleichnamigen Fluss. Das ist eine gigantische hydraulische Infrastruktur mit Dämmen, aus der sich das Wasser für vierzig Prozent der Hauptstadtbevölkerung speist. Die anderen sechzig Prozent werden mithilfe Hunderter unterirdischer Brunnen versorgt. Die extreme Dürre im vergangenen Jahr, dem wärmsten und trockensten Jahr seit sieben Jahrzehnten, hat den Mangel noch verschärft; die Wasserrationierung erstreckt sich jetzt sogar auf die wohlhabenden Stadtviertel. Der letzten offiziellen Umfrage zufolge steht nur 52 Prozent der Haushalte im Stadtgebiet durchgehend Wasser zur Verfügung, zehn Prozent weniger als noch vor vier Jahren. In Mexiko-Stadt ist die Versorgungsrate in den letzten 25 Jahren um mehr als die Hälfte zurückgegangen.

In den drei Talsperren, die das Cutzamala-System speisen, ist der Wasserspiegel im Laufe des Jahres konstant gesunken. Die Behörden hatten schon vor einem möglichen „Tag null“ gewarnt, an dem das Wasser unter den Speicherstand von zwanzig Prozent des Durchschnittslevels sinken würde und sich der Bedarf der Stadt nicht mehr decken ließe. Am 19. Juni diesen Jahres erreichte das Wasser mit 21 Prozent seinen Tiefststand. Dankbarerweise setzten danach Regenfälle ein, sodass sich die Wasserstände leicht erholten.

„Je stärker der Pegel in den Talsperren sinkt, desto schlechter ist die Wasserqualität“, erklärt Jorge Fuentes, Direktor der Bürgerinitiative Consejo Consultivo del Agua. „Das Wasser in Bodennähe enthält Schlamm und Schadstoffe und kann mit der derzeitigen Infrastruktur nur schwer in Trinkwasse umgewandelt werden. Dasselbe passiert in den Brunnen: Wir holen das Wasser aus immer größeren Tiefen hoch, über einen Kilometer, und jedes Mal ist es stärker verunreinigt.“ Die Bürgerinitiative fordert daher von der Bundesregierung unter anderem, die Wasserqualität umfassend und transparent zu überwachen.

„Geschätzte vierzig Prozent des Leitungswassers gehen aufgrund von Lecks unterwegs im System verloren“

Es gibt keine entsprechende wissenschaftliche Analyse, aber nur eine Minderheit der Menschen in Mexiko glaubt, dass das Trinkwasser ihrer Stadt sicher ist. Eréndira zum Beispiel sagt, dass jenes aus den Tankwagen immer schmutziger wird, und zapft als Beweis ein Glas offensichtlich verunreinigter Flüssigkeit ab. Sie selbst trinkt deshalb seit über drei Jahren Wasser nur noch aus Flaschen. Angesichts ihrer schrumpfenden Haushaltskasse ist das eine große Herausforderung. Wie so viele Familien in Mexiko, dem Land mit dem höchsten Verbrauch an abgefülltem Wasser, gibt sie ein Fünftel ihres Einkommens für Wasserkanister aus.

Der Klimawandel ist nicht die einzige Ursache für die Wasserknappheit in der mexikanischen Hauptstadt. Geschätzte vierzig Prozent des Leitungswassers gehen aufgrund von Lecks unterwegs im System verloren. Ein Großteil dieser Schäden an den Wasserleitungen wird durch die vielen Erdbeben und Bodenabsenkungen verursacht – die Metropole wurde einst über einem See erbaut. Eine weitere Ursache sind die sich häufenden Wasserdiebstähle, illegale Entnahmen aus dem System.

„Jorge Fuentes jedoch sieht den Hauptgrund für die Verschlechterung darin, dass nicht genug investiert wird“

Jorge Fuentes jedoch sieht den Hauptgrund für die Verschlechterung darin, dass nicht genug investiert wird und dass die Institutionen immer weniger Interesse haben, sich mit dem Problem zu befassen. In diesem Jahr etwa hat die Bundesregierung das Budget der nationalen Wasserkommission Conagua um 13 Prozent gekürzt. „Mexiko investiert weniger als ein halbes Prozent des BIP in eine gesicherte Wasserversorgung und -verteilung, obwohl die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik, ECLAC, eine Investition von mindestens 1,3 Prozent empfiehlt“, sagt Jorge Fuentes, der Experte für Wassersicherheit.

Im vergangenen Wahlkampf stand das Thema Wasserknappheit ganz oben auf der politischen Agenda. Doch weder lokale noch nationale Behörden haben unsere Interviewanfragen zum Thema beantwortet. „Was man nicht sieht, das bringt keine Stimmen“, bekräftigt Adrian Cordero, der Gründer von Tubepol, einem Unternehmen, das sich auf die Sanierung von Wasserinfrastrukturen spezialisiert hat. „Deshalb kümmern sich die Regierungen nicht um die Instandhaltung der unterirdischen Rohre, die außerdem auch sehr teuer ist.“ Seine Firma erhielt in diesem Jahr aufgrund der Medienberichterstattung während des Wahlkampfs landesweit doppelt so viele Aufträge von der Bundesregierung wie noch im letzten Jahr. Doch er schätzt, dass allein in Mexiko-Stadt eine Investition von 70 Milliarden Pesos (etwa 3,5 Milliarden Euro) nötig wäre, um die Wasserkrise zu bewältigen.

„Eine weitere Lösung für die Wasserknappheit könnte darin bestehen, mehr Wasser aufzufangen“

Der Chemieingenieur weist darauf hin, dass es keinen strategischen Plan für die Entwicklung und Bewirtschaftung des Wassers gibt. Er setzt daher stärker auf Vorbeugung und möchte erreichen, dass mögliche Ausfälle schneller erkannt werden. „Man kann keine Rohre an einer stark befahrenen Hauptstraße austauschen, das würde zu viel Chaos erzeugen“, sagt er und benennt damit einen weiteren Grund, warum die Behörden das Problem lieber ignorieren. Tubepol dagegen möchte durch den Einsatz innovativer Technologie verhindern, dass der Boden überhaupt erst aufgegraben werden muss. So werden etwa mit Harz versetzte Glasfaserrohre in das beschädigte Rohr eingeführt und anschließend aufgeblasen. Adrian Cordero versichert, dass deren Lebensdauer mehr als fünfzig Jahre beträgt.

Eine weitere Lösung für die Wasserknappheit könnte darin bestehen, mehr Wasser aufzufangen. Das hieße die Wälder aufzuforsten, die zur Bildung von Wolken beitragen und Niederschläge für das Grundwasser filtern. Doch die Ausweitung solcher Waldgebiete ist in einem ständig wachsenden Ballungsgebiet mit 23 Millionen Einwohnern schwierig.

Die Architektin Loreta Castro hat sich daher überlegt, wie man den Waldeffekt in eine urbane Umgebung integrieren kann. „Alle öffentlichen Räume können Teil der Wasserinfrastruktur sein. Zum Beispiel, indem man aus Parks Zisternen für die Anwohner macht“, sagt sie. Ihr bisher größtes abgeschlossenes Projekt ist eine Reihe von Filterterrassen im Parque Bicentenario im Stadtteil Ecatepec am nordöstlichen Rand von Mexiko-Stadt. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie Schotterterrassen vor einem Fußball- oder Baseballfeld, doch sie dienen dazu, Wasser aufzunehmen, das dann im Boden versickern kann.

„In Mexiko-Stadt haben wir die paradoxe Situation, dass es einen Überschuss an Regenwasser und zugleich einen Mangel an Trinkwasser gibt“

„In Mexiko-Stadt haben wir die paradoxe Situation, dass es einen Überschuss an Regenwasser und zugleich einen Mangel an Trinkwasser gibt. Die Niederschläge konzentrieren sich auf fünf Monate im Jahr (Juni bis Oktober) und fallen dann sintflutartig. Die Stadt ertrinkt im Wasser und ist nicht in der Lage, diese Ressource zu nutzen“, sagt Castro über die Niederschlagsverteilung, die ihrer Meinung nach großes Potenzial für die Stadt bietet. Ihr Büro für nachhaltige Architektur, Taller Capital, hat zehn Projekte zur Lösung des Wasserproblems entwickelt.

Ein weiterer bereits umgesetzter Entwurf sind die Wasserpavillons, große Dächer, die das Regenwasser auffangen. Sie stellen eine kurzfristige Lösung dar, die Castro gerade für Privathaushalte nützlich findet. Die Hauptstadtregierung hat in den letzten fünf Jahren mehr als 80.000 dieser Systeme installiert, aber noch keine langfristigen Maßnahmen ergriffen. „Wir haben dem Regenwasser den Rücken zugekehrt. Wir halten an der Idee fest, es aus der Stadt zu entfernen, wir betrachten es immer noch als Feind“, sagt die Architektin.

„Früher lieferten die Tanklaster wöchentlich, doch seit April nur noch alle zwei Wochen.“

Der Parque Bicentenario war zuvor ein verlassener, eingezäunter Streifen, der das Viertel zerschnitt. Jetzt ist es, dank des Auffangbeckens von Loreta Castro, ein Raum des Miteinanders und der Erholung. Hunderte Familien aus Ecatepec können hier für einen Moment vergessen, dass sie in einer der Gemeinden Mexikos leben, in der sich die Menschen am unsichersten fühlen. Ángela Hernández kommt jeden Sonntag hierher, um das Fußballspiel zu sehen und etwas spazieren zu gehen. Sie wohnt in einer der Favelas in der Nähe des Parks und ist eine der wenigen, die noch kein Leitungswasser haben. Früher lieferten die Tanklaster wöchentlich, doch seit April nur noch alle zwei Wochen. Außerdem hat sich der Preis für das Auffüllen der Wassertanks verdoppelt. „Am Tag der Lieferung muss ich den ganzen Tag damit verbringen, dem Tankwagen hinterherzulaufen, damit er nicht bei anderen Häusern stehen bleibt. Sonst kommt bei uns nichts mehr an“, sagt die fünfzigjährige Hausfrau.

Die tausend Liter, die sie erhält, sind in der Regel innerhalb von zwei Wochen aufgebraucht. Im Badezimmer ihrer aus Holz und Blech gebauten Hütte stehen mehrere Eimer, mit denen sie das Duschwasser auffängt, um es wiederzuverwenden. Mit dem Abwasser der Waschmaschine wischt sie die Böden. Dennoch können sie, ihr Mann und ihre beiden Kinder wegen der Wasserknappheit oft drei Tage hintereinander nicht duschen. „Das ist sehr bedrückend, an solchen Tagen gehe ich nicht zum Fußballspiel, weil ich mich schäme“, sagt sie. Sie hofft auf ein weiteres Regenauffangbecken von Loreta Castro. So könnte man das Regenwasser in einem Brunnen speichern und die Menschen in dem Viertel von dort aus über Leitungen mit fließendem Wasser versorgen. Auf diese Weise müssten die Rohre nicht von so weit her kommen. Und man müsste nicht tagelang auf eine Lieferung mit Tankwagen warten. Doch damit das funktioniert, muss es erst einmal regnen.

Aus dem Spanischen von Miriam Denger

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