„Unser Kino macht überall von sich reden“
Das Interview führte Sonia Riquer
Frau Avilés, Mexiko hat eine reiche Tradition, heute ist es von vielen Gegensätzen geprägt. Wie ist Ihre Beziehung zu Ihrem Land?
Mir gefällt die Geschichte meines Landes, ihre Vielfalt berührt mich. Es ärgert mich, dass ständig nur von der Gewalt die Rede ist. Ja, sie existiert, aber es gibt doch auch noch so viel anderes. Mexikos Geschichte ist enorm vielschichtig, alles auf die Narcos und die Kriminalität zu reduzieren, ist da zu einfach. Wir alle sind ein Teil dieses Geflechts. Wir müssen mehr füreinander da sein, jeder, wo er gerade steht.
Wir müssen ehrlich auf das Thema schauen, ohne Sensationsgier und ohne diese morbide Faszination. Wenn man Gewalt im Film thematisieren will, sollte man wissen, aus welcher Richtung man sich ihr nähert. Mit meinen beiden Filmen hatte ich das Glück, viel reisen zu können, und in Gesprächen wurde mir klar, dass es gewisse Vorurteile gegenüber unserem Land gibt. Man wird oft gefragt, ob es nicht gefährlich sei. Aber in Wahrheit gibt es viele Menschen von außerhalb, die Mexiko besuchen oder hier leben.
„Wir müssen ehrlich auf das Thema Gewalt schauen, ohne Sensationsgier und ohne diese morbide Faszination“
Unser Kino macht überall von sich reden, auch weil es sich durch eine besondere Vielfalt auszeichnet. Ich denke da zum Beispiel an die visuelle Sprache von Carlos Reygadas, die mir sehr hart erscheint, oder auch an die Schärfe der Filme von Natalia López. Die Arbeiten von Alfonso Cuarón zeigen die Wandelbarkeit und Flexibilität des mexikanischen Kinos. Nicht zu vergessen das geniale Dokumentarkino von Nicolás Echevarria, dessen Porträts der indigenen Welt mich sehr berühren.
Jahrzehntelang gab es kaum mexikanische Regisseurinnen. Inzwischen machen immer mehr Frauen Filme, 2023 lag ihr Anteil an der Gesamtzahl der Regisseurinnen und Regisseure laut dem Mexikanischen Filminstitut bei 27 Prozent. Wie sehen Sie diese Entwicklung?
Es ist schön zu sehen, dass wir jedes Jahr mehr Frauen werden, jede mit ihrem ganz eigenen Universum: etwa die Regisseurinnen Fernanda Valadez, Astrid Rondero, Tatiana Huezo oder Ángeles Cruz. Auch wenn wir verschieden sind, verbindet uns die Art, wie wir bestimmte Themen aufgreifen. Es gibt eine sehr lebendige Auseinandersetzung mit dem Thema der Gewalt und ihren Ursachen. Sie basiert auf unseren jeweiligen persönlichen Geschichten, aber auch auf der grundsätzlichen Frage, warum es so etwas wie Krieg überhaupt gibt.
Wir müssen uns mit unserer Kindheit auseinandersetzen, sie rekonstruieren und durch Therapien und Erinnerungen lernen uns zu befreien. Die Filmemacherin Marcela Arteaga zum Beispiel macht das mit den Mitteln des Dokumentarfilms, ich finde sie großartig. Wir sprechen sehr viel vom Klimawandel, der Natur, von Feminismus und Gewalt, aber ich glaube, wir müssen auch der Kindheit wieder mehr Aufmerksamkeit schenken. Ich bin sehr glücklich, Teil dieser neuen Generation von Frauen zu sein. Jede Filmemacherin hat auf ihre Weise eine Bresche geschlagen – wir sind hier, weil so viele vor uns gekämpft haben.
Ihr erster Film „La camarista“ („Das Zimmermädchen“, 2018) war sehr leise und intim, ein unkonventionelles Werk. Er folgt der Protagonistin Evelia, einem 24-jährigen indigenen Zimmermädchen, durch ein Luxushotel in Mexiko-Stadt. Das war ein mutiges Vorhaben für eine Anfängerin, oder?
Mein Herz schlägt immer noch wild für diesen Film. Mit ihm wurde ich zur Cineastin. Mir war klar, dass es ein sehr riskanter Film werden würde, was den Umgang mit Zeit betrifft, und auch, weil er sich auf engstem Raum abspielt. Es geht darum, das Zimmermädchen durch diese langen Flure zu begleiten, Türen zu öffnen zu Räumen, die sich jederzeit als Büchse der Pandora herausstellen können. In der Vorbereitung habe ich viel vor Ort recherchiert, um den Kern dieser ermüdenden, monotonen Arbeit zu verstehen, die Erschöpfung, die mit der Zeit eintritt.
„Jede Filmemacherin hat auf ihre Weise eine Bresche geschlagen – wir sind hier, weil so viele vor uns gekämpft haben“
Nur auf diese Art ließ sich der Film erzählen, in diesem Rhythmus, mit seinen Pausen. Manche Leute werden da vielleicht unruhig, aber so kann man beinahe unbemerkt in dieses Universum eintauchen. Am Anfang wirkt es so, als gäbe es einen simplen anekdotischen Erzählfaden, doch der Film ist vielschichtig und beobachtet sehr genau – eine Eigenschaft, die mich von klein auf ausgemacht hat. Ich habe eine sehr gesellige Seite, bin aber auch sehr gern allein. Da hilft es, sich eine innere Welt zu erschaffen und zu pflegen.
In Mexiko heißt es oft, es sei leichter, den ersten Film zu machen als den zweiten. Es gibt viele Filmschaffende, die es nicht hinbekommen, ihren zweiten Film zu vollenden. Hat es Ihnen Angst gemacht, als Sie entscheiden mussten, wovon Ihr zweites Werk handeln sollte?
Nach dem Erfolg von „La camarista“ dachten viele, ich würde wieder einen ähnlichen Film machen. Es war schön, dieser Erwartung nicht zu entsprechen und zu sagen, ich bin zwar immer noch dieselbe, aber die Geschichte gibt vor, was für ein Film da ensteht. Es ist wichtig, die Wurzeln jeder Geschichte zu verstehen und sich von ihnen leiten zu lassen.
Für jeden von uns ist das Zuhause der Ausgangspunkt, wie man die Welt als Kind wahrgenommen hat, die Neugier, sogar wenn es darum geht, die Familie zu hinterfragen, zu schauen, welche Schwächen und Stärken sie hat. Mein zweiter Film „Tótem“ ist eine Ode an diese Wurzeln, die uns ausmachen. Diese familiären Wurzeln haben für mich einen hohen Stellenwert.
In „Tótem“ gibt es auch gewisse Zwischentöne wie im asiatischen Kino, das sind enorm fragile Filme. Da herrscht nicht so ein szenischer Trubel von Kulissen und Landschaften. Das ist bei meinen Filmen auch so, wobei ich mich allerdings stärker auf die Figuren konzentriere.
Sie sind Mutter einer Tochter. Was hat sich dadurch in Ihrer Arbeit verändert?
Es verändert die eigene Perspektive vollkommen, es ist eine schöne und intensive Arbeit, und sie hilft mir dabei, das eigene Ego loszulassen. Ich glaube, es ist sehr wichtig, selbstbestimmt arbeiten und selbstbestimmt über den eigenen Körper entscheiden zu können, also, ob man überhaupt Mutter werden will oder nicht.
„Uns Frauen werden häufig, häufiger als Männern, Fragen zu Geschlechterthemen gestellt“
Als Schauspielerin hat mir das Theater die Möglichkeit gegeben, Grenzen zu überwinden. Normalerweise sperren sie dich als Schauspielerin in einen Käfig der Stereotype, legen dich auf eine bestimmte Besetzung fest. Am Theater kann man sein, was man will, nur der Text ist wichtig. Man kann mit Klischees brechen, was Hautfarbe, Geschlecht, Lebensweise und sozioökonomische Verhältnisse angeht.
Uns Frauen werden häufig, häufiger als Männern, Fragen zu Geschlechterthemen gestellt. Dabei ist das nicht so wichtig, ich glaube eher daran, dass „die Arbeit für sich spricht“.
Aus dem Spanischen von Miriam Denger