„Ich will keine Koexistenz ohne gleiche Rechte“

Foto: Ali Ghandtschi
Das Interview führte Sandra Rendgen
Herr Darawshe, Sie gehören zum Führungsteam von Givat Haviva, einer der größten Friedensorganisationen in Israel. Sie führt viele Programme für den Aufbau guter Beziehungen zwischen Israels jüdischer und arabischer Bevölkerung durch. Wie hat sich Ihre Arbeit durch den Angriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 und den folgenden Krieg in Gaza verändert?
Viele unserer Mitarbeitenden waren direkt betroffen oder haben jemanden verloren. Ich selbst trauere um meinen Cousin, der bei dem Hamas-Angriff ums Leben kam. Er war ein palästinensischer Rettungssanitäter, der beim Nova-Festival versuchte, jüdischen Opfern zu helfen.
Erfahrungen dieser Art lassen unsere Mitarbeitenden mitunter am Sinn unseres Tuns zweifeln. Und wie kann man in diesen Zeiten überhaupt in einem gemischten jüdisch-arabischen Team arbeiten? Momentan kommt es deshalb sehr darauf an, dass wir unseren Beschäftigten Halt geben. Wichtig ist, möglichst früh konstruktives Engagement einzubringen und nicht in Selbstmitleid zu verfallen.
Was hat Sie dazu gebracht, sich in der Friedensbewegung zu engagieren?
Als 16-Jähriger nahm ich an einem von Givat Haviva organisierten dreitägigen Treffen jüdischer und arabischer Oberschüler teil. Dort kam ich als arabischer Israeli zum ersten Mal mit jüdischen Kindern in meinem Alter zusammen. Ich habe diese Begegnung als sehr positiv in Erinnerung. Später an der Uni habe ich versucht, gemeinsam mit einem jüdischen Kommilitonen eine Gesprächsgruppe auf die Beine zu stellen.
„Ich will keine Koexistenz, wenn ich nicht die gleichen Rechte bekomme“
Nach 22 Minuten endete der Dialog aber damit, dass wir uns anschrien. Zuerst dachten wir, wir hätten die „falschen“ Leute eingeladen, doch auch das zweite und das dritte Treffen scheiterten sehr schnell. Daraufhin ging ich wieder zu Givat Haviva, weil ich wissen wollte, wie man es schafft, dass eine gemischte Gruppe im Gespräch bleibt. Ich lernte, Dialoge zu moderieren, und fing an, bei verschiedenen Friedensorganisationen als Facilitator zu arbeiten.
Sie waren einige Jahre auch in der Politik aktiv und haben sich als Wissenschaftler mit dem Thema Konfliktlösung auseinandergesetzt. In diesem Zusammenhang haben Sie den Begriff der „Koexistenz“ infrage gestellt.
Das stimmt. Ein entscheidendes Problem ist, dass in Israel die jüdische und die arabische Bevölkerung nicht die gleichen Rechte haben. Ich habe gesagt: Ich will keine Koexistenz, wenn ich nicht die gleichen Rechte bekomme. Ein Pferd und ein Reiter können eine wunderbare Koexistenz haben, aber zwischen beiden gibt es ja ein sehr deutliches Machtgefälle.
Stattdessen habe ich das Konzept der „gemeinsamen Gesellschaft“ ins Spiel gebracht. Es verknüpft die Idee der guten Beziehungen mit dem Ziel der Gleichberechtigung. Auf das Konzept könnten sich die meisten Menschen – ob jüdisch oder arabisch – grundsätzlich verständigen.
Die jüdische Seite würde allerdings sagen: Fangen wir mit den guten Beziehungen an, die Gleichberechtigung kann dann daraus folgen. Die arabische Gemeinschaft dagegen würde sagen: Wir wollen zuerst Gleichberechtigung, danach werden wir uns für gute Beziehungen einsetzen. Ich glaube, dass wir uns auf beiden Wegen parallel vorarbeiten müssen.
In welchen Punkten braucht es mehr Gerechtigkeit?
Gleichberechtigung hat zwei Dimensionen – eine politische und eine soziale. Die politische setzt bei den elementaren Fragen an: Wessen Staat ist Israel? Sind arabische Bürgerinnen und Bürger den israelischen gleichgestellt oder nicht? Bedeutet unsere Staatsbürgerschaft mehr als nur gleiches Stimmrecht? Sollte die Nationalhymne auch für die nicht-jüdische Bevölkerung passen? Sollte die Flagge weiter eine rein jüdische bleiben?
„Wenn man Leute dazu bringt, miteinander zu interagieren, werden Stereotype durchbrochen und Spannungen, Misstrauen und Ängste abgebaut“
Zudem gibt es 28 diskriminierende Gesetze, die der jüdischen Bevölkerung politisch einen höheren Status zubilligen als den arabischen Staatsbürgerinnen und -bürgern, wie etwa das Nationalstaatsgesetz. Können wir diese Gesetze ändern?
Der soziale Aspekt der Gleichberechtigung betrifft zum Beispiel die Erwerbschancen, die Budgets für kommunale Entwicklung, für Bildung, Sozialleistungen, Wohnraum. Auch das müssen wir einbeziehen, wenn wir eine gemeinsame Gesellschaft aufbauen wollen.
Wie genau arbeiten Sie an den jüdisch-arabischen Beziehungen – besonders jetzt, vor dem Hintergrund des Gaza-Krieges?
In unseren Programmen kombinieren wir immer drei Schritte. Dieses Vorgehen funktioniert trotz der aktuellen Schwierigkeiten nach wie vor. An erster Stelle steht der „soziale Kontakt“: Wir bringen Menschen aus den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zusammen – oft zum ersten Mal in ihrem Leben. Um die Trennlinien zu überwinden, brauchen wir mehr ganz einfache Interaktion.
Das kann so aussehen, dass man zusammen Hummus zubereitet oder fragt: Was hast du heute gefrühstückt? Was sind deine Lieblingsfarben? Die Idee ist, in seinem Gegenüber den Menschen zu erkennen. Wenn man Leute dazu bringt, miteinander zu interagieren, werden Stereotype durchbrochen und Spannungen, Misstrauen und Ängste abgebaut.
Im zweiten Schritt geht es darum, die schwierigen Themen auf den Tisch zu bringen. Das ist das, was wir „Dialog“ nennen. Dieser Dialog ist allerdings eher eine Diskussion über Narrative. Zentral ist dabei die Frage: Ist Israel der Staat der Israelis oder der Staat der jüdischen Gemeinschaft?
„Schadensbegrenzung und Deeskalation stehen im Zentrum unseres Krisenmanagements, das im Augenblick auf Hochtouren läuft“
Das Ziel ist es, eine ehrliche Diskussion zu ermöglichen und die Aussage, dass wir verschiedene Sichtweisen haben. In diesem Stadium schaffen wir es zwar nicht, zu einem dritten, gemeinsamen Narrativ zu kommen. Aber wir verstehen das eigene Narrativ besser und wie es sich zum Narrativ der anderen verhält.
Und was ist der dritte Schritt?
Im dritten Stadium rücken wir die gemeinsamen Interessen in den Fokus, etwa dass wir unseren Alltag in Israel zusammen bewältigen müssen. Wir fahren mit den gleichen Bussen und Zügen, wir besuchen dieselben Hochschulen, leben in der gleichen Wirtschaftsordnung. Wie schaffen wir ein Gefühl dafür, dass wir aufeinander angewiesen sind – im Krankenhaus, am Arbeitsplatz, im Einkaufszentrum?
Durch den Angriff der Hamas und den Krieg in Gaza ist es sicher besonders schwer, einen Dialog zwischen der jüdischen und der arabischen Community in Gang zu bringen. Haben Sie Ihre Programme nach dem 7. Oktober 2023 angepasst?
Unsere größte Sorge war, dass es jetzt im Verhältnis zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung in Israel zu einer Eskalation kommt. Um das zu verhindern, haben wir ein Netzwerk von Notfallzentren eingerichtet. Hier können sich arabische Bürger und Bürgerinnen über die Polizei beklagen oder sich beschweren, weil sie gefeuert oder von der Hochschule exmatrikuliert wurden.
Sie helfen auch bei Spannungen am Arbeitsplatz. Wir müssen sicherstellen, dass wir uns sofort einschalten und das Problem in den Griff bekommen, bevor es sich zu einem Phänomen auswächst. Bis jetzt sind wir damit sehr erfolgreich. Alle haben erwartet, dass es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommen würde wie im Mai 2021.
„Diese Arbeit ist sehr kräftezehrend. Abends fühlst du dich, als hätte jemand dein Gehirn ausgepresst“
Aber derzeit schaffen wir es, die Spannungen einzudämmen, indem wir jüdische und arabische Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, Lehrpersonal, Ärzte und Ärztinnen oder auch Busfahrer in gemischte Krisenmanagement-Teams einbinden, mit denen sie ihr ganz persönliches Arbeitsumfeld schützen.
Momentan häufen sich in den jüdisch-arabischen Beziehungen gewaltige Schäden an. Schadensbegrenzung und Deeskalation stehen im Zentrum unseres Krisenmanagements, das im Augenblick auf Hochtouren läuft. Leider hat uns die israelische Regierung vor Kurzem die finanzielle Unterstützung gestrichen. Das zeigt, dass sie Teil des Problems ist und nicht Teil der Lösung.
Welche Fähigkeiten – Soft Skills, aber auch erlernte Fähigkeiten – sind für die Facilitators essenziell, um Dialogformate zu ermöglichen?
Das ist wirklich ein Kernpunkt. Was wir tun, ist ein Beruf und nicht einfach gute Absicht. Viele Organisationen engagieren sich mit guten Absichten. Es braucht aber mehr: professionelle Kompetenzen in Konfliktbewältigung und im Umgang mit Gruppendynamiken. Wir arbeiten immer in gemischten Teams, und wir setzen bevorzugt zweisprachige Moderatorinnen und Moderatoren ein.
Denn für einige Teilnehmende ist es eine Hürde, wenn sie sich in einer anderen Sprache als ihrer eigenen artikulieren müssen. Außerdem müssen die Facilitators ein profundes Wissen über die andere Kultur, Geschichte, Tradition und Politik mitbringen, damit sie die Dinge in einen Kontext setzen können.
Diese Arbeit ist sehr kräftezehrend. Abends fühlst du dich, als hätte jemand dein Gehirn ausgepresst. Aber in diesen schweren Zeiten haben wir eine Führungsrolle und können uns nicht den Luxus leisten, uns selbst zu bemitleiden. Wir haben einen Job zu erledigen.