Flucht aus Nordkorea
Meine Heimatstadt Hoeryŏng in der Provinz Nord-Hamgyong kennt jeder in Nordkorea, denn Kim Jong-suk, die Ehefrau von Kim Il-sung und Mutter von Kim Jong-il, wurde dort geboren. Sie ist auch die Großmutter von Kim Jong-un, dem heutigen Obersten Führer des Landes. Deswegen kommen das ganze Jahr lang immer wieder Besucher, die sie wie eine Heilige verehren.
Ich wurde dort 1977 in eine ganz normale nordkoreanische Familie geboren, als jüngstes von vier Kindern. Mein Vater war damals ein kleiner Beamter, sodass meine Eltern keine Probleme hatten, unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Meine Mutter arbeitete als Kindergärtnerin. Nach der Schule halfen wir im Haushalt.
Da ich nicht gut im Lernen war, meldete ich mich nach dem Abitur zum Militär, trotz des Widerstands meiner Eltern. Um in Nordkorea Karriere zu machen, muss man Mitglied der Arbeiterpartei sein – und so wurde ich es auch.
„Mir blieb nichts anderes übrig, als der Propaganda der Regierung zu glauben“
Die Aufgabe meiner Einheit bestand darin, Kriegsvorräte zu verwalten und zu bewachen. Wir wurden auch im Umgang mit Waffen ausgebildet. Mir blieb nichts anderes übrig, als der Propaganda der Regierung zu glauben. Permanent wurde mir der Gedanke eingeimpft, dass ich bereit sein müsse, mein Leben für den Obersten Führer zu opfern. Wenn ich heute zurückblicke, wird mir klar, dass ich als menschliche Waffe lebte, ein geistig deformiertes Wesen.
Nach Beendigung meines Militärdienstes 2002 fuhr ich nach Hause – um festzustellen, dass mein Elternhaus, das ich acht Jahre zuvor verlassen hatte, verschwunden war. Unser Haus, das direkt neben den Eisenbahnschienen stand, war abgerissen worden. Denn Kim Jong-il, nach dem Tod seines Vaters Kim Il-sung der neue Generalsekretär der Partei, hatte erklärt, er würde demnächst die Heimatstadt seiner Mutter besuchen.
Nur für den Fall, dass er mit der Bahn anreisen würde, wurden dort beeindruckende neue Apartmenthäuser gebaut. Während Millionen Menschen im Land hungerten. Ich fand meine Eltern schließlich, sie waren alt und gebrechlich. Die Regierung hatte ihnen eine dunkle Kellerwohnung zugewiesen. Da meine Geschwister weggezogen waren, musste ich mich um sie kümmern, aber ich konnte es mir nicht leisten.
„Nordkorea ist kein Land, sondern ein großes Gefängnis“
Wie viele meiner alten Freunde und Klassenkameraden, die oft nur eine Mahlzeit pro Tag essen konnten, beschloss ich, mich nach China abzusetzen, um dort Geld für meine Familie zu verdienen. Ich gelangte über den Grenzfluss Tumen dorthin. Es war November, das Wasser war eiskalt und zerrte an meiner Haut. Ich musste waten, schwimmen und manchmal sogar tauchen, um es ans andere Ufer zu schaffen.
Zu dieser Zeit dachte ich, ich würde Geld verdienen und dann nach Hause zurückkehren. Aber das Leben in China war grundlegend anders, und die Menschen konnten sich immerhin das Nötigste leisten. Ich lebte dort drei Jahre, bis mich die chinesischen Behörden, die eng mit dem Regime in Nordkorea zusammenarbeiten, bei einer Inspektion erwischten und auslieferten.
Zu Hause wurde ich als Verräterin verurteilt und saß drei Jahre im Gefängnis. Dort habe ich Perücken hergestellt, die nach China und in andere Länder exportiert wurden.
Nachdem ich die chinesische Gesellschaft kennengelernt und auch südkoreanische Filme gesehen hatte, stand mein Entschluss fest: Wenn ich überleben würde und die Chance bekäme, ich würde noch einmal versuchen zu fliehen, diesmal bis nach Südkorea. Und genau das tat ich und überquerte den Tumen ein zweites Mal.
Nordkorea ist kein Land, sondern ein großes Gefängnis. Seit der Coronapandemie ist die Grenze noch undurchdringlicher, es ist fast unmöglich, das Land zu verlassen. Nach Südkorea zu entfliehen, hat mich sehr glücklich gemacht. Ich bin hier willkommen – und dankbar, hier leben zu können. Wir können uns unsere Eltern und unseren Geburtsort nicht aussuchen, aber dennoch unseren eigenen Weg gehen.
„Wenn ich an die Menschen in Nordkorea und an meine Familie dort denke, tut mir das Herz weh“
Es bleibt ein Gefühl der Scham, aus Nordkorea zu stammen. Aus einem Land, in dem ab dem Grundschulalter alle Menschen ständig zu Ritualen der Selbstkritik und der Kritik anderer genötigt werden. Ich arbeite heute als Büromanagerin bei der Vereinigung nordkoreanischer Flüchtlingsorganisationen (Association of Unified Leaders for North Korean Defectors). Wir versuchen, die Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea bekannter zu machen, und beraten Organisationen in Sicherheitsfragen.
Heute kann ich manchmal sogar lachen über die Propaganda in Nordkorea. Unsere Gemeinschaft aus Geflüchteten weiß, was sie von ihr zu halten hat. Aber wenn ich an die Menschen in Nordkorea und an meine Familie dort denke, tut mir das Herz weh. Mein größter Wunsch ist, dass Kim Jong-uns Regime so schnell wie möglich zusammenbricht.
Protokolliert von Friederike Biron