Eine tief verwurzelte Kultur
Das Interview führte Cécile Calla
In Mexiko ist das Thema Gewalt in vielen Bereichen omnipräsent. Der scheidende Präsident López Obrador hat Militär eingesetzt, um sie zu bekämpfen, doch die Anzahl der Gewaltverbrechen bleibt hoch. Während des Präsidentschaftswahlkampfes 2024 wurden 37 Kandidaten ermordet. Wie lässt sich das erklären? Welche Rolle spielt der sogenannte Drogenkrieg?
Carlos Antonio Flores-Pérez (CAFP): Wir sollten die Strukturen des organisierten Verbrechens nicht nur im Zusammenhang mit dem Drogenhandel betrachten. Es gibt eine Reihe von anderen Aktivitäten, die für diese Gruppen an Bedeutung gewonnen haben. Gleichzeitig ist eine größere historische Entwicklung in Mexiko zu beobachten: Die kriminellen Organisationen sind nicht aus sich selbst heraus entstanden, sondern es gab enge Verbindungen zu Akteuren in den staatlichen Machtinstitutionen.
Diese haben die Verbrecher geschützt, nicht weil es eine offizielle Politik gewesen wäre, sondern weil sie persönliche Gewinne erzielen wollten. Betrachtet man die jüngere Geschichte Mexikos, lässt sich dieses Phänomen fast von Anfang an feststellen, seit der Zeit der mexikanischen Revolution in den 1910er-Jahren.
„Das zentrale Problem ist, woher überhaupt die ganzen Waffen für die Kartelle kommen“
Wie kam das?
CAFP: In Mexiko haben wir ein föderales System, das aus einer Bundesregierung, Landesregierungen und Regierungen auf Gemeindeebene besteht. Diese föderalen Strukturen waren jedoch im Wesentlichen auf eine einzige Partei ausgerichtet, da das Ergebnis der Revolution eine faktische Hegemonie der »Partei der Institutionalisierten Revolution« (PRI) war. Sie hatte durch die Jahrzehnte verschiedene Namen, aber von 1929 bis 2000 war sie ein und dieselbe Einheit. Im Jahr 2000 erfolgte ein Machtwechsel auf Bundesebene sowie in den einzelnen Bundesstaaten.
Es wurden Gouverneure aus verschiedenen Parteien gewählt. Doch die Korruption, die zuvor schon bestand, hat sich dadurch nicht aufgelöst, sondern lediglich in verschiedene Formen aufgesplittert. Verschiedene Akteure und kriminelle Organisationen gerieten in Konflikt, um an die Gewinne zu gelangen. Ihre Profite stammen aus dem Drogenhandel, aber auch aus anderen illegalen Aktivitäten wie Öldiebstahl, illegalem Bergbau und Menschenhandel.
Ein weiterer Grund für die Zunahme der Gewalt während Wahlkämpfen ist, dass Wahlen die Möglichkeit bieten, bestehende Vereinbarungen neu zu gestalten – zum Beispiel wenn kriminelle Gruppen eine Zusammenarbeit mit einem politischen Akteur anstreben, der bereits mit ihnen in Kontakt steht und ihnen die Garantie gibt, dass sie auch weiterhin ihre Profite machen können.
Dabei ist jeder Einzelfall gesondert zu betrachten. Nicht immer ist davon auszugehen, dass die organisierte Kriminalität von der Politik getrennt ist und von außen versucht, ihren Willen aufzuzwingen. In einigen Fällen unterstützt zum Beispiel ein Politiker, den die kriminellen Organisationen fördern, einen Verwandten von ihnen. Die Verflechtungen sind äußerst komplex.
Zulia Orozco Reynoso (ZOR): Das zentrale Problem ist, woher überhaupt die ganzen Waffen für die Kartelle kommen. Acht von zehn Morden in Mexiko werden mit Waffen aus den USA verübt, die illegal ins Land geschmuggelt werden.
Sind das offizielle Daten?
ZOR: Ja, die Daten sind offiziell. Während seiner Amtszeit als mexikanischer Generalstaatsanwalt hat Eduardo Medina-Mora in einem Interview darauf hingewiesen, dass das organisierte Verbrechen in der Tat politische Korruption ist. Er hat ausgeführt, dass die Behörden das organisierte Verbrechen nicht beseitigen, sondern nur schwächen könnten, weil es Arbeitsplätze schaffe. Aber auch wenn Armut oder Ungleichheit ein Grund sein können, kriminell zu werden, bleibt der leichte Zugang zu illegalen US-Schusswaffen auf mexikanischem Gebiet das Hauptproblem. Ohne sie würden diese Morde wahrscheinlich nicht geschehen.
„Viele Menschen sehen keine Perspektive darin, weiter zu studieren“
Herr Flores-Pérez, sehen Sie das ähnlich?
CAFP: Die Problematik ist vielschichtig. Es gibt hier eine komplexere und gefährlichere Mischung. Sie haben eine verarmte Bevölkerung, die in dieser Konsumgesellschaft unter anderem die Botschaft erhält, dass sie sich nicht würdig fühlen darf, wenn sie bestimmte Waren nicht kaufen kann. Doch bietet Mexiko seit Langem zu wenige positive und legale Möglichkeiten, solche sozialen Erwartungen zu erfüllen, zu denen auch der Zugang zu materiellen Gütern gehört.
Nimmt man noch die weit verbreitete Kultur der Gewalt, der Respektlosigkeit und des Misstrauens gegenüber Gesetzen und Institutionen hinzu, kann man sich das Ergebnis vorstellen: Viele Menschen sehen keine Perspektive darin, weiter zu studieren, und entscheiden sich für andere Möglichkeiten. Es gibt jedoch auch zahlreiche hochrangige Politiker, die mit einflussreichen Geschäftsleuten in Verbindung stehen.
Wenn viele von ihnen in illegale Aktivitäten verwickelt sind, lässt sich auch eine Verbindung der legalen Wirtschaft und sogar des sogenannten „high level business“ mit Leuten feststellen, die illegale Geschäfte betreiben und auf den entsprechenden Märkten tätig sind.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
CAFP: Im Jahr 2006 veröffentlichte das mexikanische Wirtschaftsministerium einige Statistiken über den Verkauf von Pseudoephedrin im Land. Diese Substanz wird zur Herstellung von Grippemitteln oder Medikamenten zur Gewichtsabnahme verwendet, kommt aber auch für Drogen wie Methamphetamin zum Einsatz. Die pharmazeutische Industrie in Mexiko benötigte im Jahr 2005 nur 77 Tonnen Pseudoephedrin, um ihren Bedarf zu decken, doch die Einfuhren lagen bei insgesamt 3.115 Tonnen.
Das Finanzministerium der Vereinigten Staaten stellte fest, dass ein Teil dieser Pseudoephedrin-Importe an Drogenhändler, an Vertreter des organisierten Verbrechens ging. Dies verdeutlicht, dass es nicht immer nur um den Drogenhandel im herkömmlichen Verständnis geht, sondern auch um eine Verbindung zwischen hochrangigen Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Kriminellen.
„In Tamaulipas im Osten des Landes ist die politische Korruption offenkundig mit dem organisierten Verbrechen verbunden“
Gibt es eine flächendeckende Präsenz der Kartelle im Land, oder sind nur bestimmte Brennpunkte und Gebiete betroffen?
ZOR: Dies hängt von der jeweiligen Situation ab. Zunächst einmal handelt es sich um Netzwerke, die in einigen Gebieten sichtbar sind, in anderen nicht. Oft können sogenannte Normalbürger gar nicht erkennen, welche Gebiete umkämpft sind. Wenn man sich jedoch näher damit beschäftigt und die Gewalt untersucht, kann man sehen, welche Regionen von Kartellen kontrolliert werden. Ein Beispiel ist Tijuana, das als besonders gewalttätige Stadt gilt. Sie hat in der Tat eine sehr hohe Gewaltrate, aber nicht die höchste des Landes.
In Tamaulipas im Osten des Landes sieht es ganz anders aus. Die politische Korruption ist hier offenkundig mit dem organisierten Verbrechen verbunden. Mehrere Gouverneure sind sogar in den Vereinigten Staaten inhaftiert worden. Das Problem ist also vielschichtig, auch geografisch, politisch und gesellschaftlich, und es ändert sich bei jeder Wahl.
CAFP: Einige Regionen oder Staaten waren vor einigen Jahren noch nicht von dieser Art von Gewalt betroffen und werden erst jetzt von dieser Welle heimgesucht. Das gilt beispielsweise für den Bundesstaat Guanajuato. Dort gibt es weder eine relevante lokale Drogenproduktion noch eine große Anzahl von Konsumenten. Dennoch ist in dieser Region neuerdings eine Zunahme der Gewalt zu verzeichnen. Das ist darauf zurückzuführen, dass manche Gruppen nicht nur mit Drogen handeln, sondern beispielsweise auch mit gestohlenem Kraftstoff.
„Gewalt gegen Politiker und Amtsträgerinnen ereignet sich hauptsächlich auf den niedrigen Ebenen der Macht“
Welche Rolle spielt die kommunale Ebene, insbesondere in ländlichen Regionen?
CAFP: Die kommunale Ebene stellt das schwächste Glied in der Kette dar. Auf dieser Ebene besteht für diese Kartelle eher die Möglichkeit, gewalttätige Aktionen gegen die Behörden durchzuführen als beispielsweise auf Bundes- oder Staatsebene. Betrachtet man jedoch den historischen Hintergrund Mexikos, so stellt man fest, dass Kriminelle in der Regel bestimmte Grenzen nicht überschreiten können.
Sollten sie dies tun, werden sie verhaftet oder getötet. Das ist zum Beispiel in Kolumbien anders, wo eine sehr mächtige kriminelle Organisation direkt mit dem Staat in Konflikt steht. Dies hat bereits zur Ermordung von Senatoren und Ministern geführt. In Mexiko ist dies nicht der Fall. Gewalt gegen Politiker und Amtsträgerinnen ereignet sich hauptsächlich auf den niedrigen Ebenen der Macht.
ZOR: Es ist aber auch wichtig zu betonen, dass Mexiko trotz des organisierten Verbrechens ein sicheres Reiseland ist und sich für Tourismus eignet. Man kann hier ganz normal leben und arbeiten, ohne ständig um sein Leben fürchten zu müssen. Klar geschehen Dinge, aber wenn man tagsüber unterwegs ist, passiert nichts, weil zum Beispiel in Tijuana die Regel gilt, dass sich die Gewalt krimineller Gruppen nur gegen andere Kriminelle richtet.
Ist Gewalt ein alltägliches Gesprächsthema für die Menschen in Mexiko?
CAFP: Neben dem Phänomen der Kartelle gibt es natürlich auch die allgemeine Kriminalität, verursacht durch weniger profilierte Täter. Nehmen wir den Fall von Acapulco, einer sehr touristischen Stadt an der Pazifikküste. Als Tourist ist es sehr unwahrscheinlich, dass einem dort etwas zustößt. Aber für Menschen, die dauerhaft in Acapulco leben, gibt es andere Probleme.
Hält man sich länger in der Stadt auf, kann man bei einem Besuch des örtlichen Marktes etwa feststellen, dass der Preis für Hühner deutlich höher ist als noch vor einigen Monaten. Dies ist auf Erpressungen der Händler durch Kleinkriminelle zurückzuführen. Also, ja, manche Orte sind von Gewalt geprägt, aber es handelt sich eher um eine, die nur bestimmte, oft abgelegene Stadtviertel betrifft.
„Das Problem mit der Gewalt betrifft nicht das gesamte Land. Es sind lediglich einige Orte, an denen zu bestimmten Zeiten des Jahres die tödlichen Raten steigen“
Sind Sie der Meinung, dass die Medien in ihrer Berichterstattung über die Herausforderung der Gewalt in Mexiko teilweise übertrieben haben?
ZOR: Ja, das kann man so sagen. Wenn wir uns an die Statistiken halten, sehen wir, dass es natürlich vom jeweiligen Ort abhängt. In Tijuana liegt die Todesrate bei Opfern von Gewalt bei 105 pro 100.000, was sehr hoch ist. Aber das gilt nicht für alle Städte. Deshalb ist es wichtig, zu betonen: Das Problem mit der Gewalt betrifft nicht das gesamte Land. Es sind lediglich einige Orte, an denen zu bestimmten Zeiten des Jahres die tödlichen Raten steigen. Dies ist auf eine Vielzahl von Faktoren zurückzuführen.
Die Organisation von kriminellen Gruppen selbst spielt dabei ebenso eine Rolle wie die politischen Arrangements, die ihnen Schutz bieten. Auch die vielen relativ leicht erhältlichen Feuerwaffen, die illegal aus den USA nach Mexiko geschmuggelt werden, sind von Bedeutung. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass wir nicht das einzige Land in der Region sind, das viele Tote durch Waffengewalt zu beklagen hat. Auch Brasilien und Kolumbien sind Spitzenreiter.
„Die Narcocorridos sind ein Versuch, die Situation zu erklären und die Jüngeren anzusprechen“
Lassen Sie uns über das Narco-Image sprechen. Gibt es in Mexiko einen Mythos über die Narcos?
CAFP: Es ist eine Tatsache, dass unsere Gesellschaft durch eine Kultur des Machismo und der Gewalt geprägt ist, die sehr tief verwurzelt ist. Hinzu kommt, dass eine Haltung des Misstrauens gegenüber anderen Menschen weit verbreitet ist. Auch deshalb bewundern viele ein gewalttätiges Verhalten gegenüber den Mitmenschen sowie eine besondere Loyalität gegenüber Verwandten.
Insofern kann die Subkultur des Drogenhandels für einige Gruppen attraktiv erscheinen. Dies wird beispielsweise am Erfolg der „Narcocorridos“, einer Art Drogenballade, deutlich. Insbesondere junge Menschen, die von einer Zukunft voller Ruhm und Reichtum träumen, finden Gefallen an diesen Texten. Es gibt jedoch auch ältere Menschen, die mit diesen Liedern aufgewachsen sind und sie ebenfalls mögen.
Sie bieten eine Möglichkeit, ein tief verwurzeltes Gefühl der persönlichen Wertlosigkeit zu kompensieren, das aus einer langen Geschichte der sozialen Ausgrenzung, des Rassismus und so weiter herrührt. Aber nicht jeder Drogenhändler oder korrupte Beamte, der in kriminelle Geschäfte involviert ist, ist ein Liebhaber dieser Balladen. Umgekehrt ist nicht jeder, der diese Songs mag, zwangsläufig ein Dealer.
ZOR: Die Narcocorridos sind ein Versuch, die Situation zu erklären und die Jüngeren anzusprechen. In gewisser Weise lässt sich hier eine Parallele zu den Troubadouren ziehen, da einige der Narcocorridos von Drogenbaronen finanziert werden. Beim Narco-Mythos handelt es sich jedoch auch um eine wirtschaftliche Angelegenheit, bei der es lediglich um die Generierung von Einnahmen geht, wie zum Beispiel mit Blick auf die Netflixserie „Narcos“ deutlich wird.
„Ohne die ganzen Waffen, die über die Grenze zwischen den USA und Mexiko transportiert werden, hätten wir nicht solch erschreckende Opferzahlen wie wir sie derzeit sehen“
Frau Orozco Reynoso, für Sie stellt der Zugang zu Waffen das größte Problem dar. Ist sich die mexikanische Regierung dessen bewusst? Gibt es eine Debatte über entsprechende Beschränkungen?
ZOR: Schusswaffen aus den USA sind in Mexiko bereits seit Langem erhältlich. Die letzte Regierung unter der Führung von Andrés Manuel López Obrador hat zwei Klagen eingereicht, eine in Arizona im Jahr 2022 und eine in Connecticut im Jahr 2021, gegen insgesamt 16 US-amerikanische Waffenhersteller. Dies ist ein historischer Meilenstein. Damit haben wir die Weltöffentlichkeit informiert, dass wir nicht damit einverstanden sind, dass Schusswaffen aus den USA auf mexikanisches Territorium gelangen. Die vielen Gewalttaten, Kinder, die als Waisen aufwachsen, weil beide Eltern getötet wurden, Tausende von Verschwundenen – all das passiert, weil so viele Schusswaffen in die Hände des organisierten Verbrechens gelangen.
Ohne die ganzen Waffen, die über die Grenze zwischen den USA und Mexiko transportiert werden, hätten wir nicht solch erschreckende Opferzahlen wie wir sie derzeit sehen. Ein wichtiger Schritt ist, den illegalen Waffenhandel zu bekämpfen, aber das reicht nicht aus. Wir müssen auch unbedingt daran arbeiten, Schusswaffen auf mexikanischem Territorium zu beschlagnahmen.
Herr Flores-Pérez, ist das auch Ihre Priorität?
CAFP: Aus meiner Sicht ist es wichtiger, die Straflosigkeit zu bekämpfen, die auf die Verbindungen zwischen hochrangigen Beamten, Politikern, der Polizei und der organisierten Kriminalität zurückgeht. Diese Netzwerke prägen die Funktionsweise des Staates, der Sicherheitsbehörden und der Justiz.
Durch diese Strukturen wird den Hauptakteuren, die in kriminelle Geschäfte verwickelt sind, dauerhafte Straffreiheit garantiert und sie können in Ruhe ihr Geld waschen. Deswegen brauchen wir einen unabhängigen Bundesanwalt, aber den gibt es derzeit nicht. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir in Mexiko zu anderen Ergebnissen kommen, wenn wir diese Probleme nicht angehen.