Die Geschichte der Näherin
Das Interview führte Tino Schlench
Frau Kucbelová, „Die Haube“ ist hinsichtlich seiner Form und des Genres ein ungewöhnliches Buch. Eine klassische Handlung gibt es nicht, stattdessen viele kleine Episoden, in denen Sie von Ihren Reisen in das Dorf Šumiac berichten. Handelt es sich um eine Reportage, um Dokumentarliteratur oder um einen autofiktionalen Roman?
Dieses Projekt ist tatsächlich sehr speziell, da ich zuvor nur wenig Erfahrung mit dem Schreiben von Prosa hatte. Eigentlich schreibe ich Lyrik. Zudem wusste ich lange nicht, ob ich über meine Erlebnisse und Beobachtungen im Dorf überhaupt ein Buch schreiben würde.
Ich habe zunächst einfach Notizen angefertigt, ohne zu wissen, in welche Richtung das Ganze gehen könnte. Die literarische Form – mit der ich die verschiedenen Charaktere, Themen und Motive zu verbinden versuche – hat sich schrittweise entwickelt.
Bei „Die Haube“ handelt es sich um dokumentarische Literatur. Wir können ruhig offen sagen, dass ich selbst die Erzählerin dieses Textes bin. Bis zu einem gewissen Grad verhandle ich meine eigene Geschichte. Dafür habe ich sowohl Mittel der Reportage als auch genuin literarische Mittel verwendet.
In Gesprächen mit Ethnografen ist mir klar geworden, dass ich in meiner Auseinandersetzung mit gewissen Traditionen und Ritualen ganz intuitiv auf Vorgehensweisen zurückgegriffen habe, die auch in der Ethnografie üblich sind. Diese Kombination von Methoden führt natürlich zur Frage nach dem Genre. Mich interessiert eher, dass der Text als Text funktioniert und zu den Leserinnen und Lesern spricht.
In Ihrem Buch heißt es, dass Sie während der Gespräche mit der Näherin Il’ka bewusst keine Aufzeichnungen und Aufnahmen gemacht haben. Ihre Notizen entstanden erst im Nachhinein. Warum haben Sie sich für dieses Vorgehen entschieden?
Ich wollte nichts aufnehmen, um einen größeren Assoziationsraum zu öffnen und mich dezidiert von einer journalistischen Arbeitsweise abzugrenzen. Natürlich können wir uns nie ganz auf unsere Erinnerungen verlassen, dennoch ist im Buch nichts erfunden.
Ein anderer Grund für dieses Vorgehen bestand darin, dass ich sehr viel mit der Stille gearbeitet habe. Ich kam ursprünglich nicht als Autorin ins Dorf – das ich vorab nur aus einer Fernsehsendung kannte –, sondern als eine Frau, die etwas beigebracht bekommen möchte.
In dieser Rolle habe ich mich ganz auf das Anfertigen der Haube konzentriert [Die „čepiec“ gehört zur traditionellen Frauenkleidung in der Slowakei, Anm. der Red.] Zu Iľkas Leben und dem Dorf habe ich keine Fragen gestellt. Das kam alles ganz natürlich. Die wichtigsten Antworten haben sich aus der Stille ergeben, während wir gemeinsam an der Haube arbeiteten.
„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das, was wir als Tradition begreifen, oft gar nicht so alt ist”
War es schwierig, die Näherin von Ihrem Buchprojekt zu überzeugen?
Das hat sich ganz von selbst ergeben. Und zwar in dem Moment, als ich entdeckt habe, dass bereits eine Publikation existiert, in der ihre Geschichte erzählt wird, geschrieben von einer Psychologin. Iľka hat mir dieses Buch, in dem die Lebensgeschichten gleich mehrerer Personen verhandelt werden, zum Lesen gegeben. Es hat sie mit Stolz erfüllt, dass es ihre Geschichte wert war, in einem Buch erzählt zu werden. So gewann ich den Eindruck, dass auch mein Vorhaben für sie in Ordnung sein würde. Und so war es dann auch.
Früh im Text wird deutlich, dass Sie Traditionen kritisch gegenüberstehen. Daher verwundert es, dass Sie die vielen Reisen auf sich nahmen, um ein traditionelles Handwerk zu erlernen. Wie lässt sich dieses Interesse erklären?
Folklore und Traditionen sind mir tatsächlich eher suspekt. Dennoch ziehen mich diese Themen an, da sie unsere Gesellschaft maßgeblich beeinflussen. Wir leben in einer Zeit, die weltweit von einer Zunahme reaktionärer Wertvorstellungen und vom Aufstieg rechter Parteien geprägt ist. Mich hat interessiert, was Brauchtum und Traditionen denjenigen Menschen, denen sie wichtig sind, wirklich bedeuten.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das, was wir als Tradition begreifen, oft gar nicht so alt ist, und dass das, was wir als ganz natürlich empfinden, sich erst mit der Zeit entwickelt hat. Traditionen lassen sich nicht konservieren, sie sind sehr fragil und verändern sich ständig. Es ist eine Illusion, Sicherheit und Stabilität – nach denen sich aktuell viele Menschen sehnen – in der Vergangenheit zu finden.
Ihr Buch spielt im Dorf Šumiac in der Mittelslowakei. Was ist das für ein Ort?
Šumiac ist ein schön gelegenes Dorf in den Bergen, nicht sehr gut angebunden an andere Ortschaften. Es liegt am Fuße der Niederen Tatra, beim symbolisch stark aufgeladenen Kráľova hoľa (deutsch: Königsberg), um den sich viele Nationalmythen ranken.
Dieser Berg taucht in einem Volkslied auf, das fast alle Menschen in der Slowakei kennen. Es ist ein Ort, an dem zwei Bevölkerungsgruppen zusammenleben: eine slowakische Mehrheit und eine Roma-Minderheit. Letztere macht aber mindestens ein Drittel der Dorfgemeinschaft aus.
„Was ich zeigen möchte, ist die subtile Form von Rassismus, der man nahezu überall begegnet”
In „Die Haube“ geht es häufig um das soziale Gefüge im Ort. Die unterschiedlichen Communitys scheinen eher nebeneinander als miteinander zu leben.
Die Roma-Siedlung schließt direkt an das Dorf an, in dem vorrangig Nicht-Roma wohnen. Der Alltag in diesen zwei Teilen unterscheidet sich nicht maßgeblich voneinander. Aber gleich neben der Roma-Siedlung gibt es einen Ortsteil, in dem die Menschen unter ärmlichsten Verhältnissen leben. Die Wohnungen sind sehr klein und schlecht isoliert, haben häufig keine Heizung.
Mit diesem Teil des Dorfes wollen auch viele Menschen der Roma-Siedlung nichts zu tun haben. Man möchte sich davon in gleicher Weise abgrenzen, wie sich die slowakische Bevölkerung von den Roma abgrenzen will.
Die slowakische Mehrheitsbevölkerung geht der Roma-Community aus dem Weg. Antiziganistische Ressentiments sind Alltag, im Bus sitzt man nicht nebeneinander und meidet die Blicke der anderen. Die Situation scheint festgefahren.
Das Problem von Rassismus und Antiziganismus kann ich in meinem Buch natürlich nicht in all seiner Komplexität einfangen, auch Lösungen kann ich nicht anbieten. Was ich aber zeigen möchte, ist die subtile, quasi indirekte Form von Rassismus, der man nahezu überall begegnet und derer sich viele Menschen gar nicht bewusst sind.
Dabei ist es gerade diese Art von Rassismus – häufig verpackt in unscheinbare Witze –, die in der Slowakei vermutlich am stärksten verbreitet ist.
Sie erwähnen im Buch eine TV-Show, die in Šumiac gedreht wurde. In der gesamten Sendung war keine einzige Romni, kein einziger Rom zu sehen. Ein typischer Fall für die Ausblendung von Minderheiten?
Ganz gewiss. Bei der Sendung handelt es sich um eine populäre Kochshow. Das Produktionsteam hätte sich auch andere Teile des Dorfes ansehen und sich dort nach traditionellen Rezepten erkundigen können. Aber das ist nicht passiert. So etwas ist einfach nicht üblich.
Katarína Kucbelová: „Die Haube. Impressionen aus einem Randgebiet“, deutsch von Eva Profousová, Ink Press Zürich, 2023