Schulen ohne Schutz
An einem Morgen Anfang März dieses Jahres waren die Kinder einer Schule in Kuriga, einer Stadt im Norden Nigerias, unter freiem Himmel zum Gebet versammelt, als sich plötzlich Männer mit Maschinengewehren auf Motorrädern und Pick-ups näherten. Es fielen Schüsse und die Angreifer entführten mehr als 280 Kinder.
Es waren „bandits“, Banditen, so der Sammelbegriff, der in Nigeria für marodierende Gruppen verwendet wird, die Menschen terrorisieren, Entführungen, Folterungen und in einigen Fällen auch Morde begehen. Laut dem Centre for Democracy and Development, einer NGO in der Hauptstadt Abuja, treiben derzeit rund 30.000 Banditen ihr Unwesen in diesem Teil des Landes. Einige Wochen später verkündete Uba Sani, der Gouverneur des Bundesstaates Kaduna, dass 137 Kinder freigelassen worden seien.
Berichte über eine größere Anzahl von Entführungsopfern bezeichnete der Politiker als Hirngespinst. Unklar bleibt, ob Lösegeld gezahlt wurde und wie viele Kinder noch in der Gewalt der Entführer verblieben sind. Diese Massenentführung stellt einen traurigen Höhepunkt in einer Reihe von Verbrechen dar, die vor fast genau zehn Jahren begann. Im April 2014 verschleppten Mitglieder der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram 276 Schulmädchen aus dem kleinen Ort Chibok im Bundesstaat Borno.
„Vom gewaltigen Ausmaß des globalen Echos der „Bring Back Our Girls“-Kampagne war selbst Boko Haram überrascht, aber letztlich stachelte es sie an“
Seither wurden nach Angaben der NGO „Save the Children“ mehr als 1.600 Schulkinder in Nord- und Zentralnigeria Opfer solcher Verbrechen. Die Entführung der Mädchen von Chibok war dabei ein Wendepunkt. Um das Verbrechen wurde damals von offizieller Seite zunächst nicht viel Aufhebens gemacht.
Kashim Shettima, der damalige Gouverneur des Bundesstaates Borno und heutige Vizepräsident, rief den damaligen nigerianischen Präsidenten Goodluck Jonathan nach dem Überfall nicht einmal an, um ihn in Kenntnis zu setzen.Goodluck Jonathan wiederum unternahm in dieser Angelegenheit erst etwas, als sich führende Vertreter der Zivilgesellschaft lautstark zu Wort meldeten.
Daraus entwickelte sich die „Bring Back Our Girls“-Kampagne von globaler Reichweite, mit unzähligen Social-Media-Beiträgen und prominenten Unterstützern von Lagos bis Los Angeles, von Angelina Jolie über Kim Kardashian und Malala Yousafzai bis Michelle Obama. Vom gewaltigen Ausmaß des globalen Echos war selbst Boko Haram überrascht, aber letztlich stachelte es sie an.
„Experten zufolge sind Kinder leichte Opfer, weil sie Emotionen wecken und sich damit hohe Lösegelder durchsetzen lassen“
Das ideologische Ziel der Dschihadisten war bis dahin oft simpel gewesen: Sie planten, eine strenge Version des islamischen Rechts einzuführen. Dazu sollte ein Kalifat errichtet werden, das die gewählten Regierungen in Nigeria ersetzen sollte. Der vollständige Name der Sekte lautet „Jamā’at Ahl as-Sunnah lid-Da’wah wa’l-Jihād“, aber ihr bekannterer Name Boko Haram ist eine direkte Anspielung auf ihr Mantra, dass westliche Bildung verboten ist. Daher wurden zunächst Schulen angegriffen.
Als die Anteilnahme für die Mädchen aus Chibok globale Ausmaße annahm, sah die Gruppe unter Führung des unberechenbaren Abubakar Shekau (gestorben 2021) die Gelegenheit, ihre neu gewonnene Bekanntheit zu nutzen. Sie ließ einige Mädchen im Austausch gegen inhaftierte Boko-Haram-Kommandeure frei; 2017 folgten weitere 82 Schülerinnen gegen umgerechnet drei Millionen Euro Lösegeld. Neunzig Geiseln werden weiter vermisst.
Seitdem hat Boko Haram wiederholt zugeschlagen: Im Februar 2018 wurden 110 Mädchen aus einer Schule im Bundesstaat Yobe entführt; im Dezember 2020 traf es 303 Jungen im Bundesstaat Katsina. Experten zufolge sind Kinder leichte Opfer, weil sie Emotionen wecken und sich damit hohe Lösegelder durchsetzen lassen. Außerdem kann man sie leichter instrumentalisieren, etwa um Straftaten zu begehen.
„Mit den erhaltenen Lösegeldern finanziert Boko Haram Waffen und Kommunikationssysteme, mit denen sie Botschaften in die Welt senden“
Laut der „Global Coalition to Protect Education from Attack“ hat Boko Haram überdies im Nordosten des Landes 2.295 Lehrer getötet. UNICEF berichtet, dass rund 1.400 Schulen zerstört oder geplündert wurden. Entführungen wegen Lösegeld sind zum boomenden Wirtschaftszweig geworden – und sie folgen einer kapitalistischen Logik.
Es sind zwar die Entführungen von Kindern, die international Schlagzeilen machen, doch inzwischen sind auch andere Opfer betroffen: Lehrer, Priester, Zugreisende, Regierungsbeamte, Dorfvorsteher und in einigen Fällen ganze Dörfer. Nach Angaben von SBM Intelligence, einem Institut zur Einschätzung von Sicherheitsrisiken in Lagos, wurden allein zwischen Juli 2022 und Juni 2023 Lösegeldforderungen von insgesamt etwa drei Millionen Euro für 3.620 Personen gestellt.
Letztlich wurden nur rund sechs Prozent davon gezahlt. Doch lokale Meldungen legen nahe, dass die Zahl der Opfer und die Geldbeträge deutlich höher sein könnten, da viele Vorfälle nicht registriert werden. Mit den erhaltenen Lösegeldern finanziert Boko Haram Waffen und Kommunikationssysteme, mit denen sie von ihrem Hauptquartier im Sambisa-Waldgebiet in Borno aus Botschaften in die Welt senden.
Die starke Zunahme der Entführungen ist aber auch darauf zurückzuführen, dass inzwischen nicht nur Boko Haram und deren islamistische Verbündete mitmischen, sondern auch andere Akteure. Die Entwicklung hin zu immer mehr Gewalt lässt sich nur schwer umkehren. Auf dem Papier ist Nigeria eine Föderation mit 36 Bundesstaaten und 774 lokalen Regierungsbezirken.
„Nach Ansicht von Experten leiden nigerianische Institutionen an einem grundlegenden Investitionsmangel, der ihre Handlungsfähigkeit einschränkt“
In Wirklichkeit liegt die Macht jedoch bei der Bundesregierung. Ein Teil der Ressourcen fließt an die Bundesstaaten, doch davon kommt fast nichts bei den Kommunen an, die vom Wohlwollen der Gouverneure ihres Bundesstaates abhängig sind. Dieses System ist ein Überbleibsel der Militärdiktatur. Infolgedessen gibt es im ganzen Land rechtsfreie oder nahezu rechtsfreie Räume. Die nigerianischen Sicherheitsbehörden sind personell unterbesetzt, unzureichend ausgestattet und schlecht geschult.
Das Militär des Landes etwa ist mit 230.000 Mann eine der größten Kampftruppen Afrikas. Dennoch ist es überfordert, weil es zahlreiche Aufstände im ganzen Land bekämpfen muss, darunter die von Separatisten im Südosten und von militanten Aktivisten im Nigerdelta, die Anschläge auf Erdöl-Pipelines verüben.
Die nigerianische Polizei wiederum hat rund 370.000 Mitarbeiter. Damit kommt etwa ein Polizist auf 600 Bürger – ein weit schlechteres Verhältnis als das von der UN empfohlene von eins zu 450. Nach Ansicht von Experten leiden nigerianische Institutionen an einem grundlegenden Investitionsmangel, der ihre Handlungsfähigkeit einschränkt.
„Die sozialen Rechte der Kinder werden in vielen Regionen, in denen es immer wieder zu Massenentführungen kommt, nicht ausreichend berücksichtigt. Die Schulen sind unterfinanziert und die Lehrkräfte schlecht ausgebildet“, so Leena Koni Hoffman vom Londoner Thinktank Chatham House. 2024 wurden nur sechs Prozent des Staatshaushalts für Bildung geboten, was deutlich unter den von der UNESCO empfohlenen 15 bis zwanzig Prozent liegt. Und dann ist da noch die Frage, ob überhaupt ein politischer Wille zur Veränderung besteht – oder eben nicht.
„Experten sagen, dass es wenig Grund zur Hoffnung gibt, wenn die gegenwärtigen Trends bei der Regierungsführung fortbestehen“
Präsident Goodluck Jonathans unbefriedigender Umgang mit der Situation war eine der Ursachen seiner historischen Wahlniederlage im Jahr 2015. Sein Nachfolger Muhammadu Buhari, ein General im Ruhestand, versprach, die Unsicherheit in den Griff zu bekommen und die Korruption zu bekämpfen, die die Regierungsführung in Nigeria behindert.
Stattdessen verbrachte seine Regierung die ersten hundert Tage damit zu behaupten, Boko Haram sei „so gut wie besiegt“, und schränkte den Zugang der Presse zu einigen betroffenen Gebieten ein. 2023 kam der derzeit amtierende Präsident Bola Tinubu an die Macht. Er hatte ebenfalls versprochen, die Sicherheitslage zu verbessern, doch die Probleme bestehen unverändert fort.
Nach Angaben des Armed Conflict Location & Event Data Project, einer NGO, die Daten zu gewaltsamen Konflikten sammelt, gab es zwischen Mai 2023 und Mai 2024 rund 4.550 Todesopfer und über 7.000 Entführungen. Experten sagen, dass es wenig Grund zur Hoffnung gibt, wenn die gegenwärtigen Trends bei der Regierungsführung fortbestehen. „Die Regierung hat keine Sicherheitsstrategie formuliert“, sagt Ikemesit Effiong, Leiter der Forschungsabteilung von SBM Intelligence.
„Die letzten beiden Regierungen und auch die jetzige haben eine abwartende Haltung eingenommen, während die Entführer immer gezielter zuschlagen. Die Schulen bleiben unbewacht und sind oft nicht einmal umzäunt.“ Er fügt hinzu: „Damit die Sicherheit der Kinder gewährleistet wird, muss die Regierung erst einmal eingestehen, dass sie ein Problem hat. Doch dazu fehlt der politische Wille.“