Das beliebte Supertier

Axolotls wurden schon von den Azteken verehrt, auch heute sind sie in Mexiko äußerst beliebt. Doch in ihrem natürlichen Lebensraum sind die Tiere vom Aussterben bedroht
Collage: Julia Neller, Fotos: Getty Images
Es sieht aus wie ein kleines Seeungeheuer, es wirkt wie ein altertümliches Wesen aus einer verlorenen Welt. Für mich hat mit dem Axolotl alles angefangen, denn schon als kleiner Junge faszinierte mich dieses „Wassermonster“, das ich am Ufer eines Sees einfing, um damit zu spielen. Die kindliche Begeisterung eines Naturforschers, die der geheimnisvolle Schwanzlurch in mir weckte, hat mich dazu gebracht Biologie zu studieren.
Später führte ich ein Experiment durch, bei dem ich die Metamorphose der kleinen Sumpfmonster künstlich in Gang setzte. Das hat mich so beschäftigt, dass ich das Ganze irgendwie in Worte fassen wollte und darüber schließlich zur Literatur fand. Doch dieses ungewöhnliche Tier fasziniert nicht nur mich, sondern auch sehr viele andere Menschen in der Wissenschaft, Literatur, Religion und Folklore. Was genau macht seinen Reiz aus?
Der Axolotl misst zwischen 15 und 45 Zentimeter und gehört der Familie der Salamander und Salamanderverwandten an. Sämtliche Salamander – etwa 630 Arten weltweit – beginnen ihr Dasein als Axolotl, bevor sie wachsen, das Wasser verlassen und sich in Landtiere verwandeln, also in Salamander und Molche. Die Ausnahme davon bilden vier mexikanische Arten.
„Der Axolotl ist in der Lage, verlorene Gliedmaßen, Hände, Augen, Mundwerkzeuge, Kiemen, den Schwanz und sogar innere Organe nachwachsen zu lassen“
Sie ersparen sich den Prozess der Metamorphose und verbringen stattdessen ihr ganzes Leben im Larvenstadium – als Axolotl. Dank eines seltenen Phänomens, das man wissenschaftlich „Neotenie“ nennt, erlangt der Axolotl trotzdem die Geschlechtsreife. Zu dieser einzigartigen Reproduktionsweise kommt noch eine weitere ganz erstaunliche Eigenschaft hinzu, die geradezu ans Fantastische grenzt: die Fähigkeit zur morphologischen Regeneration.
Der Axolotl ist in der Lage, verlorene Gliedmaßen, Hände, Augen, Mundwerkzeuge, Kiemen, den Schwanz und sogar innere Organe nachwachsen zu lassen – und das ganz ohne Narbenbildung. Das neue Gewebe unterscheidet sich nicht vom Original und der Vorgang kann beliebig oft wiederholt werden. Seine außergewöhnlichen Fähigkeiten zur anatomischen Regeneration sichern dem Tier im Volksglauben den Rang eines Wunderwesens und lassen die moderne Medizin von vielversprechenden Behandlungen träumen.
Das allein wäre Erklärung genug dafür, dass die Erbauer der Stadt Tenochtitlán* in dem kleinen Seeungeheuer die Reinkarnation einer Gottheit sahen. Der für diese beeindruckende Fähigkeit verantwortliche Mechanismus liegt in der Transdifferenzierung der Zellen. Die Zellen dieser Amphibien haben die rätselhafte Fähigkeit, ihre Entwicklung gleichsam zurückspulen und so in einen formbaren Ausgangszustand zurückkehren zu können. Zu einer pluripotenten Form, wenn man so will, die anschließend jede beliebige Richtung einschlagen und sich je nach Bedarf zu verschiedenen Bindegewebstypen entwickeln kann.
„Ob Schamanen, Mönche, Wissenschaftler, Heiler oder die Tlatoanis, die aztekischen Herrscher – viele Menschen in Mexiko ließen sich von der Physiognomie des Axolotls in den Bann ziehen“
Ich habe schon oft über diese Salamander geschrieben; und wieder einmal sitze ich hier und denke beim Tippen darüber nach, ob bestimmte Tiere die Geschichte eines Landes verkörpern. Es gibt Organismen, die wie ein Spiegel die Weltbilder und Sehnsüchte bestimmter Gesellschaften reflektieren, womöglich sogar Revolutionen, Wirtschaftskrisen oder künstlerische Avantgarden.
Ich frage mich, ob das auch für den Axolotl und Mexiko gilt. Was die legendären Amphibien vom Grund ihres Sumpfes aus wohl nicht alles schon gesehen haben? Ob Schamanen, Mönche, Wissenschaftler, Heiler oder die Tlatoanis, die aztekischen Herrscher – viele Menschen in Mexiko ließen sich von der extravaganten Physiognomie des Axolotls in den Bann ziehen.
Umgekehrt sah er sie kommen und gehen, mit sanftmütigem Stolz, im Wissen darum, dass er sich im Gegensatz zu ihnen in ihrem schlammigen Habitat als Konstante erweisen würde. Und tatsächlich fällt mir kaum eine andere Tierart ein, die die Bewohner Mexikos so sehr beschäftigt haben dürfte wie der charismatische Ambystoma mexicanum.
Die Völker der Tolteken und der Mexica, wie sich die Azteken selbst nannten, sahen in ihm die Reinkarnation des Gottes Xólotl, des Zwillingsbruders von Quetzalcóatl, des großen Schöpfergottes. Der Legende der fünften Sonne nach weigerte er sich, sich wie die übrigen Götter des Pantheons zu opfern, um die Gestirne in Bewegung zu setzen.
„Mit der katholischen Religion änderte sich die symbolische Bedeutung des Axolotls. Man warf ihm vor, in den Seen Frauen zu schwängern – ein Glaube, der in manchen ländlichen Gebieten weiterhin verbreitet ist“
Als der Henker der Götter ihn später gefangen nahm, verwandelte er sich in eine zweistielige Agave. Als er erneut entdeckt wurde, sprang er ins Wasser, um dort eine fischähnliche Gestalt anzunehmen: die eines kleinen Sumpfmonsters namens Axolotl. Es fällt auf, dass alle Organismen, in die sich der flüchtige Gott verwandelt hat, in den regionalen Kulturen als lebensnotwendige Nahrungsmittel galten.
Mit dem Fall von Tenochtitlán und der Ankunft der katholischen Religion änderte sich die symbolische Bedeutung des Axolotls drastisch. Man warf ihm vor, in den von ihm bewohnten Seen Frauen zu schwängern – ein Glaube, der in manchen ländlichen Gebieten weiterhin verbreitet ist –, eine Vulva zu besitzen, zu menstruieren. Verzehrte man ihn, steigerte das angeblich den Geschlechtstrieb. Diese verdrehten Ansichten hielten sich hartnäckig bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, bis dank Alexander von Humboldt erste Proben des Axolotls in europäischen Laboratorien landeten.
In den folgenden Jahrzehnten stellte der Axolotl mit seinem merkwürdigen Lebenszyklus und ewigen Larvenstadium die Wissenschaft vor ein unlösbares Rätsel – mindestens bis zur französischen Intervention in Mexiko in den 1860er-Jahren. Die französischen Truppen hatten den Eilauftrag, mehrere lebende Exemplare des Axolotles auf dem Rückweg nach Europa mitzubringen.
Dort nahm der französische Zoologe Auguste Duméril die Tiere in Empfang. Es gelang ihm nicht nur, sie am Leben zu erhalten, sondern einige Jahre später, im Jahr 1866, auch ihre Vermehrung im Larvenstadium zu beobachten und zu beschreiben. Die deutsche Naturforscherin Marie von Chauvin führte Dumérils Forschungen fort und brachte die Tiere in damals innovativen Experimenten sogar dazu, eine Metamorphose zum Leben auf dem Land zu machen.
Charles Darwin widmete dem Phänomen in seinem bahnbrechenden Werk »Über die Entstehung der Arten« mehrere Absätze. Doch es sollte noch dauern, bis Julius Kollmann im Jahr 1885 den Begriff „Neotenie“ für den Eintritt der Geschlechtsreife im Larvenstadium prägte. Nach Hunderten von Jahren setzte er damit dem Rätselraten über die Natur des Axolotls ein Ende.
Doch die wandelbaren Amphibien faszinierten nicht nur Wissenschaftler, sondern begeisterten im 20. Jahrhundert auch die Dichter. Kein Geringerer als Julio Cortázar, der argentinische Meister der fantastischen Literatur, setzte den Tieren in seiner Erzählung „Axolotl“ (1956) ein Denkmal, nachdem er ihnen in einem Pariser Zoo begegnet war und eine Obsession für sie entwickelt hatte.
Darin spielt der Autor mit diversen Erzählperspektiven, bis er sich am Ende schließlich selbst in einen der Lurche verwandelt. Zur literarischen Inspiration wurde das Amphibium von nun an häufiger: Es taucht bei vielen mexikanischen Schriftstellern auf, etwa bei Juan José Arreola, Salvador Elizondo, Octavio Paz, Gutierre Tibón und in den Texten weiterer bemerkenswerter Schriftsteller Lateinamerikas.
Meine Lieblingsstelle findet sich jedoch bei dem mexikanischen Dichter und Essayisten José Emilio Pacheco: „Er ist weder Fisch noch Salamander, weder Kröte noch Echse, er hat menschliche Züge […] und ist ein Bewohner der Zwischenwelt, des Niemandslands, des Lebensraums und des Grabes derer, die wir durch all unsere Metamorphosen hindurch nie zur Wahrheit des Erwachsenendaseins vorgedrungen sind und daher nichts anderes kennen und können als uns fortzupflanzen.“
Diese Vorstellung greift der mexikanische Soziologe Roger Bartra in seinem Klassiker „La jaula de la melancolía“ („Der Käfig der Melancholie“ ) als Metapher für Mexiko als neotenische Nation auf. Er war es auch, der 2011 die Anthologie „Axolotiada, vida y mito de un amfibio mexicano“ („Axolotiade. Leben und Mythos einer mexikanischen Amphibie“) herausgab, einen farbenprächtigen Almanach, der die Spuren des Axolotls in Geschichte, Literatur und Kunst nachzeichnet.
„Schwindelerregend schnell ist sein Bestand eingebrochen, von 6.000 Exemplaren pro Quadratkilometer im Jahr 1996 auf weniger als einhundert knapp 20 Jahre später“
Natürlich ist der Einfluss des Axolotls damit noch lange nicht erschöpft. Die Fähigkeiten zur morphologischen Regeneration sind heute sogar Gegenstand aktueller medizinischer Forschungen, denn sie versprechen Schutz vor bestimmten Krebsarten. Umso ironischer mutet es an, dass der Axolotl heute selbst um das Überleben kämpft.
Ihm droht ein schleichendes Aussterben, teils durch eingeschleppte Fischarten wie Tilapia und Karpfen, die die Nahrungskette durcheinander bringen, teils durch die Zerstückelung seines Habitats in Mexiko-Stadt, einer der größten Megalopolen der Welt, teils aber auch durch Wasserverschmutzung aus Klärwerken. Schwindelerregend schnell ist sein Bestand eingebrochen, von 6.000 Exemplaren pro Quadratkilometer im Jahr 1996 auf deutlich unter einhundert knapp zwei Jahrzehnte später.
Heute kann man von Glück reden, wenn man noch einige wenige Exemplare in einem der Kanäle von Xochimilcos, den schwimmenden Gärten in Mexiko-Stadt, erblickt, dem letzten Refugium, das wir den Freilebenden seiner Art gelassen haben.
Die Tage des Axolotls scheinen gezählt, zumindest in der freien Wildbahn. In Gefangenschaft dagegen ist er allgegenwärtig, sowohl in Forschungslaboratorien wie auch auf dem weltweit florierenden Markt für exotische Haustiere. Hier wird er in einer großen Fülle unterschiedlichster Färbungen angeboten: von den leicht rosafarbenen Albinos bis zu den leuzistischen „Weißlingen“, von goldfarbenen und schwarzen bis hin zu gefleckten Exemplaren.
Überall gibt es Zuchtfarmen, und wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, könnte es durchaus sein, dass aus dem Axolotl schließlich eine Art „Amphibienhund“ hervorgeht, der sich wie unser Haustier mit jeder Generation weiter vom Wolf entfernt. Jedoch stellt sich die Frage, welchen Sinn eine Existenz hat, die dazu verdammt ist, ihr ganzes Leben in Aquarien zu verbringen.
Egal, wie viele Exemplare man einsperrt, die gesamte Spezies lässt sich damit niemals einfangen. Eine Spezies ist viel mehr als die einzelnen Bestandteile, sie ist die charakteristische Ausprägung eines Systems, das aus der Interaktion einer bestimmten Gruppe von Tieren mit ihrer gesamten Umgebung heraus entsteht. Daher ist die Spezies derzeit praktisch unsichtbar.
„Ich möchte gerne daran glauben, dass der Axolotl im Lauf der Zeit zu einem neuen Symbol wird: zu einer Ikone der Bewahrung der Natur“
Vorerst hingegen findet sich die Amphibie als Bild mit einigermaßen großer Sichtbarkeit wieder: auf der mexikanischen Fünfzig-Peso-Note. Doch was haben all die Figuren auf unseren Geldscheinen gemeinsam? Sie sind tot. Ein bitteres und ironisches Zeichen dafür, dass wir den Wert von etwas so oft erst dann anerkennen, wenn es schon fast verschwunden ist?
Vielleicht bietet sich uns heute aber auch die letzte Gelegenheit, den Axolotl mit all seinen Qualitäten neu wertzuschätzen. Auch wenn er in Zeiten von Klimakrise und maßloser Gier für das bevorstehende Artensterben zu stehen scheint, ist es noch möglich, das Ruder herumzureißen.
Wir können unser oberflächliches Handeln beenden und uns einer Zukunft zuwenden, die uns und unseren Mitgeschöpfen gegenüber etwas wohlgesonnener sein wird. Ich möchte gerne daran glauben, dass der Axolotl im Lauf der Zeit zu einem neuen Symbol wird: zu einer Ikone der Bewahrung der Natur und einem Symbol dafür, wie wir den Fallstricken des Anthropozäns entkommen können.
Aus dem Spanischen von Miriam Denger