„Sie fragen nur selten, bevor sie ein Foto machen“
Die „Magical Mumbai Tour“ durch Dharavi beginnt beim schicken Third Wave Café westlich der Metrostation Mahim in Mumbai. Es ist der Treffpunkt für die meisten Slum-Touren; Dharavi ist nur eine Brücke entfernt. „Wussten Sie, dass von den etwa zwei Millionen Menschen in Dharavi nur die Hälfte offiziell registriert ist?“, fragt Varsha Kanojia, die Führerin, die sechs Teilnehmenden aus Europa vor Beginn des Rundgangs. „Sie alle leben auf einer Fläche von 2,39 Quadratkilometern.“
Nach der kurzen Einführung geht es los. Sofort bekommen die Touristinnen und Touristen einen Eindruck vom chaotischen Treiben, das so typisch für das Viertel ist. Die schmalen Gassen sind beidseitig von Geschäften mit ausladenden Auslagen gesäumt. Über den Köpfen der Menschen kreuzen sich Drähte; Fahrräder, Mopeds, Autos, Lieferwagen rauschen vorbei. Das Viertel pulsiert mit Leben, und überall scheint es Handel zu geben. Adrian Chruscinski aus Polen will mit gezückter Kamera alles einfangen. „Das ist ein Ort, den man gesehen haben muss“, sagt er. „Ich drehe kleine YouTube-Filme, um sie meinen Freunden und meiner Familie zu Hause zu zeigen.“
Schwerpunkt der Tour durch Dharavi – laut Varsha der drittgrößte Slum der Welt und der größte Indiens – sind die zahlreichen hier ansässigen Gewerbe: Plastik-, Metall- und Papierrecycling, die Herstellung von Bekleidung, Rucksäcken, Koffern und Kartonagen; Bäckereien, Ledermanufakturen, kleine Snackfabriken, Werkstätten für Holzschnitzereien, Töpfereien, Seifenproduktion – die Liste ist lang. „Dharavi erwirtschaftet jedes Jahr umgerechnet eine Milliarde US-Dollar“, erklärt Varsha, während sie die Gruppe durch das Viertel führt.
„Aber“, fügt sie hinzu, „die Arbeitenden hier verdienen nur zwischen 180 und 200 US-Dollar, erfahrene Kräfte 300 bis 350 US -Dollar im Monat. Darauf zahlen sie noch Steuern.“ Um die Gruppe nicht allzu sehr zu schockieren, fügt Varsha schnell hinzu: „Viele kommen hierher, weil es in ihren Heimatstädten gar keine Jobs gibt. Sie kommen allein und sparen bei der Miete, damit sie etwas Geld nach Hause schicken können.“ Die „Fabriken“ sind in provisorischen Ladenlokalen untergebracht und beanspruchen oft noch einiges an Platz in den engen Gassen. Überall türmen sich Haufen von sortiertem Plastik und anderen Materialien; das geschäftige Treiben und der Lärm der Maschinen ringsum nehmen kein Ende.
Für die Menschen hier sind die Ausländerinnen und Ausländer, die ihr Leben bestaunen, nichts Neues. Dharavi ist eines der meistbesuchten Touristenziele in Indien. Die Reisewebsite TripAdvisor.com kürte es 2019 laut Medienberichten sogar zum besten Besuchererlebnis des Landes. Damit stach das Viertel sogar den Taj Mahal aus. Inzwischen gibt es zahlreiche Anbieter, die täglich mehrere Touren durch Dharavi im Programm haben. Die Kosten liegen zwischen 800 und 2.000 Rupien (etwa neun und 23 Euro). Alle Reiseleiterinnen und Reiseleiter haben feste Routen durch das verwirrende Labyrinth von Dharavi und stille Übereinkünfte mit den Betrieben. Die meisten Bewohner und Bewohnerinnen interessieren sich daher nicht groß für die Besuchenden und arbeiten einfach weiter, im Wissen, dass Augen und Kameras auf sie gerichtet sind. Einige sitzen in den Pausen herum, machen ein Nickerchen oder telefonieren.
Als die Gruppe zufällig auf eine Mutter und ihre zwei Töchter trifft, die sich die Haare frisieren, posieren sie für Fotos mit den Fremden. Sie kennen Varsha, daher macht es ihnen nichts aus. Aber nicht alle Menschen aus Dharavi sehen das Ganze so locker: „Natürlich mag ich es nicht, wenn Touristen uns so verlottert in Arbeitskleidung fotografieren. Und sie fragen nur sehr selten, bevor sie ein Foto machen“, sagt Aladin, der seinen Nachnamen nicht nennen will. Er arbeitet in einer Anlage, in der Kunststoffe sortiert und anschließend recycelt werden. „Aber genau diese Bilder wollen die Touristen machen und zu Hause zeigen. Sie wollen zeigen, wie wir im Schmutz arbeiten, leben und essen. Was sie nicht sehen können, ist, dass dies ehrliche Arbeit ist, die uns ernährt und die Umwelt rettet.“
Ein anderer Arbeiter, Farooq Sheikh, der Kunststoffsäcke zerschneidet und stapelt, sieht die Sache differenzierter. „Nach dem Film Slumdog Millionaire ist das Interesse von Ausländern an Dharavi regelrecht explodiert. Es ist seltsam, wenn sie in unsere Arbeit und unser Zuhause hineinplatzen und uns anstarren. Manchmal höre ich die Einführungen der Führer auf der Brücke und denke: ‘Was erzählt ihr da?!’ Sie zeichnen ein Bild von Dharavi, das ›zabardast‹ ist – ein Hindi-Wort, das ‘faszinierend’ und zugleich ‘schockierend’ bedeutet. Nur um die Leute zu unterhalten und ein wenig zum Narren zu halten, um ihre Neugier zu wecken. Aber die Tourführer kommen selbst aus Dharavi, und das ist eine weitere Einnahmequelle für sie, also lasse ich es ihnen durchgehen.“
Auch Varsha stammt aus dem Viertel. Für sie ist es ein guter Teilzeitjob, den sie neben ihrem Studium ausüben kann. Das Gehalt ist nicht hoch, aber ausreichend. Bei einer bestimmten Anzahl guter Bewertungen bekommt sie bezahlten Urlaub. Während der Tour versucht sie immer wieder, den Teilnehmenden mögliche Bedenken zu nehmen. Sie erklärt, dass sich die Menschen dort durch die Besucher nicht belästigt fühlen. „Sie freuen sich, den Leuten die Realität von Dharavi zu zeigen“, sagt sie.
Die Tour führt weiter in die Wohnviertel der informellen Siedlung. Wir gehen durch eine Art Korridor, in dem sich auf beiden Seiten Türen direkt aneinanderreihen. Da die Häuser hier eng aneinandergebaut sind, ohne Belüftung und Tageslicht, stehen sie meist offen. Einige Korridore sind so schmal, dass nur eine Person hindurchpasst. „Die Touris sind harmlos, und manche von uns mögen die Aufmerksamkeit“, sagt Kalima Sheikh. Sie sitzt auf der Treppe vor der Tür ihrer Freundin, Shama Khan, die gerade Chapatis, eine Art Fladenbrot, zubereitet. Die ist anderer Meinung: „Sie kommen hierher, um zu sehen, wie wir in Armut leben“, sagt sie vehement. „Woanders würden sie das nicht tun. Es ist eine Art Demütigung, sie blicken auf uns herab.“
Shama hat nicht unrecht: Armut wird hier zur Schau gestellt und ist auch einer der Gründe, weshalb Touristen das Viertel besuchen. Przemka Kimszal, ebenfalls aus Polen, erklärt, dass sie durch die Tour ihre eigenen Privilegien mehr schätzen lernen will: „Die Menschen im Westen leben im Wohlstand, aber sie sind nicht glücklich“, erklärt sie. Sie besucht Mumbai mit einem Freund und dessen zehnjährigem Sohn Theo. „Er beschwerte sich, dass sein Handy zu alt sei“, erzählt sie. „Ich wollte ihn hierherbringen, damit er sieht, dass es noch andere Prioritäten gibt.“
Das ist wiederum eine grob vereinfachende Sichtweise. Denn die meisten Bewohnerinnen und Bewohner von Dharavi haben selbst Smartphones und genießen materialistische Freuden. Die meisten haben bei der Arbeit einen Bluetooth-Kopfhörer im Ohr, Kinder spielen auf ihren Handys. Insgesamt werden die Führungen durch informelle Siedlungen in Indien immer wieder als „Armutstourismus“ kritisiert und diskutiert: Im März 2024 löste die US-amerikanische Influencerin Tara Katims eine Kontroverse aus, als sie ihren Besuch Dharavis auf TikTok dokumentierte und oberflächlich begeistert darüber berichtete. Das Video stieß bei vielen Zuschauenden auf Ablehnung.
Doch Tourunternehmen halten dagegen. „Ausländer kommen mit dem Vorurteil her, dass Dharavi ein schlechter Ort sei. Sie kommen, um zu sehen, ob das stimmt“, so Alkama Ansari, Führerin bei Inside Mumbai Tours. „Sie stellen dann fest, dass es ein Zentrum für Jobs und Geschäfte ist.“ Viele der angebotenen Dharavi-Touren werben mit diesem pädagogischen Narrativ und bezeichnen ihre Touren als „Augenöffner“. Auf der Website von Magical Mumbai Tours heißt es: „Wenn Sie durch die labyrinthartigen Gassen schlendern und das geschäftige Treiben beobachten, werden Sie den Einfallsreichtum und die Entschlossenheit der Gemeinschaft zu schätzen lernen.“ Einige Anbieter behaupten sogar, dass sie den Bewohnern und Bewohnerinnen grundsätzlich zwanzig Prozent ihrer Einnahmen zukommen ließen – wobei das in Dharavi teilweise angezweifelt wird.
Tatsächlich ermöglicht Varshas Tour den Teilnehmenden eine neue Sicht auf das Viertel. „Hier herrscht eine erstaunliche Ordnung, obwohl es zunächst chaotisch wirkt“, sagt Adrian. Er ist fasziniert davon, wie jede Gasse auf eine Facette eines bestimmten Gewerbes spezialisiert scheint. Adrians Frau Kasia Ciechanowicz-Chruscinski stimmt ihm zu: „Anfangs habe ich gezögert, an dieser Tour teilzunehmen, weil es sich ein bisschen so anfühlte, als würden wir Tiere im Zoo bestaunen“, sagt sie am Ende der Tour, als sie die Brücke nach Mahim West überquert. „Jetzt fühle ich mich nicht mehr schlecht. Ich habe die Menschen nicht bemitleidet, die Tour hat mir einen Einblick gegeben, wie unterschiedlich Menschen leben.“ Welche Absichten die Touranbieter auch immer haben mögen, den Klischees vom „Elendsviertel“ widersetzt sich Dharavi an jeder Ecke.
Aus dem Englischen von Claudia Kotte