Hautnah schreiben

Helon Habila bei einem Vortrag in Abuja
Foto: Privat
Ich wurde 1967 in Kaltungo geboren, einem Dorf im Bundesstaat Gombe im Nordosten Nigerias. Im gleichen Jahr begann der Biafra-Krieg, ein Bürgerkrieg um die Unabhängigkeit des südöstlichen Teils des Landes. Mein Vater zog in den Kampf, während meine Mutter sich auf meine Geburt vorbereitete. Damals war alles im Umbruch: Erst sieben Jahre zuvor, 1960, war Nigeria unabhängig geworden. Als der Krieg 1970 endete, mussten die Menschen erst einmal lernen, in einem Staat zusammenzuleben.
„Unsere Politik und unser Bildungssystem waren geprägt von der britischen Kolonialherrschaft“
Unsere Politik und unser Bildungssystem waren geprägt von der britischen Kolonialherrschaft. In der Schule sprachen wir Englisch, meine Muttersprache war aber Hausa. Das führte dazu, dass ich die Welt dualistisch wahrnahm. Damals lebten wir in einer großen Siedlung mit vielen anderen Familien. Wir Kinder versammelten uns oft, um den Volksmärchen über Tiere zu lauschen, die die Frauen erzählten. Es wurde viel gesungen und getanzt: Es war reines Theater. Ich glaube, durch diese Erfahrungen habe ich gelernt, in meiner Fantasie zu reisen. Es fiel mir aber schwer, all diese Eindrücke auf Englisch zu verarbeiten, einer Sprache, die mir aufgezwungen wurde. In meinen Schulbüchern lernte ich Dinge kennen, die ich nie selbst erlebt oder gesehen hatte, wie Schnee und Eis. Ich habe viel auf Englisch gelesen und war ein ruhiges, aufmerksames Kind.
Ich erinnere mich an die Soldaten, die aus dem Krieg zurückkamen. Richtig verstanden habe ich die Politik aber erst, als ich Student an der Universität von Jos wurde. Dort studierte ich Literatur und las Chinua Achebes Klassiker „Things Fall Apart“ („Alles zerfällt“), parallel zu Werken von Charles Dickens oder Edward Said. Ich begann zu dieser Zeit, über Kolonialismus und „race“ nachzudenken, zunächst nur theoretisch. Aber als ich dann als Journalist in die Hauptstadt Lagos zog, begegnete ich diesen Themen schon bald aus erster Hand. Es waren Jahre der politischen Spannungen und Unsicherheit. Eine Militärdiktatur schien die nächste abzulösen.
Demonstranten in Lagos bejubeln das Ende des Biafra-Krieges, 1970
Foto: Bettmann / Getty Images
Während dieser Zeit veröffentlichte ich einige Kurzgeschichten und Gedichte in Zeitungen. Ich hatte schon in der Schule geschrieben und wusste, dass ich Schriftsteller werden wollte. Mein erstes Buch war eine Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel „Prison Stories“. Eine davon, „Love Poems“, wurde mit dem Caine Prize for African Writing ausgezeichnet, später wurde daraus mein Roman „Waiting for an Angel“. Darin geht es um einen jungen Mann, der inhaftiert wird, weil er Journalist ist. Das war aus meinem Leben gegriffen: Ich hatte selbst erlebt, wie Kollegen verhaftet, einige von ihnen sogar getötet wurden und wie Zeitungshäuser schließen mussten. Das waren schreckliche Erfahrungen, aber sie waren auch Material für einen jungen Schriftsteller.
Als ich den Caine-Preis gewann, erhielt ich ein Stipendium an der University of East Anglia in England. Ich zog nach Norwich und lernte die Literaturszene kennen. Außerdem erlebte ich einen kompletten Kulturschock. Ich konnte das Englisch nicht verstehen, das die Leute sprachen. Auch das Essen war neu für mich. Und das Wetter! Es war gut zum Schreiben, aber sonst wenig brauchbar. Zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich auch, was es heißt, Teil einer Minderheit zu sein. Ich erhielt sozusagen eine Ausbildung in Sachen „race“, Heimat und Zugehörigkeit. In Großbritannien schrieb ich meinen zweiten Roman „Oil on Water“ („Öl auf Wasser“) und wurde als Chinua Achebe Fellow nach Amerika eingeladen. Ich kam 2007 in den USA an, in der Zeit, in der Obama gefeiert wurde. Hoffnung und Optimismus waren allgegenwärtig. 2013 zog ich für ein Jahr nach Deutschland. Das inspirierte mich zu einem Buch, das in Deutschland spielt. „Travelers“ („Reisen“), das 2019 erschien, basiert auf den Geschichten von Menschen, die ich während meiner Zeit in Europa kennenlernte.
„Manchmal braucht es Zeit, um Dinge zu verarbeiten und zu reflektieren“
Derzeit unterrichte ich Kreatives Schreiben an der George Mason University in Virginia in den USA. Mit Trump erleben wir hier gerade einen intensiven politischen Backlash. Ich bekomme diesen Wandel hautnah mit, war aber noch nicht in der Lage, darüber zu schreiben. Manchmal braucht es Zeit, um Dinge zu verarbeiten und zu reflektieren.
2024 war ich in Berlin, um das Internationale Literaturfestival zu kuratieren. So etwas hatte ich vorher noch nie gemacht. Ich habe dafür Autoren und Autorinnen aus verschiedenen Kontexten eingeladen, die sich nicht scheuen, kontroverse Themen anzusprechen. Das Leitmotiv des Festivals war „Strange New World“. Im Moment müssen wir das anwenden, was ich „instrumentelle Ästhetik“ nenne. Gerade jetzt sollte das, was wir schreiben, einen sinnvollen Beitrag zu übergreifenden kulturellen und politischen Diskussionen leisten. Bücher müssen Instrumente sein.
Protokolliert von Jess Smee
Aus dem Englischen von Julia Stanton