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Wie eine Messe mit Klischees über Favelas aufräumt

Arm und kriminell, das ist das Klischee über Favelas. Doch in Wirklichkeit sind sie ein riesiger Business-Hub. Wie die Messe Expo Favela Unternehmen in den informellen Siedlungen Brasiliens fördert.
Die Favela Cidade de Deus in Rio de Janeiro erstreckt sich inmitten grüner Hügel in die Höhe

Die Favela Cidade de Deus: Immer mehr Menschen aus den informellen Siedlungen Brasiliens gründen Unternehmen

An einem brütend heißen Dezembermorgen startete Mateus de Lima in Marcone, einer Favela im Norden von São Paulo, mit gespannter Vorfreude in den Tag. Endlich sollten die Ergebnisse eines prestigeträchtigen weltweiten Wettbewerbs für Unternehmerinnen und Unternehmer bekanntgegeben werden. Zu gewinnen war die Teilnahme an einem Förder-programm an einer US-Elite-Uni. Doch Mateus de Lima bekam eine Absage – und war am Boden zerstört.

„Man sagte mir, mein Pitch sei viel zu stark auf die Favela-Gemeinschaft ausgerichtet. Das war einer der schlimmsten Tage meines Lebens“, erinnert sich Lima. Er ist CEO der Firma Todas Por Uma („Alle Für Eine“), die eine App entwickelt hat, mit der man Fälle von häuslicher Gewalt in einem vertrauenswürdigen Netzwerk melden kann. Zusätzlich bietet die Firma KI-fähige Chips an, die sich in Geräte einbauen lassen und Alarm auslösen, sobald ein Angreifer einem das Handy wegnimmt.

Einen Monat nach der Absage sah Lima im Fernsehen einen Spot, in dem dazu aufgerufen wurde, sich für die Teilnahme an der ersten Expo Favela zu bewerben. Mit der Messe soll eine Brücke zwischen formeller Stadt und den Favelas geschlagen werden. Das Leben in diesen Vierteln ist einerseits von schlechten Wohnverhältnissen, unzureichender Grundversorgung und hoher Kriminalität geprägt, andererseits sind viele Favelas auch ein Nährboden für Kreativität und Unternehmergeist.

Es gibt immer mehr junge Firmengründerinnen und -gründer, die dort aufgewachsen sind und Projekte auf die Beine stellen. Mal werden diese sehr gezielt auf die konkreten Bedürfnisse in diesen Siedlungen ausgerichtet, wie bei Mateus de Lima, mal geht es um eine allgemeinere Nachfrage und größere Märkte. Die Macherinnen und Macher der Expo Favela wollen Führungskräfte von traditionellen Unternehmen mit Gründerinnen und Gründern aus den informellen Siedlungen zusammenbringen, die Zusammenarbeit zwischen ihnen fördern und dadurch ihre Chancen und Möglichkeiten verbessern. Die erste dieser Messen fand 2022 in São Paulo statt und lockte Zehntausende Teilnehmende an – ein deutliches Indiz für das Potenzial, das in den Vierteln schlummert.

Lima bewarb sich und schaffte es in einem Wettbewerb der Expo für Unternehmen aus Favelas in ganz Brasilien in das Finale der besten zehn. Auf dem Podium erklärte er stolz, sein Start-up richte sich an seine Community, die Favela – und dieses Ziel habe er erreicht.

„Man sagte mir, mein Pitch sei viel zu stark auf die Favela-Gemeinschaft ausgerichtet.“

„Dieser Moment war ein Wendepunkt. Ich erkannte in jedem dieser Unternehmer mich selbst wieder“, berichtet Lima. Mittlerweile arbeitet er gemeinsam mit großen Kosmetikkonzernen daran, seine Warnchips auch in Make-up-Produkte einzubauen. 

Mateus de Lima ist einer von vielen, dessen Leben sich durch die Expo verändert hat. Die treibende Kraft dahinter ist die NGO Central Única das Favelas (CUFA), die sich für gesellschaftliche Inklusion engagiert. Ihr Gründer Celso Athayde weiß, wovon er redet: Er stammt selbst aus einer Favela. 

Der Unternehmer, der 2022 beim Weltwirtschaftsforum in Davos von der Schwab Foundation for Social Entrepreneurship ausgezeichnet wurde, kam in der „Sapo“ (brasilianisch für „Kröte“), einer Favela in Rio de Janeiro, zur Welt. Jahrelang lebte Athayde auf der Straße, handelte mit allem Möglichen, um sich über Wasser zu halten, und arbeitete für Bandenführer des organisierten Verbrechens. Er hatte Angst, dass er spätestens mit 18 Jahren ein toter Mann sein würde.

Sein Leben nahm eine Wendung, als er Zeca kennenlernte. Der Kaufmann aus seiner Gegend überzeugte ihn, dass das Leben mehr zu bieten hat als eine Existenz auf der Straße. Athayde stieg in die Hip-Hop-Szene ein und arbeitete schließlich als Produzent für berühmte Rapper wie Racionais MCs und MV Bill. Mit MV Bill gründete er 1999 CUFA, um die Lebensbedingungen in den Favelas zu verbessern. Allein während der Coronapandemie sammelte die Organisation zusammen mit Stars aus Film und Musik über eine Spendenkampagne 400 Millionen Reais (mehr als sechzig Millionen Euro) und unterstützte über 13 Millionen Bedürftige in brasilianischen Favelas, vor allem Mütter.

„Die Investoren haben das Potenzial von Favelas noch nicht voll erkannt“

Mit Expo Favela will er ein grundsätzliches Umdenken bewirken – ein Nein zum Mangel und ein Ja zu den Kräften, die in diesen Gemeinschaften stecken. „Die Investoren haben das Potenzial, das in Favelas schlummert, noch nicht voll erkannt“, meint Athayde. „Wir müssen aufhören, Favelas als Räume der sozialen Benachteiligung zu sehen, und ihren Unternehmer- und Innovationsgeist begreifen. Dieses Narrativ umdrehen – das ist eine wesentliche Voraussetzung für Veränderung.“

Die Expo wächst und wächst, regionale Messen gibt es mittlerweile in 24 brasilianischen Bundesstaaten und darüber hinaus. Im Oktober fand ein Event in Paris statt, bei dem Unternehmer aus informellen Siedlungen und Investoren zusammenkamen, genau wie in Brasilien. 

Athayde ist derzeit auf Tour in den 49 Ländern, in denen CUFA aktiv ist. Das Ziel: Die Veranstaltungen sollen weltweit stattfinden und irgendwann in einem großen Finale samt Wettbewerb in New York gipfeln. 

„Unsere Zukunftsvision ist, dass die Expo Favela sich zu einem weltweiten Forum entwickelt, das Favela-Unternehmen aus allen Teilen der Welt miteinander vernetzt und so stärkt“, ergänzt Athayde. „Es gibt viele marginalisierte Gemeinschaften, die voneinander lernen können.“

Die Expo bietet nicht nur ein Forum für Zusammenarbeit, sondern auch ein Mentoring für vielversprechende Unternehmerinnen und Unternehmer. Sie bietet außerdem mehr Sichtbarkeit: zum Beispiel durch eine Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Mediengiganten Globo, der einen Wettbewerb zwischen Favela-Unternehmern im Format einer Realityshow in Szene gesetzt hat. 

„Wir sorgen dafür, dass die Unternehmen die Ressourcen und die Beratung bekommen, die sie brauchen, damit sie ihr Geschäft ausbauen können“, so Athayde.

Für Michela Galvão war diese Beratung essenziell. Sie lebt in Belo Horizonte und baut gemeinsam mit ihrer Schwester Rita die Plattform „Impacto Coletivo“ auf, die mithilfe neuer Technologien Unternehmerinnen in Favelas und anderswo berät und schult. Die Plattform soll 2025 starten und wird sowohl E-Learning-Angebote als auch einen Marktplatz beinhalten, auf dem sich Unternehmerinnen mit ihren Kompetenzen präsentieren können.

Für die Gründerin kam die Expo Favela wie gerufen. „Nach der Messe in Belo Horizonte wurde mir klar, dass ich mein Konzept professionalisieren und mich mit den bürokratischen Aspekten auseinandersetzen musste, um Zugang zu Ressourcen zu bekommen“, berichtet Galvão. Die Krönung ihrer Teilnahme an dem Event war der erste Preis im Regionalwettbewerb.

„Es gibt viele marginalisierte Gemeinschaften, die voneinander lernen können“

Trotz aller Erfolge steht die Expo vor Herausforderungen. Eine Sorge ist die Gefahr einer Gentrifizierung – größere Unternehmen könnten sich die Innovationen aus den Favelas unter den Nagel reißen. „Risiken gibt es immer, aber davon dürfen wir uns nicht lähmen lassen“, erklärt Athayde.

Um die Gefahr zu minimieren, haben die Macherinnen und Macher der Business-Messe Vorkehrungen getroffen, damit die Gemeinschaft die Kontrolle über ihr unternehmerisches Ökosystem behält. Über Initiativen wie die Favela Funds will man die Investitionen direkt zu den Favela-Unternehmen lenken, sodass sie weniger abhängig sind von externen Akteuren, die ihnen die Konditionen diktieren könnten.

Eine andere Herausforderung besteht darin, weitere Investoren zu gewinnen. „Wir beobachten mehr Neugier und Interesse als Investitionen“, konstatiert Katrine Scomparin, Mitgründerin des Logistik-Start-ups NaPorta. Das Unternehmen hat sich auf schwer erreichbare Gebiete spezialisiert, darunter auch Favelas in São Paulo und Rio de Janeiro. Wegen schwieriger Straßenverhältnisse und der Kriminalität in abgelegeneren Vierteln oder Gebieten scheuen sich viele größere Logistikunternehmen, Waren dorthin zu liefern. 

Bei NaPorta nutzt man moderne Technologien und weist den Kunden digitale Koordinaten zu, damit man sie auch dann findet, wenn sie keine Adresse mit Straßenname und Hausnummer haben. Obendrein werden Kuriere eingesetzt, die aus den betreffenden Zustellgebieten stammen, womit man den Bewohnerinnen und Bewohnern der Favelas den Zugang zum Onlinehandel erleichtert und zugleich die lokale Wirtschaft ankurbelt. Auch bei NaPorta hat man den Ehrgeiz, weltweit zu expandieren. 

„Wir leisten Pionierarbeit, aber wohin sich die Produkte und Dienstleistungen der Unternehmer entwickeln, haben wir nicht allein in der Hand“

Das Unternehmen hat bereits an vier Expo-Favela-Messen in São Paulo und Rio de Janeiro teilgenommen. Katrine Scomparin sagt allerdings, dass ihre Firma in Zukunft wohl erst dann wieder dabei sein werde, wenn die Messe sich konkreter auf das Geschäftliche fokussiert. „Für ein Start-up muss jede Minute, die es auf einer Messe verbringt, einen greifbaren Nutzen bringen, und das sehen wir bei der Expo Favela bis jetzt noch nicht“, sagt Scomparin.

Celso Athayde von CUFA sieht die Expo als eine Plattform, die sich stetig weiterentwickelt und bei jedem Event dazulernt. Zugleich akzeptiert er, dass es Hürden zu überwinden gibt, besonders beim Anwerben von Investitionen. Dies sei, wie er betont, ein laufender Prozess.

„Dass Menschen frustriert sind, weil sie keine Finanzierung bekommen, können wir nachvollziehen, aber wichtig ist, aus den Erfolgsgeschichten zu lernen. Wir leisten Pionierarbeit, aber wohin sich die Produkte und Dienstleistungen der Unternehmer entwickeln, haben wir nicht allein in der Hand.“

Dass es Expo Favela überhaupt gebe, sei schon ein bedeutender Erfolg, meint Athayde. Und dass Dinge sich entwickeln müssen, sei ganz natürlich. Anlegerinnen und Anleger – ob Einzelpersonen oder Investmentfonds – sollten sich stärker auf das einstellen, was in Slums produziert wird, „auch wenn Favela-Start-ups in diesem Stadium nicht so raffinierte Hochglanzprodukte herstellen, wie manche vielleicht erwarten“.

Athayde ist sich bewusst, dass das Projekt einen langen Atem erfordert. Es lohne sich aber, auf dem eingeschlagenen Weg voranzugehen. „Wenn die formelle Stadt erkennt, welche Rolle sie bei der Erweckung dieser Unternehmen spielen kann, erreichen wir vielleicht irgendwann eine echte Chancengleichheit.“

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld