Bangladesch

24 Stunden in Mansur Miah's Basti

Etwa die Hälfte der urbanen Bevölkerung Bangladeschs lebt in informellen Siedlungen; vier Millionen allein in Dhaka. Wie erleben die Menschen dort ihren Alltag?
Jahangir, seine Frau Sathi und seine Tochter Zeba sitzen vor dem Laden der Familie.

Die Familie Alam sitzt vor dem kleinen Laden, den sie in der informellen Siedlung Mansur Miah's Basti in Dhaka betreiben.

In einem dunklen, siebeneinhalb Quadratmeter großen Zimmer werden Jahangir Alam, seine Frau Sathi und ihre achtjährige Tochter Zeba frühmorgens von den Nachbarn geweckt. Einige von ihnen scheinen sich draußen zu streiten, ihre Stimmen dringen durch die dünnen, verrosteten Wände der Blechhütte. Es ist ein Wochentag im Oktober, draußen geht langsam die Sonne auf.

Die Familie lebt in Mansur Miah’s Basti, einer planlos wachsenden informellen Siedlung im Stadtteil Beribadh Hazaribagh in Dhaka, wo etwa 300 Menschen in sechzig Zimmern wohnen. Sie liegt in der Nähe des Flusses Buringanga, der durch die Hauptstadt fließt. Der Raum ist spärlich möbliert: Die Familie teilt sich eine auf dem Boden liegende Doppelmatratze, daneben lehnt ein gebrauchtes Stahlregal an der Wand, am Eingang steht ein alter Tisch. Die monatliche Miete beträgt 1.800 Taka, rund 14 Euro. Die meisten Nachbarn sind Rikschafahrer, Hausierer oder Dienstmädchen. Jahangir und Sathi betreiben einen Lebensmittelladen in der Nähe ihres Zuhauses. Seit drei Jahren leben sie hier.

Sathis Tag beginnt um sechs Uhr morgens. Draußen krächzen Krähen, der Geruch einer nahegelegenen Mülldeponie liegt in der Luft. Sathi reiht sich in die Schlange vor den Toiletten ein. Für alle Bewohner stehen zehn Toiletten zur Verfügung. Obwohl die nächste in der Nähe ihrer Hütte steht, muss Sathi dreißig Minuten warten, bis sie an der Reihe ist. Um sich die Zeit zu vertreiben, unterhält sie sich mit den anderen über ihre Kinder und Familienstreitigkeiten. Einer der Nachbarn habe eine außereheliche Affäre, flüstert jemand geheimnisvoll.

Unterdessen geht die Sonne auf und taucht die Häuser in ein mattes Orange. Zu Hause hilft Sathi ihrer Tochter, sich für die Schule fertig zu machen. Die Achtjährige besucht eine Madrasa, eine Koranschule, für die Jahangir 2.000 Taka, etwa 15 Euro pro Monat zahlt. „Dort kann sie fast den ganzen Tag bleiben, bekommt kostenlos Mittagessen, einen Nachmittagssnack und ein sauberes Bett für den Mittagsschlaf“, erklärt Sathi. Sie bringt Zeba zur Schule, die etwa fünf Gehminuten entfernt ist, und öffnet dann ihren Laden, die einzige Einkommensquelle der Familie. Noch läuft das Geschäft schleppend, die meisten Kunden werden erst später eintreffen.

Mansur Miah's Basti, eine planlos wachsende informelle Siedlung in Dhaka

Mansur Miah's Basti ist eine planlos wachsende informelle Siedlung in Dhaka. Die Familie Alam lebt dort seit drei Jahren

Für den 45-jährigen Jahangir und die 37-jährige Sathi unterscheidet sich ihr heutiges Leben im Slum sehr von ihrem früheren: Jahangir arbeitete über zwanzig Jahre im Oman, wo er eine Baufirma und einen Supermarkt betrieb. Während der Pandemie musste die Familie nach Bangladesch zurückkehren, da sie sich wegen des strengen Lockdowns verschuldet hatte.

Zwischen März 2020 und Juni 2021 kehrten rund 500.000 im Ausland lebende bangladeschische Arbeitskräfte wegen der Pandemie in ihr Heimatland zurück. Viele von ihnen landeten in Dhaka. Die meisten, wie Jahangir und Sathi, hatten keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung. Sie sind nicht die Einzigen, die in den letzten Jahren in die Stadt gezogen sind. Bangladesch erlebt eine rasante Urbanisierung. Nach Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen wuchs die Slumbevölkerung in Dhaka zwischen 2010 und 2020 um zwanzig Prozent. Jedes Jahr kommen über 400.000 Menschen nach Dhaka, die meisten von ihnen sind Binnenmigrantinnen und Binnenmigranten, die vor den Auswirkungen des Klimawandels fliehen. Bangladesch wird immer wieder von extremen Hitzewellen sowie tropischen Wirbelstürmen und Überschwemmungen heimgesucht. Da ein großer Teil des Landes nur wenige Meter über dem Meeresspiegel liegt, droht ein Fünftel der Landesfläche dauerhaft überflutet zu werden. 

Auch für die Familie Alam war der Umzug schwierig. Sathi sagt, sie fühle sich oft hilflos, sei aber entschlossen, sich anzupassen. Mit der Hilfe eines Cousins zogen sie in eine gemietete Blechütte in Mansur Miah’s Basti. Ihr Vermieter bot ihnen eine an die informelle Siedlung angrenzende Wellblechhütte als Ladenlokal an. Anfangs verkaufte Jahangir vor Ort recyceltes Plastikspielzeug, doch weil das Geschäft nicht gut lief, wechselte er mithilfe einer örtlichen NGO zu Lebensmitteln. Das Einkommen ist bescheiden, aber relativ regelmäßig. 

Dhakas Slum-bevölkerung wuchs zwischen 2010 und 2020 um 20 Prozent

An diesem Oktobermorgen sind Sathi und Zeba längst aufgebrochen, als Janghir aufsteht. Er ist noch müde von der vergangenen Nacht, weil er gestern spät von der Arbeit kam. Gähnend läuft er zur nahegelegenen Toilette, wo die Schlange jetzt nicht mehr so lang ist. Er macht sich frisch und geht dann nach Hause, um ein einfaches Frühstück zu sich zu nehmen. Normalerweise isst er morgens etwas Gebäck mit Tee. Heute entscheidet er sich stattdessen für Panta, gekochten, eingeweichten Reis mit grünem Chili und Salz; ein beliebtes Frühstück für Familien, die keinen Kühlschrank zu Hause haben. Gegen elf Uhr löst er seine Frau im Laden ab.

Die Familie Alam sitzt vor ihrem Laden

Jahangir und seine Frau Sathi verbringen die meiste Zeit ihres Tages in dem Laden, den sie betreiben. Ihre Tochter Zeba ist den ganzen Tag in der Schule

Sathi macht sich nun auf den Weg zur Gemeinschaftsküche. Heute bereitet sie Reis mit Linsen und Gemüse für das Mittag- und Abendessen zu. Als sie ankommt, ist der kleine Raum voller Menschen und vom Rauch des Feuerholzes erfüllt. Die Wände sind schwarz verrußt. Ein älterer Mann kocht Gorur Chhat, Reste von verarbeitetem Rindfleisch; eine Gruppe von Frauen bereitet Reis-Linseneintopf, gebratenen Bitterkürbis, Spinat und Reis zu. Die Aromen der verschiedenen Speisen mischen sich in der Luft und erzeugen einen eigentümlichen Geruch. Da es nicht viel Platz gibt, sind Streitereien unter den Köchinnen an der Tagesordnung. Wie bei den Toiletten muss Sathi auch bei den Gemeinschaftsöfen warten, bis sie an der Reihe ist. Sie kocht – wie alle anderen Familien – mit Brennholz, das teurer geworden ist: „Wir können uns den Brennstoff für mehrere Mahlzeiten am Tag nicht mehr leisten“, sagt Sathi. Zum Kochen braucht sie im Monat mindestens achtzig Kilogramm trockenes Holz, das 1.200 Taka (etwa neun Euro) kostet.

Wenn das Mittagessen fertig ist, bringt sie es Jahangir. Gemeinsam essen sie auf einer Bank vor dem Laden. Im hektischen Alltag finden sie hier Zeit, sich zu unterhalten und Tee zu trinken. »Das ist erfrischend«, sagt Jahangir lächelnd. Zu Hause hätten sie wenig Privatsphäre: „Wir streiten uns noch nicht einmal, weil die Nachbarn uns hören würden“, sagt Sathi. In den letzten Jahren hat sich ihr Laden zu einem Treffpunkt der Gemeinschaft entwickelt. Nachmittags kommen einige Kundinnen und Kunden, meist aus der Nachbarschaft, auf einen günstigen Imbiss oder einen Plausch vorbei. Die meisten sind erschöpft vom Tag und suchen in dem LED-beleuchteten Raum einen Moment der Ruhe und Wärme. Einige sitzen auf Bänken im hinteren Teil des Ladens und schauen sich auf einem kleinen Fernseher Filme in Bangla und Hindi an. Andere wetten bei Onlinespielen.

Gegen zwanzig Uhr holt Sathi Zeba von der Schule ab und bringt sie nach Hause. Beim Abendessen erzählt das Mädchen aufgeregt von ihrer besten Freundin Fatema, die ganz in der Nähe wohnt, und davon, dass es heute Fisch zu Mittag gab. Während sich die anderen bettfertig machen, lässt Jahangir seinen Laden bis zwei oder drei Uhr morgens geöffnet, in der Hoffnung, noch späte Kunden anzulocken. Er sorgt sich um sein Geschäft. Vor sieben Tagen hat er hundert Eier gekauft und bis jetzt nur zwei davon verkauft.

Für Jahangir und Sathi unterscheidet sich ihr Leben im Slum sehr von ihrem früheren

Vor dem Laden hat sich eine Gruppe junger Männer versammelt, lautstark diskutieren sie über eine Polizeiaktion, die kürzlich in einem nahegelegenen Slum stattgefunden hat. Jahangir weiß, dass die Männer das WLAN des Ladens nutzen, um Online-Spiele zu spielen, aber er kann weder Internetgebühren von ihnen kassieren noch viel gegen sie unternehmen. „Oft weigern sie sich, für Essen oder Tee zu bezahlen, aber ich will sie nicht verärgern“, seufzt er. Und das ist nicht das einzige Problem.

Jahanghir befürchtet zudem, dass die Straße, die zu dem Geschäft führt, in einem so schlechten Zustand ist, dass es Leute von seinem Laden fernhält: „Warum sollten die Leute durch Abwasser waten, um ein paar Dinge zu kaufen?“ Der kleine Kundenstamm, der hauptsächlich aus Nachbarn besteht, bringt kaum genug ein, um den Laden am Laufen zu halten. Gegen drei Uhr morgens sperrt Jahangir seinen Laden zu und kehrt in der Dunkelheit nach Hause zurück. Dort isst er die restlichen Linsen und den Reis und legt sich neben Zeba und Sathi schlafen.