„Wie definieren wir Zugehörigkeit?“
Frau Abbas, auf den ersten Seiten Ihres Romans geht es um Gerüchte über den Fund einer Leiche. Wofür steht sie?
Für mich ist sie eine Metapher für das generelle Scheitern des Nationalstaats, auch als Konzept. Ich habe dieses Buch nach der Abspaltung Südsudans vom Sudan geschrieben, und der Roman spielt während des Bürgerkriegs zwischen dem Norden und dem Süden. Nach der Trennung kam es wieder zu gewaltsamen Konflikten.
Dadurch wurde mir klar, wie beschränkt und überholt das Modell des Nationalstaats ist. Es ist sozusagen „dead on arrival“, denn es basiert auf Ausgrenzung, Ausbeutung und Machtpolitik. Eine Hinterlassenschaft des Kolonialismus, die dazu führt, dass die Gewalt nie aufhört.
Über die Leiche gibt es zunächst nur Spekulationen. Sie ist wie ein böses Omen, das über Ihrem Roman schwebt. Warum wird sie nicht identifiziert?
Sie ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Niemand weiß, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt und zu welcher ethnischen Gruppe sie oder er gehört. Der Leichnam stellt die Frage in den Raum, wie wir eigentlich Identität und Zugehörigkeit definieren. Gleichzeitig ist die Leiche natürlich ein sehr drastisches Bild für kriegerische Gewalt – im Sudan und anderswo.
„Mich interessieren Figuren, die den Spagat zwischen zwei Welten wagen“
Alex, eine der Hauptfiguren, ist Geograf und aus Cleveland angereist, um das Gebiet kartografisch zu erfassen. Er erlebt den zu erwartenden Culture Clash, als er ungeduldig darauf wartet, dass ihm die örtlichen Behörden Genehmigungen ausstellen. Symbolisiert die Landkarte eine aufgezwungene westliche Vorstellung von Ordnung und Struktur?
Ich habe ein Jahr bei einer NGO in Sudan gearbeitet und selbst die Erfahrung gemacht, wie im System der Enwicklungszusammenarbeit koloniale Hierarchien nachwirken. Alex, der privilegierte Amerikaner, bringt sein starres westliches, kartografisches Schema mit. Seine Mission ist zum Scheitern verurteilt, denn die Region, die er erfassen will, verändert sich permanent durch den Klimawandel, den Krieg und kulturelle Entwicklungen.
Alex verliebt sich in Dena, eine sudanesisch-amerikanische Filmemacherin aus Khartum. Was ist ihre Rolle?
Dena setzt sich als Künstlerin mit ihrer Heimat auseinander und bringt eine Diaspora-Perspektive ins Spiel. Oft geht es in der Literatur sehr stark um den kolonialen Blick, aber mich interessieren Figuren wie Dena, die den Spagat zwischen zwei Welten wagt.
Es gibt eine gewisse Parallele zwischen ihrem Film und Alex’ Landkarte. Beide kommen als Außenstehende in die Stadt Saraaya und versuchen, sie abzubilden – und auf unterschiedliche Weise scheitern beide. In Gestalt von Dena setze ich mich auch mit meiner eigenen Rolle als Diaspora-Autorin auseinander. Der Roman ist meine Abbildung des Sudan, aber zugleich nur eine von vielen Möglichkeiten, von diesem Land zu erzählen. Deshalb habe ich der Stadt, in der das Buch spielt, einen fiktionalen Namen gegeben
Das NGO-Gelände in Saraaya ist eine sichere Enklave – bis der Krieg ausbricht …
Mit dem Krieg dringt die Gewalt in dieses Gelände ein. Zuerst kommen die Flüchtlinge, dann die Soldaten. Dadurch platzt die Privilegienblase.
Dena ist lesbisch. Die einheimischen Kinder können sich eine Frau ohne Ehemann kaum vorstellen. Aber Dena ist freudig überrascht zu erfahren, dass im Sudan in früheren Zeiten Ehen zwischen Frauen möglich waren.
Wir glauben oft, Queerness sei etwas Modernes aus der westlichen Welt. Dabei gibt es in indigenen Kulturen queere Beziehungen. Für Dena ist die Entdeckung, dass dieser Teil ihrer Identität ebenfalls im Sudan Wurzeln hat, wie ein Geschenk.
Sie selbst wurden im Sudan geboren. Warum haben Sie das Land verlassen?
1989, da war ich sieben Jahre alt, kam Umar al-Baschir an die Macht. Mein Vater war Englischprofessor und politisch aktiv. Als er eine Erklärung gegen die Diktatur unterzeichnete, wurde er verhaftet. Drei Monate hatten wir keine Ahnung, ob er noch lebt, bis meine Mutter erfuhr, dass er im berüchtigten Kober-Gefängnis in Khartum einsaß. Als er endlich auf freien Fuß gesetzt wurde, waren wir im Sudan nicht mehr sicher.
Ich muss im Zusammenhang mit den Debatten um Israel und Palästina oft an die Erfahrungen meines Vaters denken, und daran, wie wichtig es ist, politischen Widerspruch öffentlich äußern zu können – auch jetzt und hier in Deutschland, mitten in Europa. Ich erhebe Einspruch gegen das, was der israelische Staat der Zivilbevölkerung in Gaza antut, und dass Stimmen eines solchen Widerspruchs in Deutschland abgestraft werden.
Der ganze Sinn des Erzählens von Geschichten beruht darin, dass sie vermenschlichen. Wenn man Leuten den Mund verbietet, trägt man dazu bei, dass sie entmenschlicht werden.
Ihre Arbeit an dem Buch war beendet, als es im April 2023 im Sudan zu einem erneuten Gewaltausbruch kam …
Diese neue Phase des Krieges zu verfolgen, bricht mir das Herz. Inzwischen ist im Sudan die größte Flüchtlingskatastrophe der Welt im Gange. Selbst Khartum, von dem alle dachten, dass es im Unterschied zu anderen Landesteilen vor Gewalt geschützt und gewissermaßen immun wäre, ist weitgehend entvölkert und zerstört.
Mein Vater, der nach zehn Jahren im Exil dorthin zurückgekehrt war, und der Rest meiner Familie mussten alles stehen und liegen lassen und unter sehr gefahrvollen Umständen fliehen.
Trotz alledem gibt es in dem Buch viel Hoffnung und Freude.
Es ist unmöglich, über den Sudan zu schreiben und dabei auszulassen, wie sich der Krieg auf das Leben der Menschen ausgewirkt hat. Mir war aber wichtig, dass es außer Elend und Krieg noch etwas anderes gibt, dass auch in Kriegszeiten Menschen zusammenfinden und Momente der Freude und der Verbundenheit erleben. Es geht gar nicht anders.
Das Gespräch führte Friederike Biron, aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld