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Was die Tüte erzählt

Der Philosoph Remo Bodei zeigt, dass die uninspirierendsten Dinge zu uns sprechen können

Eine weiße Plastiktüte schwebt knapp über dem Boden in einem grauen Raum.

Das Leben der Dinge

Lassen Sie mich mit einer Frage beginnen: Welcher Teil eines Besens ist der wichtigste? Der Stiel oder die Borsten? Denken Sie gerne kurz nach und schließen Sie, wenn möglich, die Augen. Sollten Sie einnicken, ist das kein Problem, sondern Remo Bodei, dem Autor von »Das Leben der Dinge«, zufolge geradezu die ideale Voraussetzung, um der Antwort näher zu kommen.

In seinem Buch kommt der Philosoph immer wieder auf die Ränder von Schlaf- und Wachzuständen zu sprechen. Gerade in diesen Zwischenräumen könne jene Trennung zwischen Subjekt und Objekt aufbrechen, die unseren Alltag und unser westliches Selbstverständnis bestimmt – und ein zu überwindendes Problem darstellt. 

Auf knapp 200 Seiten lässt Bodei zahlreiche Geistesgrößen im Schlafrock antreten, damit sie ihrerseits jenes Experiment schildern können, auf das auch Sie sich vielleicht gerade eingelassen haben. Ovid, Homer, Proust und Sartre, später Kant, Arendt und Wittgenstein berichten von der phänomenologischen Grunderfahrung, dass die Dinge in den kurzen Augenblicken des Aufwachens noch beweglich, vielleicht sogar lebendig sind. Ist das dort in der Ecke eine Zimmerpflanze, von der ich noch nichts weiß, ein neuer Riss in der Wand oder ein Besenstiel? Für einen Moment stimmt nichts davon und ist doch zur selben Zeit wahr.

»Das Leben der Dinge« hält dazu an, hinter die Fassade des ersten Eindrucks zu blicken

Um die Dinge auch im Wachzustand »hinterrücks zu erwischen«, leistet Bodei theoretische Vorarbeit. Zentral ist die Klärung der Begriffe »Ding« und »Objekt«. Das »Ding« hat seinen Ursprung im lateinischen »causa«, das etwas bezeichnet, »was wir für so bedeutend und ergreifend halten, dass wir uns für seine Verteidigung einsetzen«. Im Gegensatz dazu leitet sich das »Objekt« über etymologische Umwege vom griechischen Wort »problema« ab, eine »Hürde«, errichtet zu Verteidigungszwecken. Anders als das Ding spricht das Objekt nicht zu uns, sondern steht dem Subjekt entgegen, wie der Autor präzise erläutert.

Auf dieser Rekonstruktion baut Bodei sein Hauptargument auf: dass dieser Antagonismus nicht unauflöslich ist und selbst die uninspirierendsten Objekte zu uns sprechen können, wenn wir mit ihnen in jene Verbindung treten, die Subjekt und Objekt ursprünglich wie Eindruck und Abdruck verbindet. Der Mensch (das Subjekt) sei in der griechischen Philosophie nämlich als das Negativ jener Objekte wahrgenommen worden, die ihn umgaben. Würde dies wieder ins kollektive Gedächtnis kommen, wäre es, so die Hoffnung, vorbei mit Erzeugnissen aus Lieferketten, die am einen Ende Niedrigstpreise und am anderen Tod hervorbringen. Man wäre sich beim Kauf eines Schuhs über den Einfluss bewusst, den dieses Ding auf Selbst und Welt ausübt.

»Das Leben der Dinge« hält dazu an, hinter die Fassade des ersten Eindrucks zu blicken und zu sehen, dass eine unendliche Anzahl von Erlebens- und Bedeutungsschichten selbst unter der profansten Oberfläche liegen kann. In dieser Gedankenspur offenbart sich auch die Antwort auf die Frage nach dem wichtigsten Teil eines Besens: Es gibt nicht nur einen wichtigsten Teil, sondern je nach Betrachtungswinkel ganz verschiedene. Wenn Sie die Überreste einer verunglückten Vase beseitigen wollen, sind die Borsten sicherlich entscheidend. Wenn in Ihrer Wohnung allerdings ein Feuer ausgebrochen ist und Sie sich nur durch das Zerschlagen eines Fensters in Sicherheit bringen können, ist der Stiel relevanter.

Das Leben der Dinge. Von Remo Bodei. Matthes & Seitz, Berlin, 2020.