
Der kanadischer Premierminister Justin Trudeau bei einem öffentlichen Auftritt
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Wenn es eine simple Wahrheit gibt, der sich jede Kanadierin und jeder Kanadier von Geburt an bewusst ist, dann diese: Kanada wird auf ewig im Schatten der USA stehen. »Aus welchem Teil Amerikas kommst du denn?«, wird man auf Reisen stets gefragt. Erdreistet man sich zu der Antwort »Kanada«, starrt man meist in erschrockene Gesichter. Nur drei Wörter können das Gespräch jetzt noch retten: Toronto, Vancouver oder Montreal. Der Rest Kanadas ist für die Welt ein schwarzes Loch.
Die Vergessenen irgendwo nördlich der USA: Bis 2015 war das unsere Realität. Stephen Harper, der schlafmützigste aller Konservativen, regierte das Land – und die einzige politische Attraktion, die wir hatten, war Rob Ford, der Crack rauchende Bürgermeister von Toronto. Und es wäre wahrscheinlich auch alles so geblieben, hätte uns das Schicksal eines (höchstwahrscheinlich kalten) Tages nicht mit Justin Trudeau gesegnet.
Trudeau kam wie aus dem Nichts, die Antithese zum Polit-Establishment: Jung, randvoll mit Charisma, das Aussehen eines lockeren Highschool-Lehrers. Ein Mann, der mit bunten Socken zur Arbeit ging, Selfies machte und – kaum war er im Amt – gleich mehrfach öffentlich weinte. Ein Typ, der Emotionen zeigte.
Wir waren baff. Und der Rest der Welt scheinbar auch. Wie von Wunderhand tauchte Kanada plötzlich wieder in den Nachrichten und in Unterhaltungen auf. »Dein Premier ist umwerfend«, schrieb mir eine Kollegin aus New York: »Der Mann ist nicht so makellos, wie er scheint«, schrieb ich zurück. Kurze Funkstille. Und dann: »Aber er ist heiß!«
Klar, es gab sie auch: die Zweifler. Solche wie mich. Dass unsere Nachbarn im Jahre eins A.T., also Anno Trudeau, einen gewissen Donald Trump wählten, wurde uns jedoch zum Verhängnis. Ein Trudeau-Tsunami fegte durch den Blätterwald und riss die kritischen Politikberichterstatter mit sich. Nuancierte Analysen? Fehlanzeige. Die von nun an immer gleiche Antwort an die Skeptiker: »Besser als Trump ist er allemal!«
Und so perlt bis heute jedes bisschen Schmutz an Saubermann Trudeau ab. Als 2019 Fotos auftauchten, auf denen er mit schwarz angemaltem Gesicht zu sehen war, da verschwand der anschließende Aufschrei schneller aus den Zeitungen, als er gekommen war. Trudeaus Antwort, er habe sich in seiner Jugend so oft »geblackfaced«, dass er nicht sagen könne, wie viele andere Fotos es noch gäbe, wurde einfach hingenommen.
Geschenkt scheinbar auch, dass sich die rassistisch motivierten Übergriffe gegen Menschen mit Migrationshintergrund und gegen Indigene unter Trudeau in den letzten Jahren häufen. Kein Problem, dass der Premierminister mit Baugenehmigungen für mehrere umstrittene Öl- und Gaspipelines aktiv jene Umwelt bedroht, die ihm laut eigener Aussage »sehr am Herzen liegt«. Und kaum der Rede wert, dass Mister Makellos bereits in seiner ersten Amtszeit in eine Reihe von Skandalen verwickelt war, die weniger charmante Premiers wohl längst Kopf und Kragen gekostet hätten – von einem unglücklichen Ellenbogenschlag gegen eine Abgeordnete bis hin zu einem Urlaub auf der Privatinsel des Milliardärs Aga Khan. Ein paar teure und laut Ethikkommission verfassungswidrige Geschenke gab es damals inklusive.
»Meanwhile in Canada« (zu Deutsch: »Währenddessen in Kanada«) heißt es in einem äußerst populären Internet-Meme. Meist steht dieser Schriftzug auf einem stereotypisierenden Bild, zum Beispiel dem eines Bären, der in einem Polizeiauto vor einer Tim-Hortons-Filiale – Kanadas beliebtestem Fast-Food-Restaurant – steht. Die Pointe: In Kanada ist die Welt noch in Ordnung. In gewisser Weise trifft diese Verklärung der Realität auch das Trudeau-Phänomen ganz gut. »Meanwhile in Canada«, sagt die Welt und zeigt auf unseren tollen Premierminister.
Aus dem Englischen von Annalena Heber