„Macht ist trügerisch“
Eine geflüchtete Frau im höchsten politischen Amt des Landes: Die ehemalige Generalgouverneurin Kanadas, Adrienne Clarkson, im Gespräch

Adrienne Clarkson, die ehemalige Generalgouverneurin Kanadas
Foto: May Truong
Frau Clarkson, 1999 wurden Sie Generalgouverneurin Kanadas, das ist das höchste politische Amt des Landes. Sie waren die erste im Ausland geborene Politikerin, der diese Ehre zuteil wurde. Was hat das für Sie bedeutet?
Ich war auch die erste geflüchtete Person in diesem Amt. 1943 kam ich als Vierjährige nach Kanada. Meine Familie flüchtete damals aus Hongkong, das von japanischen Truppen besetzt worden war. Wenige Jahrzehnte später war ich plötzlich Vertreterin der Königin, also von Königin Elisabeth II., die auch heute noch das Staatsoberhaupt Kanadas ist. Während meiner Kindheit waren Generalgouverneure immer alte weiße Männer gewesen. Als ich das Amt antrat, schrieb mir ein Mädchen portugiesischer Herkunft: »Wir haben über Sie in der Schule gelernt. Wenn Sie Generalgouverneurin werden können, dann kann ich das auch!« Es bedeutet mir sehr viel, dass ich zu einem Vorbild wurde.
Sie waren auch erst die zweite Frau in dieser Position. Wie war es für Sie, plötzlich über politische Macht zu verfügen?
Macht ist trügerisch. Sie ist nicht das, was alle denken. Die Rolle der Generalgouverneurin ist wichtig, aber sie ist vor allem repräsentativ und hat keinen direkten Einfluss auf die alltägliche Politik. Ihre Bedeutung zeigt sich aber in Krisenzeiten. Dann ist es die Aufgabe der Generalgouverneurin, das Parlament zur Regierungsbildung aufzurufen. Über meine Position als Frau kann ich nur sagen: Ich bin Feministin. Ich weiß, wie mächtig das Patriarchat ist. Aber meine Eltern haben mir von früh auf beigebracht, stark zu sein.
Das Kabinett von Justin Trudeau ist das erste in der kanadischen Geschichte, in dem genauso viele Posten von Frauen wie von Männern besetzt sind. Ist Kanada in puncto Gleichberechtigung also auf einem guten Weg?
Als das Kabinett 2015 vorgestellt wurde, war das eine sehr erfreuliche Überraschung. Mit Chrystia Freeland haben wir sogar eine Finanzministerin. Aber die Reaktionen auf ihre Ernennung zeigen auch, dass noch ein langer Weg vor uns liegt. Vielerorts hieß es zunächst: »Versteht die überhaupt etwas von Wirtschaft?« Freeland hatte zuvor mehrere Kabinettsposten inne und hat verschiedene Handelsabkommen ausgehandelt. Sie ist brillant! Die Fähigkeiten eines Mannes werden meist nicht auf die gleiche Weise infrage gestellt. Aber ich bin überzeugt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Auch wenn es noch viele Hindernisse gibt.
Welche Hindernisse meinen Sie?
Nur weil einige Frauen hohe Positionen bekleiden, heißt das nicht, dass alle die gleichen Chancen haben. Man muss nur auf die Situation vieler indigener Frauen schauen.
In Kanada gab es in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Gewaltverbrechen an indigenen Frauen ...
Ganz genau. Hunderte von indigenen Frauen und Mädchen sind in den letzten Jahrzehnten ermordet worden oder verschwunden. Die meisten dieser Fälle wurden nie aufgeklärt. 2016 rief Justin Trudeau deshalb eine Nationale Untersuchungskommission ins Leben. Mittlerweile wird das Thema als »die« kanadische Krise unserer Zeit bewertet. Aber die gesamte Beziehung zwischen weißen Kanadiern und Indigenen muss neu verhandelt werden. Der Prozess für eine gerechtere Zukunft ist im Gange, aber er ist viel zu langsam. Es gibt großartige Führungspersönlichkeiten unter den kanadischen Indigenen. Ich finde, sie müssen mehr Gehör finden.
Braucht Kanada eine indigene Generalgouverneurin?
Auf jeden Fall! Das wäre einmal ein Zeichen, dass die Regierung es ernst meint mit der Versöhnung.
Das Interview führte Gundula Haage