Kanada

Im Schlachthof

Im Umgang mit anderen Lebewesen hat der Mensch die Grenzen seiner eigenen Existenz vergessen. Die Philosophin Corine Pelluchon fordert in ihren Büchern, Tiere und Natur zu achten

Viele Salamischeiben unterschiedlicher Sorten liegen über- und nebeneinander auf einer Fläche.

Um ihre Konsumgewohnheiten zu ändern müssen Menschen ihre Beziehung zu Tieren verbessern

Corine Pelluchon ist eine Visionärin. Als Philosophin dachte sie laut über Tier- und Umweltschutz nach, lange bevor Covid-19 unser aller Leben auf den Kopf stellte. Sie ist heute eine der wichtigsten Stimmen Frankreichs, wenn es um diese Themen geht. In Zeiten des Coronavirus werden ihre Beobachtungen umso aktueller. Pelluchon prangert seit langer Zeit die Gewalt an, die Nutztieren angetan wird: ihre entsetzlichen Lebensbedingungen und ihr furchtbares Sterben, aber auch die Arbeitsbedingungen der Viehzüchter und der Angestellten in den Schlachthöfen. Sie plädiert dafür, dass wir unsere Konsumgewohnheiten ändern, dass die Wirtschaft sich wandelt und dass nicht alles dem Primat der Profitmaximierung untergeordnet wird.

Dass Pelluchons Buch »Les Nourritures. Philosophie du corps politique« nun in deutscher Übersetzung erscheint (»Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt«) und ihr aktuelles Buch »Réparons le monde. Humains, animaux, nature« vor Kurzem in Frankreich veröffentlicht wurde, scheint fast wie eine schicksalhafte Fügung. Gerade erst hat der Corona-Ausbruch in den Schlachthöfen der Unternehmensgruppe Tönnies, des größten Fleischproduzenten Europas, einmal mehr die skandalösen Produktionsbedingungen von Billigfleisch offengelegt. Und das sowohl bezüglich der Tiere, die im Namen des schnellen Profits geopfert werden, als auch im Hinblick auf unterbezahlte osteuropäische Hilfsarbeiter, die in erbärmlichen Behausungen leben und unter zweifelhaften hygienischen Bedingungen arbeiten müssen. 

Der öffentliche Aufschrei hält sich in Grenzen. Wir sind wie gelähmt

Pelluchon, Professorin für Philosophie an der Gustave-Eiffel-Universität bei Paris und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Nicolas-Hulot-Stiftung für die Natur und den Menschen, zieht den Begriff »Ökonomismus« dem ihrer Meinung nach ideologisch zu stark aufgeladenen Wort »Kapitalismus« vor. Sie verurteilt »die ökonomistische Weltordnung, die alle Arten des Handelns dem Diktat des Profits unterordnet und dabei nicht das Handeln und den Wert der betroffenen Wesen in Rechnung stellt«. Eine Beobachtung, die nicht nur den Kern der Tönnies-Affäre treffend beschreibt, sondern auch die vielen anderen Skandale in der Fleischindustrie, die seit Jahrzehnten vor unser aller Augen schwelen. Wir alle haben die unerträglichen Videos von Tausenden in fabrikähnlichen Hühnerfarmen gehaltenen Hähnchen gesehen, von gestopften Gänsen, von blutüberströmten Stieren beim Stierkampf, von gefangenen Löwen im Zirkus. Doch der öffentliche Aufschrei hält sich in Grenzen. Wir sind wie gelähmt. 

Corine Pelluchon fragt sich vor diesem Hintergrund, warum die regelmäßige und schonungslose Zurschaustellung der zahlreichen Skandale nicht ausreicht, um uns dazu zu bewegen, unsere Einstellung und unseren Lebensstil zu ändern. Warum verzichten wir nicht auf Fleisch? Warum kämpfen so wenige dafür, dass die Tiere, die uns dienen, gut oder zumindest mit einer gewissen Achtung behandelt werden? »Achtung«, das ist ohnehin der Begriff, um den sich bei Pelluchon vieles dreht. Er bildet den Kern ihres gesamten Denkens und leitet hin zu ihrer Haltung, dass »das, was wir den Tieren täglich antun, der Spiegel unserer kollektiven Schande ist«. Laut der politischen Philosophin haben wir gelernt, abzustumpfen. Nur so können wir diese moderne Form der Barbarei unterstützen. Die Achtung ist für sie wiederum der Schlüssel zu einer neuen Haltung gegenüber anderen Lebewesen. »Ich bin nicht allein auf der Welt, lebe nicht isoliert von der Außenwelt unter einer Käseglocke. Ich bin mit unserer gemeinsamen Welt verbunden, die mich bei meiner Geburt empfangen hat und die mich überleben wird, und ich stehe in ihrer Schuld.« Für Pelluchon ist diese Grundhaltung der Startpunkt für alle persönlichen und politischen Schritte in die richtige Richtung. 

Aus diesem Grund plädiert Pelluchon in »Wovon wir leben« auch für eine Neudefinition unseres Demokratiebegriffs und für einen neuen Gesellschaftsvertrag, in dem sowohl das Wohlergehen von Tieren als auch die Ökologie Beachtung finden. Gesellschaft kann nach Pelluchon nur dann richtig gedacht werden, wenn wir das mitdenken, was uns leben lässt und was uns mit anderen verbindet. »Nahrung« erfüllt für sie gleich beide dieser Zwecke: Sie ist das, wovon wir leben, also Lebensmittel, aber gleichzeitig auch Kulturgut und Genuss. Damit wendet sich die Philosophin vom Existenzialismus und von verschiedenen Freiheitsphilosophien ab, die oft von einer Dualität von Natur und Kultur ausgehen. Lebensraum, Zusammenleben, Umwelt, Nahrung: für Pelluchon gehört das alles zusammen. Nicht zuletzt deshalb müsse es, so erklärt sie, das Ziel der Politik sein, nicht nur persönliche Freiheiten, die nationale Sicherheit oder die Bekämpfung der Ungleichheiten ins Visier zu nehmen, sondern auch die Beziehungen zu künftigen Generationen, die Natur und die Verbesserung der Lebensbedingungen von Tieren. 

»Um ihre Konsumgewohnheiten zu ändern und Druck auf Unternehmen und Regierungen auszuüben, müssen Individuen sich innerlich wandeln und ihre Nähe zu anderen Lebewesen spüren«

Doch wie sollte man vorgehen, fragt sich Pelluchon, wenn man die Menschen zu einem Umdenken bewegen will, ohne dabei auf scheinbar zwecklose utilitaristische Berechnungen und moralische Lektionen zu vertrauen? In »Réparons le monde« schreibt sie: »Um ihre Konsumgewohnheiten zu ändern und Druck auf Unternehmen und Regierungen auszuüben, müssen Individuen sich innerlich wandeln und ihre Nähe zu anderen Lebewesen spüren.« Man müsse sie »resensibilisieren«. Um ein weniger hierarchisches Verhältnis zu »den anderen« zu fördern und so auch unsere Beziehung zu Tieren zu verbessern, müssen wir uns laut Pelluchon deshalb zunächst »mit uns selbst aussöhnen«. Dies geschieht vor allem, indem wir uns unserer eigenen »Verwundbarkeit« bewusst werden und die rechtmäßigen Grenzen unserer Existenz anerkennen, also vor allem die Grenzen unseres Konsums pflanzlicher und tierischer Ressourcen. 

Tiere sind, wie wir, empfindsame Wesen. Sie sind Subjekte, die Rechte besitzen. Diese Feststellung mündet für Pelluchon in einer »Rehabilitation der Sensibilität«, die uns dabei helfen kann, unser Verhalten, – egal ob gegenüber Tieren, der Natur oder Schwächeren – zu verändern. Nicht umsonst widmet die Philosophin ein ganzes Kapitel ihres Buches dem Umgang mit alten Menschen und denkt offen über den Begriff der »Verwundbarkeit« nach, über Müdigkeit, Schmerzen und den Tod. Themen, die Menschen gerne ausblenden, »weil sie zu sehr von ihren familiären und beruflichen Verpflichtungen vereinnahmt werden und weil sie Angst haben, sich dem Trauma zu stellen, das die Konfrontation mit dieser Realität mit sich bringt. Sie breiten einen Schleier über das, was wehtut, um funktionieren zu können.«

Es liegt an jedem Einzelnen, eine Wahl zu treffen, seine Vorstellungen von Richtig und Falsch zu überdenken, insbesondere beim Thema Nahrung

Nicht zuletzt deshalb könnten Tiere laut Pelluchon in Zukunft zu unseren »Lehrern im Anderssein« werden. Der Umgang mit ihnen bietet uns die Chance, einen neuen Humanismus, eine neue Vision einer solidarischeren Gesellschaft zu entwerfen, der die Philosophin in ihren Büchern ein »konzeptionelles Gerüst« geben will. Dieses Projekt ist zugleich ehrgeizig und bescheiden. Denn »die Welt reparieren«, wie es in der Kabbala heißt, bedeutet nicht nur, das Ausmaß der Zerstörung auszuloten, sondern auch zukünftiges Chaos abzuwenden, ohne auf etablierte Prozesse zurückzugreifen. 

»Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet«, heißt es in Artikel 4 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, einem bemerkenswerten Text aus dem Jahr 1789. Die Tatsache, dass heute 7,5 Milliarden Menschen auf unserem Planeten leben, der gleichzeitig auch noch von der Klimaerwärmung bedroht ist, lässt diesen Satz fast wie eine Warnung klingen. Nun liegt es an jedem Einzelnen, eine Wahl zu treffen, seine Vorstellungen von Richtig und Falsch zu überdenken, auch und insbesondere beim Thema Nahrung. Unsere Freiheit endet dort, wo die des anderen anfängt. Das gilt auch heute – mit dem Zusatz, dass »der andere« nicht mehr zwangsweise ein Mensch sein muss, sondern ebenso gut Tier oder Natur sein kann. Und so sind die Gedanken Corine Pelluchons vor allem ein Versuch, die Lektionen der Aufklärung ins 21. Jahrhundert zu übertragen – und unserer unvollendeten Moral ein letztes Puzzlestück hinzuzufügen.

Wovon wir leben. Eine Philosophie der Ernährung und der Umwelt. Von Corine Pelluchon. WBG Academic, Darmstadt, 2020.
Réparons le monde. Humains, animaux, nature. Von Corine Pelluchon. Rivages, Paris, 2020.
Aus dem Französischen von Caroline Härdter