Die Parade der Riesenpuppen
Früher vertrieben die "Ondel-Ondel"-Figuren böse Geister, heute sind sie eine indonesische Touristenattraktion

Über zwei Meter groß und mit einem Bambusgerüst unter dem Kostüm: ein Ondel-Ondel-Puppenpaar auf den Straßen Jakartas
Foto: Andi Aisyah Lamboge
Jeden Tag tanzen auf den Straßen von Jakarta zwei riesige Puppen. Ein mitreißender Rhythmus begleitet jede ihre Bewegungen. Die Körper der Puppen, die einen Mann und eine Frau darstellen, werden aus Bambus gefertigt und sind so groß, dass ein Erwachsener in ihnen Platz findet. Doch trotz ihrer Höhe von zweieinhalb Metern, ihrem Durchmesser von achtzig Zentimetern und einem Gewicht von mehr als acht Kilogramm sind die enormen Konstrukte leicht genug, um von den Männern im Inneren „gespielt“ zu werden. Mit viel Körpergefühl versetzen sie ihr Kostüm in tänzerische Bewegungen.
In Indonesien werden solche Puppen „Ondel-Ondel“ genannt und sind eine beliebte Form der Straßenkunst. Bei Ondel-Ondel handelt es sich ursprünglich um eine Tradition aus der reichen Volkskunst der Betawi, der ursprünglichen Bewohner Jakartas, deren Name sich von „Batavia“, dem alten Namen der indonesischen Hauptstadt ableitet.
Suhendar Kapau ist Schlagzeuger und leitet das Betawi Art Studio in Kramat, einem Viertel von Jakarta. Seit 2016 führt er seine eigene Ondel-Ondel-Gruppe an und gibt als Ondel-Musiker den Rhythmus für die Puppen vor. An dem Nachmittag im Juli 2020 kommen zehn Mitglieder des Vereins vorbei, um auf der Straße aufzutreten. Zwei Männer schlüpfen in die Ondel-Ondel und die restlichen acht machen die Musik. Alle zusammen verlassen sie ihre Basis in der 9. Gasse, einem Seitenarm der Marktstraße Kramat Pulo Dalam II, und beginnen ihre Aufführung.
Gouverneur Ali Sadikin ließ die Puppen in den 1970er-Jahren vor Ämtern und Ministerien aufstellen: als Warnung für korrupte Beamte
Die meisten Anwohner, die in Kapaus Nachbarschaft leben, sind Bekannte und Verwandte des Musikers und arbeiten ebenfalls als Ondel-Ondel-Spieler. Meist sind es junge Männer, die keine Chance auf eine Schulbildung hatten und keinen anderen Job gefunden haben. Sie haben weder Tanz- noch Musikunterricht genossen, sondern sich die Kunst des Puppenspiels gegenseitig beigebracht und auf der Straße angeeignet.
„Frauen gibt es in unserer Gruppe nicht“, erzählt Kapau. „Die Zuschauer sehen nicht gerne, wenn Frauen Ondel-Ondel spielen.“ Die insgesamt 16 Ondel-Ondel-Spieler, die für Kapau arbeiten, sind ausschließlich Männer. Und geht es nach dem Schlagzeuger, dann bleibt das vorerst auch so. In anderen Studios, in denen es auch Ondel-Ondel-Spielerinnen gebe, komme es immer wieder zu Problemen, erklärt er. Es hätte zum Beispiel Affären zwischen Männern und Frauen gegeben und anderes unsittliches Verhalten wie Zigarettenrauchen. In konservativen Kreisen Jakartas gilt das Rauchen für Frauen noch immer als Tabu.
Dabei kommen die Ondel-Ondels selbst ganz traditionell in zwei Geschlechtern daher. Ein Puppenpaar symbolisiert Ehemann und Ehefrau. Die männlichen Puppen haben rote Gesichter, die weiblichen weiße. Zusammen tanzen beide in harmonischem Einklang zu der Musik der kleinen Orchestergruppe, die aus einem Tehyan, einem zitherähnlichen Musikinstrument, zwei Trommeln und einem Gong besteht. Während des Schauspiels geht ein Mann mit einem Eimer herum und sammelt am Straßenrand Spenden ein.
Hinter den Auftritten der Ondel-Ondel steckt dabei eine Menge Arbeit. „Für den Bau eines Puppenpaars brauchen wir, komplett mit Köpfen und Kokosnussblumen-Dekorationen, etwa eine Woche“, erzählt Taufik Hidayat, der als Ondel-Ondel-Hersteller in Jakarta arbeitet. Die Herstellung koste rund zwei Millionen Indonesische Rupiah, umgerechnet etwa 115 Euro, berichtet der 24-Jährige.
Heute werden die Körper der Puppen aus Bambus und ihre Masken aus glasfaserverstärktem Kunststoff gefertigt
Sowohl die Herstellung der Ondel-Ondel als auch ihr Zweck hat sich mit der Zeit stark verändert. Heute werden die Körper der Puppen aus Bambus und ihre Masken aus glasfaserverstärktem Kunststoff gefertigt.
Zudem dienen die Ondel-Ondel vor allem der Unterhaltung. Sie treten meist zu speziellen Anlässen auf, etwa bei der Eröffnung eines Hotels oder auf einem Stadtfest. Ursprünglich ist die Ondel-Ondel-Tradition jedoch auf dem Land entstanden und hängt eng mit der Erntezeit zusammen, weiß der Historiker JJ Rizal: „Früher wurden die Puppen aus Ernteresten gefertigt und ihre Funktion wurde durchaus ernst genommen: Sie dienten dazu, die neue Jahreszeit zu begrüßen und böse Kräfte einzuschüchtern. So sollten Katastrophen und Krankheiten von den Menschen abgewendet werden.“
In den 1950er-Jahren wurde das Ondel-Ondel-Spiel allerdings verboten. Die Puppen galten als Überbleibsel einer primitiven Kultur. Doch die Zensur der Straßenkunst war nicht von Dauer. In den 1970er-Jahren belebte der damalige Gouverneur von Jakarta, Ali Sadikin, das Puppenspiel wieder, aus einem nicht ganz uneigennützigen Zweck: Als Warnung für korrupte Beamte ließ er die imposanten Figuren vor Ämtern und Ministerien aufstellen
So fanden die Ondel-Ondel zwar langsam auch zurück auf die Straße, ihre ursprüngliche Funktion als Glücksbringer und gutes Omen verloren sie mit der Zeit jedoch trotzdem. Denn bis auf die Ondel-Straßenkünstler selbst gibt es heute in Jakarta kaum jemanden mehr, der sich an die Geschichte der Puppen erinnert. Im Gegenteil: Nicht nur für die Touristen, sondern auch für viele Indonesier selbst haben die Ondel-Ondel mittlerweile Eingang in die indonesische Popkultur gefunden. Sie dienen als nette Fotogelegenheit oder als Showelement für ein Firmenjubiläum. Der ein oder andere vermutet hinter dem Brauch auch ein simples Geldgeschäft, mit dem die Künstler den Leuten auf der Straße das Geld aus der Tasche ziehen wollen.
Und so läuft die Ondel-Ondel-Tradition heute Gefahr, ganz in Vergessenheit zu geraten. „In Zukunft sind die Ondel-Ondel vielleicht nur noch simple Gebrauchsgegenstände – und die kulturelle Praktik ist verloren gegangen“, sagt JJ Rizal. „Vielleicht haben die Puppen ihr Feuer verloren“, mutmaßt der Historiker.
Die Künstler hinter den Ondel-Ondels haben den Puppentanz allerdings noch längst nicht aufgeben. Erst vor Kurzem stellten sie konkrete Forderungen an die Stadt Jakarta. Einer der Wortführer ist Taufik Hidayat, der junge Puppenbauer. „Wir brauchen eine eigene Ondel-Ondel-Bühne für Aufführungen in der Stadt“, sagt er. Vielleicht ein Weg, um den Ondel-Ondel neues Leben einzuhauchen.
Aus dem Englischen von Karola Klatt