Rohstoffe | Kanada

„Betroffen sind vor allem die Indigenen“

Die Ölsandindustrie in der Provinz Alberta zerstört die Natur, schafft aber auch Arbeitsplätze

Auf einem Ölsandgebiet stehen mehrere LKWs, Bagger und Fahrzeuge, die bei der Erdölgewinnung eingesetzt werden.

Ölsandregion in Athabasca

Herr Longley, Sie beschäftigen sich mit der historischen Entwicklung der Ölsandregion in Athabasca, wo es seit langem viele Konflikte gibt. Was ist dort los?

In Athabasca gibt es riesige Bitumenvorkommen, das sind Erdölablagerungen gemischt mit Sand. Sie umfassen etwa 50.000 Quadratkilometer in Nordost-Alberta, nördlich und südlich von Fort McMurray bis hinauf zum Athabasca-See. Zwar waren die Vorkommen seit Langem bekannt, ihr Abbau jedoch bis zur Energiekrise der 1970er-Jahre nicht rentabel. Die Krise bewirkte höhere Ölpreise und eine Nachfrage, die zu neuen Ölerschließungen führte. Seither wurde das ein riesiges Unternehmen, insbesondere seit den späten 1990er-Jahren. Nach dem 11. September 2001 und den Kriegen im Nahen Osten, als die Ölpreise auf über hundert Dollar pro Barrel anstiegen, erlebte die Bitumengewinnung einen gewaltigen Boom. Unternehmen aus den USA und der ganzen Welt stiegen ein. In den 1970ern gab es drei oder vier Anlagen, in den 2000er-Jahren schon über hundert. Es gibt zwei Technologien für die Extraktion: den Tagebau, ähnlich dem Kohletagebau, wie er in Deutschland betrieben wird, und eine »Insitu-Methode« (»vor-Ort-Methode«), bei der man Dampf in die Ablagerung pumpt, um sie zu lösen, und dann abpumpt.

Was sind die Auswirkungen auf die Umwelt?

Bisher wurden etwa 900 Quadratkilometer Fläche ausgehöhlt. Nur zehn Prozent davon sind wiederhergestellt worden, es gibt also noch riesige Bergeteiche und Freiflächen. Die Regierung von Alberta geht davon aus, dass die Säuberung der Bergeteiche mindestens 130 Milliarden Dollar kosten wird, das ist mehr als der Börsenwert der fünf größten Ölsandproduzenten zusammen. Die Kosten der lokalen Folgen konkurrieren also mit dem Wert der Branche. Zudem werden durch die Ölsandindustrie riesige Mengen CO2 freigesetzt, sie ist eine der wesentlichen Verursacher von Kanadas Emissionen. Der Anteil von Treibhausgasen durch diese Produktionsweise ist wesentlich höher als durch die konventionelle Ölförderung.

In dem Gebiet leben mehrere indigene Gemeinden ...

Es ist indigenes Territorium, ein Gebiet, das von Kanada 1899 mit einem Landabkommen kolonialisiert wurde. Die Bedeutung dieser Abkommen zwischen der Regierung von Kanada und den indigenen Völkern ist sehr umstritten: Kanada versteht sie als eine vollständige Übertragung von Hoheitsrechten, während die indigenen Völker darin mehr eine Art Friedens- und Regierungsabkommen sehen. Das hat zu vielen Konflikten geführt, bei denen indigene Gemeinden Landrechte einforderten, denn indigene Ansprüche auf die Region wurden durch die Verwaltung der Rohstoffgewinnungsflächen unterdrückt. Die Umweltauswirkungen wiederum betreffen vor allem diese indigenen Gemeinden. Sie haben in den letzten fünfzig Jahren hart gekämpft, Umweltpolitik gestaltet und viel an Rechtsansprüchen und Macht gewonnen. Aber die Folgekosten wurden nicht sehr gut abgedeckt. Viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sprechen von Symbolpolitik, sie sagen, dass die Umweltrichtlinien bewusst zur Irreführung der Öffentlichkeit eingesetzt worden sind, und dass die Provinzregierung die Umweltauswirkungen der Ölgewinnung einfach abgestritten hat. Ein weiterer Punkt ist, dass die Indigenen aufgrund der Minengelände, Pipelines und Zufahrtsstraßen gewaltige Strecken zurücklegen müssen, um jagen und ihrer traditionellen Lebensweise nachgehen zu können. Man muss dafür heute viel Geld haben, man braucht ein Boot, einen Lastwagen, Geländefahrzeuge, Schneemobile ...

Wie haben die Gemeinden auf die wachsenden industriellen Aktivitäten reagiert?

Die Gemeinden haben sich um wirtschaftliche Vorteile bemüht, um Arbeitsplätze und Geschäftsmöglichkeiten innerhalb der Branche. Aber sie wollten auch Mitbestimmungsrechte, um ihr Land und dessen Ressourcen zu schützen. Meine Forschung zeigt, dass sie in den 1970er- und 1980er- Jahren, als die meisten Rechtsstreitigkeiten begannen, massiv dagegen anzukämpfen versuchten. Es war schwierig, weil sie einerseits gegen die Pläne der Industrie ankämpften und andererseits Geschäftsbeziehungen entwickeln mussten. Sie brauchten das Geld aus dem Abbau, um wichtige Orte zu schützen. Heute entscheiden sich die Gemeinden für Wirtschaftsabkommen, um Unternehmen zu gründen und Arbeitsplätze zu schaffen. Viele Menschen arbeiten in der Branche, obwohl sie zugleich die Umwelt schätzen. Manche Gemeinden schließen Abkommen über Gebiete ab, die nicht so viel genutzt werden, und verwenden das erwirtschaftete Geld, um Gerichtsverfahren zum Schutz anderer Flächen zu finanzieren, die wichtiger sind. Es ist nicht so, dass die Indigenen gar keine Kontrolle hätten, aber der Alberta Energy Regulator, die zuständige Aufsichtsstelle, trifft die Entscheidungen über die Erschließung allein auf der Basis wirtschaftlicher Vorteile für die Region. Die indigenen Gemeinden hatten jedoch immer die Macht, mit einzelnen Unternehmen zu verhandeln, um Flächen zu schützen und Entschädigungen zu erhalten.

Ihre aktuelle Forschung untersucht, inwieweit indigenes Wissen in Entscheidungsprozesse einfließt. Haben Sie schon Ergebnisse?

Ich habe als Berater mit einer Métis-Gemeinde gearbeitet, die um Fort McMurray angesiedelt ist. Wir haben die indigene Landnutzung kartiert. Eine Kollegin und ich haben dabei festgestellt, dass es vielen der Landnutzer widerstrebte, diese Informationen mitzuteilen. Wir glauben, das liegt daran, dass sie oft gezwungen werden, sehr sensible Informationen über ihr Land preiszugeben für Erschließungsverfahren, die ihr Wissen nicht respektieren. Der Alberta Energy Regulator hat den Auftrag, Projekte zum Wohl der Region zu bewilligen. Dabei werden zwar Umweltbedenken geprüft, aber er trifft ihre Entscheidungen nicht danach. Er hat fast noch nie die Bewilligung eines Projekts verhindert. Gemeinden sind gezwungen, lauter sensible Informationen zu übermitteln, dabei ist es praktisch ein unausweichlicher Prozess, dass die Projekte bewilligt werden. Teil unserer Forschung ist es, auf diese Probleme hinzuweisen und Wege aufzuzeigen, um die Verhandlungsprozesse zu verbessern.

Während Ihrer Forschungen haben Sie viel Zeit vor Ort verbracht. Was waren Ihre Eindrücke?

Ich bin seit 2013 ein Dutzend Mal pro Jahr in Fort McMurray gewesen und arbeite weiterhin als Berater für die Gemeinde. Es ist eigentlich eine wunderschöne Region. Die meisten Bilder von dieser Gegend in den Medien konzentrieren sich auf die Förderstätten, aber der Rest des Gebiets ist eine unglaublich schöne Landschaft.

Wie ist Ihre Prognose für die Zukunft? Wird es möglich sein, ein Gleichgewicht zwischen industriellen, sozialen und Umweltbedürfnissen zu finden?

In den Nord-West-Territorien gibt es viele Ölkonzerne, die kommen und Vorteile versprechen und dann bankrott gehen oder Projekte stilllegen. Die lokalen Gemeinden bleiben zurück mit Flächen, die nicht wiederhergestellt wurden und hatten keine wirklichen wirtschaftlichen Vorteile davon. Historiker sagen nicht gern die Zukunft voraus. Aber die Umweltauswirkungen nehmen hier überhand. Ich sehe nicht, dass das jemals wieder rückgängig gemacht wird. Der Schaden ist eine Tatsache und betrifft vor allem die Indigenen. Einige Studien, die sich mit Renaturierung befassen, sind der Ansicht, dass diese der indigenen Landnutzung nicht gerecht wird, selbst wenn sie korrekt durchgeführt würde. Es ist eine wirklich üble Lage.

Aus dem Englischen von Annalena Heber
Das Interview führte Leonie Düngefeld