Kultur | Malediven

Sagen aus dem Archipel

Auf den Malediven existiert eine reiche althergebrachte Erzähltradition, die nicht nur der Unterhaltung diente. Die Erzähler gaben auch Wissen weiter - etwa über Ökosysteme im Wandel oder historische Ereignisse. Zwei Volksmärchen

Die ersten Kokosnüsse

Vor sehr, sehr langer Zeit kamen die ersten Menschen auf die Malediven. Sie mussten täglich um ihr Überleben kämpfen, denn es gab keine Kokospalmen und keine Kokosnüsse auf den Inseln. Die Kokospalme ist ein wunderbarer Baum. Nahrung, Kokoswasser, Baumaterial, Werkzeug, Holz für den Bootsbau, Feuerholz, Heilmittel, Kinderspielzeug, Pfeifen, Körbe, Öl zum Kochen und Braten, Lampenöl, Haaröl, Besen, Seile und Schatten – das sind nur einige von vielen Segnungen, die wir der wundervollen Kokospalme und ihren Früchten verdanken.

Die allerersten Frauen und Männer auf den Malediven hatten solche Schwierigkeiten, ohne diese Dinge auszukommen, dass viele von ihnen starben. Ihr Leben war hart und kurz. Auf jeder Insel und in jeder Familie waren Tote zu beklagen. Einer der ersten Inselbewohner war ein großer Fandita-Mann (Zauberer), dessen Namen heute niemand mehr kennt. Er war verzweifelt, als er sah, dass jeden Tag so viele Insulaner um ihn herum starben. Weil er befürchtete, dass die Inseln bald ganz entvölkert sein würden, beschloss er, etwas zu unternehmen, um den Inselbewohnern zu helfen. Nachdem er gründlich seine Zauberbücher konsultiert hatte, bereitete er einen geheimen Zaubertrank zu. Dann ging er auf die Friedhöfe und goss vor jeder Beisetzung ein wenig von diesem Trank in die Münder der verstorbenen Männer, Frauen und Kinder.

In den folgenden Wochen ging das Sterben weiter wie zuvor. Aber es dauerte nicht lange, und aus dem Mund jedes begrabenen Schädels spross ein grüner Keimling, der zu einer jungen Kokospalme wurde. Mit der Zeit wuchsen die Bäume heran. Manche waren groß, andere klein, manche heller und andere dunkler, ganz so wie die Körper der Toten, aus denen sie hervorgegangen waren. Bald waren die Inseln der Malediven dicht mit Kokospalmen bewachsen. Aber es waren nur noch wenige Menschen am Leben, die sich an dieser Pracht erfreuen konnten. Dann brachte der große Fandita-Mann dem kleinen Grüppchen von Überlebenden bei, alles, was die Bäume ihnen gaben, zu nutzen. Nach einiger Zeit ging es den Leuten so gut, dass ihre Zahl wieder zunahm. Bald wurde das Leben der Malediven-Insulaner dank der Kokospalmen leichter. Aus Dankbarkeit bewahrten sie einige Nüsse jeder Palme auf, um neue Bäume zu pflanzen. Seit jener Zeit ist die Zukunft der Insulaner hell und rosig, denn ein maledivischer Vater kann seinen Nachkommen keinen größeren Reichtum hinterlassen als eine große Anzahl von Kokospalmen, die er selbst gepflanzt hat.
 

Ursprünglich erzählt von Vaijegehege Ali Didi. Anmerkung des Herausgebers Xavier Romero-Frías: Wenn man die Hülle einer Kokosnuss entfernt, kann man immer noch drei dunkle Vertiefungen erkennen, die zusammen wie ein Gesicht aussehen. Zwei davon sind die Augen und die dritte ist der Mund; aus ihm sprießt der Keimling der neuen Kokospalme hervor. Ohne diesen erstaunlichen Baum hätten die Vorfahren der Malediver sicherlich nicht überleben können. Deshalb hat die Kokospalme, die von den Maledivern »Dhivehi ruh« (Maledivische Palme) genannt wird, einen Ehrenplatz auf dem Wappen der Malediven.

Die Sandbank der Seevögel

Vor langer Zeit gab es auf einem Atoll eine große Sandbank. Sie hatte eine ausgezeichnete Lage, weit weg von den großen Inseln, auf denen die Menschen wohnten und die man gerade noch am Horizont erkennen konnte. Es gab reichlich Nahrung. Die türkisblaue Lagune war angefüllt mit Schwärmen silberner Fische. Bei Ebbe konnte man viele kleine Krabben, Würmer und andere Tiere auf dem Riff finden. Deshalb lebte dort eine große Anzahl Seevögel, die auf dem weißen Sand der Sandbank brüteten und sich ausruhten.

Eines Tages, kurz vor Sonnenuntergang, flog ein Koveli (Kuckuck) zur Sandbank und bat die Seevögel um Erlaubnis, über Nacht bei ihnen bleiben zu dürfen. Sie schienen nicht begeistert zu sein, also flehte er: »Vögel, lasst mich bitte bleiben! Ich bin von einer Insel zur anderen geflogen und ich bin sehr müde. Ich kann kaum noch weiterfliegen und ich könnte ins Meer stürzen und ertrinken. Wenn ihr mich hier bleiben lasst, werde ich euch nicht zur Last fallen, und ich verspreche euch, dass ich morgen vor Sonnenaufgang weiterfliegen werde.« Die Vögel konnten sehen, dass er erschöpft war, und er tat ihnen leid, also erlaubten sie dem Neuankömmling, auf der Sandbank zu bleiben. Der Koveli suchte sich ein trockenes Plätzchen ​außer Reichweite des Wassers, machte es sich dort bequem und schlief sofort ein.

Später in der Nacht, als schon die Sterne funkelten, kontrollierte der Älteste der Vögel, ob der Koveli fest schlief, und rief dann die anderen Vögel zum äußersten Ende der Sandbank. Er sprach zu ihnen: »Ich habe vorhin nichts gesagt, weil ich weiß, dass ihr sehr töricht seid und dass ihr ohnehin nicht auf mich gehört hättet. Aber jetzt will ich euch dennoch sagen, dass ihr einen großen Fehler gemacht habt, als ihr diesem Landvogel erlaubt habt, bei uns zu übernachten. Ich bin sicher, dass seinetwegen etwas Schlechtes geschehen wird.« Die anderen Vögel waren verärgert. Einer von ihnen entgegnete dem alten Seevogel: »Der Koveli war müde. Er konnte nirgendwo anders hin. Wir haben barmherzig gehandelt!« Der alte Vogel antwortete nur: »Eines Tages werdet ihr einsehen, dass ich recht hatte.« Dann ging er schlafen. Bald darauf schliefen auch die anderen Vögel ein.

In der Morgendämmerung war der Koveli gut ausgeruht und flog weiter. Die anderen Seevögel machten sich über den alten Vogel lustig und riefen: »Du machst dir immer viel zu viele Gedanken. Du siehst doch, es ist nichts passiert.« Aber unbemerkt von den anderen Vögeln hatte der Eindringling Spuren auf der Sandbank hinterlassen. Sein Kot enthielt die Samenkörner der Beeren, die er gefressen hatte. Sie lagen sicher über der Flutlinie und der Wind bedeckte sie mit einer feinen Sandschicht. Nach dem ersten Regen keimte eines der Samenkörner und ein blassgrüner Busch fing an zu wachsen. Die Vögel beäugten ihn neugierig.

Nach einigen Monaten zeigte der alte Vogel auf den nunmehr großen Busch und sagte zu den anderen Vögeln: »Seht her! So etwas ist früher nie passiert. Bald wird unsere Sandbank von Büschen bedeckt sein und wir werden wegziehen müssen.« Die anderen Vögel machten sich keine Sorgen. Der Busch spendete etwas Schatten, wenn die Sonne schien, und wenn es windig war, konnte man hinter ihm Schutz suchen. Sie fanden den Busch sehr praktisch. »Der alte Vogel hat an allem etwas auszusetzen«, sagten sie. Bald keimten die Samen der Beeren, die von dem Busch herabgefallen waren. Mit der Zeit war jeder Flecken auf der Sandbank, der nicht von der Flut überspült wurde, von dichter, grüner Vegetation bedeckt.

Eines Tages landete ein Fischer mit seinem Segelboot auf der Sandbank und inspizierte sie. Wieder auf seiner Heimatinsel, fragte er den Häuptling des Atolls, ob er das neue Inselchen nutzen könne. Der Häuptling erlaubte es ihm und der Mann beschloss sofort, dort Kokospalmen anzupflanzen. Also fuhr er ein paar Tage später zu der Sandbank und pflanzte ein paar kleine Kokospalmen zwischen die Büsche. Er pflanzte auch andere Arten von Bäumen, die gut auf magerem Boden wachsen, Holz liefern und Schatten spenden. Im Laufe der folgenden Monate schaute er gelegentlich vorbei, um zu kontrollieren, wie es seinen Bäumen ging.

Jahre vergingen und die Palmen fingen an, Kokosnüsse zu tragen. Der Fischer baute eine Hütte und grub einen Brunnen in der Mitte der Insel. Nun kam er oft mit seiner Frau und seinen Kindern auf das Inselchen. Er erntete die Kokosnüsse, während seine Frau Feuerholz sammelte. Die Kinder hatten Spaß daran, die Seevögel zu erschrecken und ihre Eier zum Essen zu sammeln. Ihr Vater fing von Zeit zu Zeit einen Seevogel und brachte ihn mit gefesselten Beinen und gestutzten Flügeln nach Hause. Schließlich, eines Nachts, als die Sterne blass am Himmel funkelten, rief der alte Seevogel die wenigen zerrupften Überlebenden an der Spitze der Insel zusammen. Er war fast blind und krumm vor Altersschwäche und sagte ernst: »Ich hatte euch gewarnt, aber ihr wolltet nicht auf mich hören. Jetzt ist die Insel für uns nicht mehr sicher. Sie gehört uns nicht mehr. Vor langer Zeit hatte ich euch gesagt, dass etwas Schlimmes passieren würde. Nun müssen wir fort von hier.«

Und als der Morgen dämmerte, schauten die Vögel ein letztes Mal traurig auf ihre verlorene Insel herab und flogen davon, auf der Suche nach einem neuen, sicheren Zuhause.

Ursprünglich erzählt von Hasan Didi

Aus dem Englischen von Caroline Härdter. Die beiden Volksmärchen stammen aus »Folk Tales of the Maldives«, gesammelt und übersetzt von Xavier Romero-Frías (NIAS Press, Kopenhagen, 2012).