Nichts ist sicher

Der neue Roman von Nora Bossong erkundet die Welt der Vereinten Nationen

Wer passt eigentlich auf uns auf? Wer ist da, wenn wir Hilfe brauchen, wenn wir krank  sind oder etwa als UN-Mitarbeiter auf Mission? Wer ist dann da?

Gehen wir in die Welt hinaus, wie es Mira, die Ich-Erzählerin in Nora Bossongs neuem Roman »Schutzzone«, tut, um uns um so etwas Kompliziertes zu kümmern wie den Frieden, dann werden »safe areas« zu nur vermeintlichen Schutzzonen – wie 1995 geschehen, als Blauhelme unter niederländischer Führung beim Völkermord von Srebrenica zusehen mussten. Damals gab es 7.000 Tote. Die Frage nach Verantwortung, besser den Verantwortlichen, ist eines der Hauptthemen in Bossongs Roman.

Sind wir klein, sind es bestenfalls die Eltern, die uns Schutz geben, aber auch das ist, wie Mira als Kind erfahren muss, nicht sicher, gar nicht sicher, überhaupt nicht sicher. »Ich bin ja
da ...«, murmelt der acht Jahre ältere Milan, als Mira fiebrig im Bett liegt, ohne Mutter, ohne Vater, im Grunde ohne jeden Erwachsenen. Denn auch Milans Eltern, Lucia und Darius, bei denen Mira wohnt, weil sich die eigenen Eltern im Trennungsprozess befinden, sind gerade nicht da. Das Elternhaus, allererste Schutzzone des Kindes, ist ebenso prekär wie der Frieden, und ob die internationale Staatengemeinschaft etwas ändern, Frieden sichern kann, auch diese Frage stellt dieses nachdenkliche Buch.

Mira ist wie alle Personen, die sie umgeben, in der internationalen Politik tätig, sie führt Hintergrundgespräche mit Konfliktparteien. Zwischen 2011 und 2017 arbeitet sie in New York, Bujumbura (Burundi), Südkivu (Kongo), zum Schluss in Genf, dem Ort, in dem der Roman beginnt.
Mit Genf hat die Autorin ein Spannungsfeld markiert, das alle Internationals kennen: Zentrale oder Feld? Schreibtisch oder Helfen vor Ort? Nora Bossong hat diese Dilemmata trefflich eingefangen. Ebenso wie die klimatisierten, unpersönlichen Konferenzräume der Hotels, die internationalen Organisationen so oft als Treffpunkt dienen; die Art zu sprechen: Wo warst du? Wo gehst du als Nächstes hin? Und die langweilige Arbeit mit Berichten, Statistiken, in denen auch der Erfolg der Mission und damit die Daseinsberechtigung der UN verzeichnet wird, fern des Feldes mit seinen Swimmingpool-Enklaven für Expatriates, den eingezäunten UNO-Compounds, die mit dem wirklichen Leben der Menschen vor Ort oft wenig gemein haben; es geht um Idealismus versus Realismus, Desillusionierung und die ewige Frage, wo man eigentlich leben will.

Es wimmelt in diesem Roman von Orten und Konflikten, als Leser wird man wirr, Burundi, Jugoslawien, Zypern, Bonn, der Schwarzwald, Glion, Den Haag. Manchmal ist es schwer zu folgen, zumal die Autorin keiner Chronologie folgt. Auch gedanklich bewegt Mira sich in mehreren Zeitebenen, scheint überall und nirgendwo zu sein. Sie ist weder auf ihren Freund Wim festgelegt noch sexuell, sie schläft mit Milan, ihrem Freund aus Kindheitstagen, ebenso wie mit der NGO-Mitarbeiterin Sarah. In ihrem Beruf muss sie mit allen Konfliktparteien sprechen, auch mit General Aimé, einem Rebellenführer, der für Kriegsverbrechen während des Kongokrieges verantwortlich ist.

Miras Gedanken schweifen ab in Interpretationen ihres Gegenübers: Vielleicht meint er das, es könnte aber auch das sein oder ... Wie aber soll man in einem permanenten Schwebezustand zu etwas Verbindlichem kommen? Am Ende ist es nur der Vater von Milan, der Mira über all die Jahre Postkarten schreibt, auf die sie nie antwortet.

Für ihren Roman, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises steht, hat Nora Bossong eine poetisch dichte Sprache gewählt, in die man gerne eintaucht. Das Ende allerdings bleibt so unverbindlich wie Mira selbst: »Aber was ist schon die Welt?« Als Leser hätte man sich mehr Stellungnahme, mehr Feuer für die Idee der Zusammenarbeit, besonders der internationalen, gewünscht, schließlich gibt erst Frieden uns die Freiheit, uns Dingen zu widmen, die uns interessieren.

Schutzzone. Von Nora Bossong. Suhrkamp, Berlin, 2019.