Keine kurze Episode
Die Wiederwahl von Premierminister Narendra Modi kam für viele Menschen in Indien unerwartet. Nun fürchten sie um ihre Demokratie
Zur Überraschung vieler Beobachter bescherten die Inderinnen und Inder Premierminister Narendra Modi und seiner Bharatiya-Janata-Partei (BJP) im Mai eine zweite Amtszeit. Zum ersten Mal in Indiens 69-jähriger Geschichte der Demokratie wurde eine amtierende hindu-nationalistische Regierung wiedergewählt. Bis dato war der Hindu-Nationalismus für die indischen Wählerinnen und Wähler eher eine Art befristetes Korrektiv für den Fall, dass die zweite große Partei – die säkulare, liberale Indische Kongresspartei (INC) – über die Stränge schlüge. Dann verpasste das Wahlvolk der INC, die in der Vergangenheit meist allein an der Macht war, einen Denkzettel und strafte sie für Korruption und dynastische Politik ab. Das Wahlergebnis vom Mai hingegen zeugt von einer überwältigenden Zustimmung für die vergangene Legislaturperiode unter Modi.
Bislang war sein Führungsstil geprägt von autoritärer Macht, Hurra-Patriotismus und akribischer Medienarbeit. Gleichzeitig mangelte es an Respekt vor der Demokratie und vor anderen politischen Meinungen. Modi und seine Partei propagierten ein Indertum, das im Hinduismus verwurzelt ist. Rund achtzig Prozent der Bevölkerung sind Hindus. Doch von Gleichberechtigung anderer Glaubensrichtungen, obwohl durch die Verfassung garantiert, war keine Rede mehr. In Äußerungen der BJP wurde suggeriert, Gewalt sei legitim, sobald »religiöse Gefühle missachtet werden«. In einigen Fällen wurden die Drohungen wahr gemacht: Als man Muslime beschuldigte, Rindfleisch gegessen zu haben, schwappte 2017 eine Welle der Gewalt durch das Land. Rinder sind den Hindus heilig.
Aufgebrachte »Kuhschützer« töteten mindestens zehn Muslime. Es entstand ein Klima der Angst.
Im November 2016 trieb Modi seine unredliche Politik mit einer sogenannten Demonetisierung auf die Spitze: Völlig unvermittelt kündigte er an, er werde innerhalb von vier Stunden den gesamten Papiergeldbestand in Indien für wertlos erklären und durch neue Banknoten ersetzen. Angeblich sollten so saubere Verhältnisse im Wirtschaftsleben geschaffen werden. Die Menschen hatten wochenlang alle Mühe, Güter einzukaufen, ihre Ersparnisse umzutauschen oder einzuzahlen oder auch nur ihren Lohn ausbezahlt zu bekommen. Die Aktion kostete mindestens anderthalb Millionen Menschen ihren Job und schwächte die Konjunktur. Dennoch wurde Modi wiedergewählt.
Die Wahl von 2019 markiert einen Wendepunkt in der modernen Geschichte des Landes. Wäre die von der BJP vorangetriebene Spaltung gestoppt worden, hätte man sie als kurze und unschöne Episode auf dem Lebensweg einer reifenden Demokratie verbucht. Nun, nach der Wiederwahl, wird sich die BJP womöglich länger an der Macht halten können. Oder auf Modi folgen Politiker, die noch stärker auf Spaltung setzen. Ist damit die Vision einer progressiv-weltlichen indischen Demokratie erledigt? Oder können Ideen in einer Demokratie mit verhältnismäßig schwachen Institutionen und eher bescheidenem Alphabetisierungsstand nur so lange überleben, wie sie von bestimmten Parteien und Personen vertreten werden? Hat die Idee eines säkularen und liberalen Indiens ihre Kraft eingebüßt? Oder sind nur die Verfechter dieser Idee geschwächt?
Während des Wahlkampfs hörte ich von vielen, sie wollten Modi nicht unterstützen, aber es mangele an Alternativen. »Es gibt außer ihm niemanden, der die Kraft hat, um ein so großes Land zu regieren«, sagte mir ein Autorikscha-Fahrer in Varanasi. Vor allem junge Inder, die nach der Wirtschaftsliberalisierung 1991 zur Welt kamen, könnten sich vorstellen, der liberaleren Kongresspartei ihre Stimme zu geben. Doch dafür müsste Parteichef Rahul Gandhi das Feld räumen, der letzte Erbe einer Dynastie von Regierungschefs, die mit Indiens erstem Premierminister Jawaharlal Nehru begann. Dass die Kongresspartei ihre Führungsrolle auf eine einzige Familie gründet, empfinden viele als überheblich. »Wir leben nicht mehr im Feudalzeitalter, als man an die Macht gelangte, nur weil man die richtigen Eltern hatte«, sagte mir ein Taxifahrer in Mumbai. »Bei aller Kritik an Modi, immerhin kommt er aus einer armen Familie und hat sich aus eigener Kraft hochgearbeitet.«
Modi hat eine gute Story: Einigkeit, Fortschritt, Modernisierung und Selbstvertrauen. Seine Propagandamaschinerie wird nicht nur großzügig von der Industrie, sondern auch mit Staatsmitteln am Laufen gehalten. Nur selten gibt er Interviews, dafür betonen seine Gefolgsleute die Volksnähe des Regierungschefs, der in seiner beliebten monatlichen Radiosendung »Mann ki Baat« (Meine innigsten Gedanken) als brillanter Redner glänzt. Sobald Kritik zu befürchten ist, sucht die Partei über ihre eigenen Presse- und Social-Media-Kanäle Kontakt zu den Bürgern, wie Donald Trump, Jair Bolsonaro und Boris Johnson.
Die Weltsicht der BJP ist archaisch. Ein eindrucksvolles Beispiel sind die jüngsten Entwicklungen in Kaschmir, dem einzigen indischen Bundesstaat mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit, auf den auch Pakistan Anspruch erhebt. Seit siebzig Jahren genießt Kaschmir spezielle Verfassungsrechte – ein rotes Tuch für die Hindu-Nationalisten. Nur drei Monate nach Modis Wiederwahl wurde Artikel 370, der Kaschmir erhebliche Autonomie zugestand, plötzlich zurückgezogen. Politiker aus Kaschmir wurden unter Hausarrest gestellt, Demonstranten inhaftiert und die Medien sowie das Internet ausgeschaltet. Diese Aktion kam aus dem Nichts, ohne Konsultation im Parlament, ohne Dialog in der Zivilgesellschaft – es war ein Akt reiner Gewalt.
Demokratie gehört nicht zum Wertekatalog der BJP, sie ist aber ein wichtiges Mittel zum Zweck, weil sie ihr die nötige Legitimität verschafft. Die Partei singt Loblieder auf die Demokratie und untergräbt sie gleichzeitig. So ist die demokratische Praxis in der größten Demokratie der Welt ins Stocken geraten. Modis politische Gegner – allen voran die Kongresspartei INC, die einzige wirkliche Konkurrenz – stehen vor der Herausforderung, die Demokratie und den Liberalismus für eine neue Generation von Inderinnen und Inder wieder attraktiv zu machen. Für die nächsten fünf Jahre wird Indien mit Modi leben müssen. Um wieder Vertrauen in die Demokratie zu erzeugen, braucht es einen Herausforderer der Kongresspartei, der nicht den alten Politikerdynastien entstammt.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld