Kämpfer aus Syrien
Wie das Inselarchipel zum Rückzugsort für radikale Islamisten wurde
Am 29. September 2007 wurde Malé, die kleine Hauptstadt der Malediven, von einer Bombenexplosion erschüttert. Bei der Detonation im vielbesuchten Sultan-Park wurden zwölf Touristen verletzt. Dieses Ereignis ist bedeutsam: Auch wenn es keine Todesopfer gegeben hatte, so war es das erste Mal, dass ein Anschlag auf den Malediven verübt wurde. Der Terrorismus, der sonst immer nur anderswo stattgefunden hatte, war plötzlich zum Problem vor der eigenen Haustür geworden. Durch den Anschlag wurde ein Problem ins öffentliche Bewusstsein gerückt, das zuvor nur unter der Oberfläche gelauert hatte: die islamistische Radikalisierung.
Die Bevölkerung der Malediven besteht beinahe vollständig aus sunnitischen Muslimen, seit die Bewohner des Landes im 12. Jahrhundert vom Buddhismus zum Islam konvertierten. Doch der maledivische Islam wurde auf eine sehr eigene Art praktiziert, wesentlich lockerer als beispielsweise auf der arabischen Halbinsel oder in den Golfstaaten. Erst in den 1980er- und 1990er-Jahren sickerten salafistische und wahhabitische Ideologien nach saudischem Vorbild ins Land. Immer mehr junge Leute, die zum Studium nach Saudi-Arabien oder Pakistan zogen, brachten bei ihrer Heimkehr entsprechende Glaubensmuster mit. Doch radikalisierte Islamisten führten zu dieser Zeit größtenteils ein Schattendasein. Ihr Extremismus hatte bis zu dem Vorfall im Sultan-Park keine öffentlichen gewaltsamen Formen angenommen.
Der Anschlag ereignete sich im letzten Jahr der Regierungszeit des langjährigen maledivischen Machthabers Maumoon Abdul Gayoom. Gayoom selbst gilt als gemäßigter Muslim, es ging ihm nicht so sehr um Verschleierung oder das Tragen langer Bärte. Beides war bis zum Ende seiner Herrschaft nicht sonderlich verbreitet. Gayoom nutzte die Religion vielmehr, um sein Regime zu stützen. Doch die Art und Weise, wie Gayoom mit radikalisierten Menschen umging, ist sehr umstritten.
In den 1990er-Jahren ordnete seine Regierung eine groß angelegte Razzia gegen den radikalen Islam an. Das Ziel waren Anhänger des Wahhabismus nach saudischem Vorbild, die sich in eigenen Moscheen zum Gebet trafen und in der Hauptstadt eine strenge, buchstabengetreue Version der Religion predigten. »Sie kamen, als ich in meinem Laden war, nahmen mich mit und warfen mich ins Gefängnis«, erzählt Kamal Abubakr*, ein 55-jähriger Ladenbesitzer aus Malé, der ein Opfer der Razzia wurde. »Dort rasierten sie mir den Bart ab und gossen mir Chilisauce ins Gesicht.« Auch wenn alle Gefangenen nach kurzer Zeit wieder aus dem Gefängnis entlassen wurden, so legte die Razzia den Grundstein für eine zunehmend radikalisierte Gruppierung. Denn die Betroffenen fühlten sich entfremdet und innerhalb der maledivischen Gesellschaft immer stärker isoliert. Im Laufe der Jahre wuchs ihre Unzufriedenheit.
Am 26. Dezember 2004 überschwemmte der südostasiatische Tsunami, der als eine der schlimmsten Naturkatastrophen des 21. Jahrhunderts gilt, auch die Malediven. Das Ereignis brachte ein Erstarken des konservativen Islams mit sich. Prediger propagierten, dass die »Sündhaftigkeit« der Bevölkerung die Katastrophe heraufbeschworen habe. Gleichzeitig wurde die Verschleierung von Frauen zur verbreiteten Praxis. Erstmals waren es die Unverschleierten, die in der städtischen Umgebung von Malé aus der Masse herausstachen.
Himandhoo, eine Insel fünfzig Kilometer südlich von Malé mit rund 600 Einwohnern, entwickelte sich in dieser Zeit zum Zufluchtsort für Fundamentalisten. Eine Woche nach jener bedeutsamen Explosion im Sultan-Park 2007 tauchte Himandhoo in weltweiten Schlagzeilen auf. Polizei und Militär führten auf der Insel einen Sondereinsatz durch, um die Dhar-ur-Khair-Moschee zu räumen, einen Versammlungsort von wahhabitischen und salafistischen Gläubigen. Laut Regierungsaussagen wurde vermutet, dass auf Himandhoo Personen versteckt wurden, die etwas mit der Explosion im Sultan-Park zu tun hatten. Siebzig Männer griffen zu Schwertern, Eisenstangen und Stöcken, um sich gegen die Sicherheitskräfte zur Wehr zu setzen. Es kam zum gewaltsamen Zusammenprall zwischen den Männern, den Soldaten und der Polizei, gefolgt von der Belagerung der Moschee. Vierzig Männer wurden in Gewahrsam genommen. »Einige dieser Bewohner Himandhoos, die zu den Waffen griffen, waren unter denjenigen gewesen, die während der von Präsident Gayoom angeordneten Razzia in den 1990er-Jahren verhaftet worden waren«, berichtet der Journalist Anwar Malik*, der die Vorfälle recherchierte. »Himandhoo ist kein Einzelfall. Viele Extremisten ziehen auf die kleineren Inseln, wenn sie in Malé Schwierigkeiten bekommen. Auf den Inseln gibt es fast keine Polizei.«
Mit Mohamed Nasheeds Regierungsantritt im November 2008 endete Gayooms dreißigjähriges Regime. Während Nasheeds Regierungszeit erreichten fundamentalistische Ideologien ein größeres Publikum, denn im Gegensatz zu Gayooms restriktiver Politik gab es unter Nasheed keine Einschränkungen für Prediger. Die Anzahl von Predigten und öffentlichen Veranstaltungen radikaler Islamisten schoss in die Höhe. Nasheeds Motto schien zu lauten: »Leben und leben lassen«. In den folgenden Jahren wurden immer wieder gemäßigte Stimmen, die den radikalen Islam kritisierten, zum Schweigen gebracht: Im Jahr 2012 wurde der Journalist Khalith Rasheed, ein bekennender Kritiker des religiösen Extremismus, von anonymen Tätern angegriffen. Verdächtigte wurden nicht ermittelt. Im gleichen Jahr wurde der moderate Islamgelehrte Afrasheem Ali in der Nähe seines Hauses in Malé tot aufgefunden. 2014 verschwand der junge Journalist Ahmed Rilvan. Im Jahr 2017 wurde der Blogger Yameen Rasheed, der Rilvans Verschwinden aufdecken wollte, vor seinem eigenen Haus erstochen aufgefunden.
Auf die kurze Regierungszeit von Mohamed Nasheed folgte im Jahr 2013 Präsident Abdulla Yameen, der Halbbruder des früheren Präsidenden Gayoom. Seine Regierungszeit war charakterisiert von rapiden Verbesserungen der Infrastruktur, doch zu einem hohen Preis: strenge Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit und eine Distanzierung der Malediven von ihren traditionellen Verbündeten, Indien und dem Westen. Stattdessen hofierte Yameen bei China und Saudi-Arabien und verwendete eine religiös-nationalistisch gefärbte Rhetorik in seinen Reden. Befürchtungen angesichts der wachsenden Anzahl einheimischer Dschihadisten, die sich den Kämpfern in Syrien anschlossen, ignorierte er.
Im Jahr 2016 belief sich die offizielle Zählung von maledivischen Dschihadisten im Ausland durch die Regierung Yameen auf eine zweistellige Zahl. Allerdings gab die unabhängige Expertenkommission Soufan Group, die den Zustrom ausländischer Dschihadisten nach Syrien dokumentiert, deren Zahl für das Jahr 2015 mit 200 an. Damit hielten die Malediven den traurigen Rekord, weltweit den höchsten Anteil pro Malediver an Dschihadisten in Syrien zu haben. Zur selben Zeit mehrten sich die Berichte von liberal gesinnten Menschen, die in den sozialen Medien von Extremistengruppen mit Gewalt oder sogar dem Tod bedroht wurden. Nichts wurde dagegen unternommen; die Regierung Yameen leugnete hartnäckig, dass die Malediven ein Extremismusproblem haben.
Heute, im Jahr 2019, ist Ibrahim Mohamed Solih an der Regierung. Der frühere Präsident Nasheed steht dem Parlament vor. Die neue Regierung trat mit dem Versprechen an, die Entführung von Ahmed Rilvan und die Morde an Yameen Rashees und Afrasheem Ali aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Eine Untersuchungskommission wurde gegründet, um die Fälle neu aufzurollen. Im Juli dieses Jahres verkündete Präsident Solih, die Regierung bemühe sich, maledivische Frauen und Kinder aus Syrien zurückzuholen und sie auf den Malediven zu entradikalisieren. Ihre genaue Anzahl ist nicht bekannt, aber Schätzungen belaufen sich auf über vierzig Frauen und Kinder. Viele Familien haben sich wiederholt an den Präsidenten gewandt und ihn aufgefordert, ihre Familienmitglieder zurückzuholen.
»Mein Stiefsohn Abbas* wurde 2015 von seinem Vater nach Syrien mitgenommen«, erzählt Ibrahim Mohamed*, ein Bewohner der Insel Hithadhoo. »Der Vater ist bei Kampfhandlungen ums Leben gekommen, und wir hatten die Hoffnung aufgegeben, Abbas könne noch leben. Aber vor ein paar Monaten sagte man uns, er sei in einem Flüchtlingslager. Meine Frau lebt in ständiger Angst – sie weiß jetzt, dass Abbas noch lebt, aber nicht, ob sie ihn jemals wiedersehen wird. Er ist erst elf Jahre alt. Es ist unmenschlich, ihn dort zu lassen.«
Einige zurückgekehrte Dschihadisten sind auf den Malediven nach wie vor auf freiem Fuß. Sie wurden nicht entradikalisiert. Die Frage, wie mit ihnen umzugehen sei, lastet schwer auf der derzeitigen Regierung. Es gibt kein Schema, dem man folgen könnte, keine einfachen und schnellen Lösungen. Nur Versuch und Irrtum. Man kann nur hoffen, dass die Irrtümer nicht zu kostspielig sein werden.
* Die Namen der zitierten Personen wurden zu ihrem eigenen Schutz anonymisiert.
Aus dem Englischen von Caroline Härdter