„Ich musste einfach aktiv werden“
Wie schwierig es ist, in der russischen Hauptstadt für das Klima zu demonstrieren, erzählt Arshak Makichyan
Herr Makichyan, Sie haben den Moskauer Zweig der Klimaprotestbewegung Fridays For Future gegründet. Wie lange streiken Sie schon?
Am Freitag, dem 6. September 2019, fand mein 26. Streik statt.
Sie sind Violinist. Wie kommen Sie zum Klimaaktivismus?
Im vergangenen Herbst habe ich in den sozialen Medien viel über Greta Thunberg gelesen. Die unzähligen Menschen, die ihrem Beispiel gefolgt sind, haben mich beeindruckt – und nachdenklich gemacht. Ich habe mich gefragt: Warum passiert hier in Russland nichts? Überall auf der Welt gehen Schülerinnen und Schüler auf die Straße, und hier wird nicht einmal darüber berichtet. Im Februar hatte ich einen Moment der Erkenntnis. Ich dachte: Wenn ich nichts tue, mache ich mich mitschuldig an der Klimakatastrophe. Ich musste einfach aktiv werden.
In einer Zeitung wurden Sie als „Der einsame Klimakämpfer“ porträtiert. Warum streiken Sie allein?
In Russland ist es schwieriger, auf die Straße zu gehen, als zum Beispiel in Schweden. Sobald mehr als eine Person demonstrieren will, braucht man eine offizielle Autorisierung. Das ist sehr aufwendig und bürokratisch und auch ein bisschen willkürlich, denn in den vergangenen Monaten wurden alle meine Anträge abgelehnt. Ich habe allerdings herausgefunden, dass es nicht verboten ist, allein zu demonstrieren. Darum stehe ich jeden Freitag mit einem Poster auf dem Puschkin-Platz.
Was steht denn auf Ihrem Poster?
Ich habe verschiedene. Auf dem ersten Poster stand: „Für das Pariser Abkommen, gegen den ökologischen Genozid“. Allerdings hat das nicht so gut funktioniert. Ich habe gemerkt, dass viele Passanten gar nicht wissen, was das Pariser Abkommen ist. Darum versuche ich jetzt immer, universellere Aussagen zu schreiben. Zum Beispiel „Die Erderwärmung verursacht Hunger und Tod“ oder „Klimakrise“.
Wie reagieren die Passanten auf Sie?
Sehr, sehr unterschiedlich. Manche Leute finden meinen Protest super. Andere beschimpfen mich und behaupten, ich sei ein amerikanischer Spion. Und natürlich gehen auch viele Menschen einfach an mir vorbei und interessieren sich nicht für mich.
Sind Umweltthemen denn überhaupt Gesprächsthema in Russland?
Es gibt zurzeit sehr viele Proteste in Russland. Der Müll ist nämlich ein riesiges Problem: Der meiste Abfall wird einfach verbrannt oder in monströsen Deponien abgeladen. Dagegen protestieren viele, weil sie den Müll nicht vor ihrer Haustür haben wollen. Er stinkt. Auch in Irkutsk in Sibirien wird demonstriert: Nachdem dort im Frühjahr wochenlang Waldbrände wüteten, folgte eine der schlimmsten Überschwemmungen der russischen Geschichte. Die Menschen fordern Soforthilfe, und das ist natürlich wichtig. Die meisten verstehen nicht, dass die Brände und die Überschwemmungen nur Symptome der eigentlichen Probleme sind. Dass die Hauptursache für diese extremen Wetterereignisse der Klimawandel ist. Und dass wir mit unserem Müllsystem den Klimawandel noch verschärfen.
Was sind derzeit die größten ökologischen Herausforderungen in Russland?
Russland ist ein Ölland. Es werden gerade neue Mega-Infrastrukturprojekte in der Arktis gebaut, um neues Öl abzubauen. Wir müssten unser gesamtes Energiesystem auf erneuerbare Energien umstellen, aber leider geschieht genau das Gegenteil. Die Ölgesellschaften gehören der russischen Regierung, darum denkt die Regierung auch nur an deren Interessen. Aber das größte Problem ist, dass die allermeisten Russen gar nicht wissen, was der Klimawandel ist. Die Medien berichten nicht darüber, in der Schule werden die Zusammenhänge nicht vermittelt und selbst Präsident Putin behauptet in seinen Reden, dass Windräder Vögel töten und darum die Umwelt stärker belasten als das Öl. Das ist lächerlich.
Haben die russischen Behörden auf Ihre Proteste reagiert?
Während der ersten sechs Wochen war ich sehr nervös, aber es ist nichts passiert. Wahrscheinlich dachten die Behörden, dass ich verrückt bin – so ganz allein mit meinen Postern auf einem öffentlichen Platz. Doch dann wurde ein Interview mit mir in der englischsprachigen Zeitung The Moscow Times veröffentlicht. Beim darauffolgenden Protest kam direkt die Polizei und hat mir sehr viele Fragen gestellt. Wie viel ich für meinen Protest bezahlt bekomme, wer dahintersteckt und so weiter. Sie haben auch meinen Pass fotografiert und gedroht, dass sie noch diskutieren müssen, was mit mir geschieht. Ich glaube, sie wollten mir nur Angst einjagen. Schließlich ist es erlaubt, allein zu streiken. Seitdem beobachten mich manchmal Polizisten aus der Ferne.
Was motiviert Sie, weiterzumachen?
Jugendliche unter 18 dürfen in Russland nicht allein demonstrieren. Aber natürlich wollen auch sie ihre Meinung äußern. Es ist ja ihre Zukunft. Darum bin ich so leidenschaftlich bemüht, einen großen Streik zu organisieren, der offiziell zugelassen wird. Über die sozialen Medien rufe ich andere Leute, die wie ich über 18 sind, dazu auf, ebenfalls allein zu demonstrieren. Darum fühle ich mich gar nicht wie ein einsamer Protestierender, wir sind viele. Das zeigt ja auch mein Flashmob.
Ihr Flashmob?
Ich habe im Mai eine spontane digitale Protestaktion ins Leben gerufen. Auf Twitter habe ich alle Menschen dazu aufgerufen, unter dem Hashtag #LetRussiaStrikeForClimate Bilder von sich mit einem Protestposter zu teilen. Mit dem Flashmob will ich international auf die schwierigen Protestbedingungen in Russland aufmerksam machen. Schließlich leben wir alle auf demselben Planeten und sind von der Klimakatastrophe betroffen. Menschen aus Brasilien, Mexiko, Italien, Deutschland, der Ukraine, ja, von überall haben mitgemacht, sogar Greta Thunberg.
Was erhoffen Sie sich für die Zukunft?
Wir müssen endlich aufhören, unser Geld in die Ölindustrie zu stecken, und uns auf erneuerbare Energien konzentrieren. Unseren Müll recyceln. Einwegplastik verbieten. Mein größter Traum ist, dass wir viele werden. Um etwas zu ändern, brauchen wir nicht nur ein paar Aktivisten. Alle müssen ihre täglichen Gewohnheiten ändern. Darum träume ich davon, dass auch die russischen Medien über den Klimawandel berichten und dass er endlich Bestandteil des Lehrplans wird. Schließlich geht es um unser aller Leben, unsere Zukunft.
ein Interview von Gundula Haage