Hinter der Traumkulisse

Die maledivische Hauptstadt Malé am Abend
Foto: Philipp Spalek
Das Erste, was zu hören ist, als die Boeing 777 zum Sinkflug ansetzt, durch einen dünnen weißen Wolkenfetzen gleitet und auf der anderen Seite wieder auftaucht, ist ein ehrfürchtiges Raunen. „Schau mal, Schatz!“, sagt eine Dame mit Strohhut, zupft ihrem Sitznachbarn am T-Shirt-Ärmel und presst den Zeigefinger ans Fenster: „Unglaublich, oder?“ Und tatsächlich bietet sich draußen nun ein spektakuläres Panorama: Inmitten des tiefblauen Indischen Ozeans tauchen Dutzende strahlend weiße Sandbänke auf, im Abstand weniger Hundert Meter erscheinen kleine, mit Palmen bewachsene Inseln und durch das türkisfarbene Wasser seichter Lagunen schimmern bunte Korallenriffe. Kurz bevor das Flugzeug wenig später auf dem Malé International Airport landet, starren die meisten Fluggäste noch immer gebannt nach draußen. „Das sieht wirklich aus wie in den Katalogen!“, sagt jemand und die ganze Sitzreihe nickt. Der erste Eindruck von den Malediven – so, oder so ähnlich, dürfte er für die meisten der 1,3 Millionen Touristen aussehen, die den Inselstaat jährlich aus aller Welt ansteuern.
Und auch nach der Landung kommen die Reisenden aus dem Staunen nicht mehr heraus. Von dem Moment an, in dem sie erstmals Fuß auf maledivischen Boden setzen, ist – ebenfalls wie in den Katalogen angepriesen – für alles gesorgt. Bereits am Gate grüßen ganz in weiß gekleidete Hotelmitarbeiter, geleiten die Damen und Herren hinaus in den strahlenden Sonnenschein und dirigieren sie schnurstracks zu den Landungsstegen. Dort wird ihr Gepäck entweder auf ein privates Motorboot oder ein gechartertes Wasserflugzeug verfrachtet und alles für die letzte Etappe der Anreise klargemacht: das Übersetzen zu einem der unzähligen Luxusresorts, die durch das ganze Archipel verstreut liegen. Für kurze Zeit herrscht Durcheinander an den Anlegestellen, Rollkoffer scheppern über die Stege, Leinen werden eingeholt, Propeller laufen an. Dann ist wieder alles still. Die öffentliche Fähre, die hier ebenfalls vor Anker liegt und die nur wenige Minuten entfernte Hauptstadt Malé ansteuert, bleibt beinahe leer. Nur ein paar Flughafenmitarbeiter in Warnwesten steigen ein.
Für die Journalistin Aiesha Ibrahim*, die in Malé geboren ist und den Großteil ihres Lebens hier verbracht hat, ist das nichts Neues. „Die meisten Touristen kommen nicht auf die Malediven, um das Leben der Menschen hier kennenzulernen“, sagt sie, während von draußen eine Mischung aus Motorenlärm und Stimmenwirrwarr durch das angelehnte Fenster ihres Büros dringt. „Sie kommen, um den perfekten Strandurlaub zu erleben.“ Auf den Straßen der Hauptstadt, in der rund 120.000 Menschen auf einer Fläche von zwei Quadratkilometern leben, sieht man deshalb kaum Urlauber – und wenn, dann nur jene, die auf der Durchreise sind: ein älteres französisches Pärchen, das am Hafen auf eine Fähre wartet, eine amerikanische Reisegruppe, die Tauchequipment auf ein Motorboot lädt, zwei chinesische Geschäftsmänner, die in der Hotellobby auf Laptops starren. Dorthin, wo die Gassen enger und stickiger werden, wo verbeulte Taxis gefährlich nah an den kaum mehr als einen halben Meter breiten Bürgersteigen vorbeisausen und große Apartmentkomplexe die Sonne ausblenden, verirrt sich kaum ein Tourist. „Wir leben hier in Parallelwelten“, sagt Aiesha Ibrahim: „Auf der Hälfte der Inseln sind wir, auf der anderen Hälfte die Urlauber.“
Waldorf Astoria, Hilton, Marriott – auf den Malediven besitzen diese Großunternehmen nicht nur einfache Apartmentkomplexe, sondern ganze Inseln
Das klingt erst mal wie eine maßlose Übertreibung, ist auf den Malediven allerdings nicht weit von der Realität entfernt. Von den 1.196 Inseln des Archipels sind insgesamt 326 bewohnt. Nur 190 dieser Inseln beherbergen jedoch maledivische Dörfer und Städte. Die restlichen 136 gehören den großen nationalen und internationalen Hotelketten. Waldorf Astoria, Hilton, Marriott – auf den Malediven besitzen diese Großunternehmen nicht nur einfache Apartmentkomplexe, sondern ganze Inseln. Manche sind kaum größer als ein Fußballfeld, andere haben eine Fläche von mehreren Zehntausend Quadratmetern. Dass es sich dabei längst nicht mehr nur um Einzelfälle handelt, wird spätestens bei einem Blick auf die im Handel erhältlichen Landkarten des Archipels klar. Viele der dort eingezeichneten Inseln tragen statt ihrer traditionellen Namen mittlerweile Titel, die man wohl eher in Disneyworld verorten würde als im Indischen Ozean: Paradise Island statt Lankanfinolhu, Sun Island statt Nalaguraidhoo, Royal Island statt Horubadhoo – in jedem der 26 Atolle des Landes finden sich gleich mehrere Belege dafür, dass sich die Tourismusindustrie bereits einen beträchtlichen Teil des Landes angeeignet hat. Und ein Ende ist nicht in Sicht. Neben den 136 Resorts, die bereits in Betrieb sind, befinden sich noch weitere 133 Anlagen im Bau. Aeisha Ibrahim, die früher selbst im mittleren Management einiger maledivischer und internationaler Luxusresorts gearbeitet hat, hält das für eine besorgniserregende Entwicklung. Vor allem, weil die Malediver mit jeder bebauten Resortinsel ein weiteres Stück ihres Landes verlieren. „Sobald eine Insel in den Besitz der Hotelketten übergeht, sind wir dort nicht mehr willkommen“, sagt sie: „Sie werden von öffentlichem Land zu Privatbesitz.“ Dabei ist es nicht unüblich, dass die Großunternehmen ihre neu erworbenen Grundstücke hermetisch vom Rest der Atolle abriegeln. Die meisten Luxusresorts dürfen nur mit den hoteleigenen Booten und Wasserflugzeugen angesteuert werden. Und damit die lokale Bevölkerung der umliegenden Inseln nicht auf die Idee kommt, die für die Touristen vorgesehenen Privatstrände mit zu nutzen, werden sogar ganze Sandbänke abgegraben und Lagunen vertieft. Dort, wo die Gutverdiener aus aller Welt für 200 bis 40.000 Euro die Nacht ihre Flitterwochen verbringen und Stars und Sternchen wie Cristiano Ronaldo und Kim Kardashian unter Palmen Urlaubs-Selfies knipsen, da ist für Malediverinnen und Malediver kein Platz mehr.
Großzügige Hilfe hat die Hotelindustrie bei ihrer schleichenden Übernahme des Landes dabei in den vergangenen Jahren vor allem von denjenigen erhalten, die eigentlich für die Interessen der maledivischen Bürger einstehen sollten: den politischen Repräsentanten des Inselstaats. So enthüllte ein 2016 an den Nachrichtensender Al-Jazeera überspieltes Datenleak zuletzt, dass der ehemalige Tourismusminister Ahmed Adeeb während seiner Amtszeit eine ganze Reihe von Hinterzimmerdeals mit maledivischen Hotelmagnaten und internationalen Hotelbetreibern abschloss. Zwischen 2012 und 2015 verkaufte er im Auftrag des damaligen Präsidenten Abdulla Yameen ganze sechzig Inseln aus Staatsbesitz an in- und ausländische Hotelketten. Die Höchstbietenden überwiesen Millionenbeträge auf die Konten einer Schattenfirma namens „Maldives Marketing & PR Corporation“, von wo aus das Geld direkt weiter in die Hände von Adeeb und Yameen wanderte. So landete beispielsweise die Insel Maagau, die laut Schätzungen einen Grundstückswert von mindestens neun Millionen Euro hat, für rund zwei Millionen Euro im Besitz des italienischen Luxushotelbetreibers Baglioni, der dort bereits heute Bungalows und Strandvillen zu einem Übernachtungspreis von rund 1.000 Euro anbietet. „Wir verkaufen ganze Regionen, nicht nur Inseln“, brüstete sich der ehemalige Tourismusminister in privaten Chats mit seinen engsten Vertrauten damals. Seinen Mittelsmännern zahlte er Schweigegeld. „Drei Schecks: einer über drei Millionen, zwei über eine Million. Keine Sorge, da ist auch etwas für dich dabei, Kumpel“, heißt es in einer der geleakten Nachrichten. Verlässt man sich auf die Recherchen des maledivischen Ablegers der Nichtregierungsorganisation Transparency International, dann veruntreuten Adeeb und Yameen in drei Jahren insgesamt mehr als siebzig Millionen Euro.
Dabei war das politische Argument für den Ausbau des Luxustourismus auf den Malediven seit der ersten Hotelgründung im Jahr 1972 eigentlich stets sein Mehrwert für die Staatskasse. Auch das seit Ende 2018 neu besetzte Tourismusministerium reagiert auf kritische Nachfragen zum vermeintlichen Ausverkauf des Landes noch immer mit dieser Verteidigungslinie. Man müsse sich nur mal vorstellen, wie das Land ohne die Resorts aussähe, sagt ein Vertreter des neuen Tourismusministers Ali Waheed am Telefon: „Ohne den Tourismus wären wir noch immer ein Entwicklungsland. Dann gäbe es hier weder gute Schulen noch gute Krankenhäuser und die Menschen würden nicht ansatzweise denselben Lebensstandard genießen wie heute.“ Und tatsächlich hängt in dem Inselstaat viel von der Tourismusindustrie ab: In keinem Zweig der Wirtschaft arbeiten mehr Malediver als im Hotelbetrieb und die Erträge, die Resorts, Tauchschulen und Reiseagenturen erwirtschaften, machen über ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts aus. Geht es um den unmittelbaren Nutzen der Luxusresorts für die Malediverinnen und Malediver, dann sind jedoch nicht nur ob der politischen Korruptionsskandale der jüngeren Vergangenheit ernsthafte Zweifel angebracht. Auch die Geschäftsstrategien der großen Hotelketten, über die Insider wie Aiesha Ibrahim berichten, machen nachdenklich.
16-Stunden-Schichten in vielen Resorts Normalität und der durchschnittliche Monatslohn beträgt um die 5.000 maledivische Rufiyaa
„Als ich noch in den Resorts gearbeitet habe, war ich eine von wenigen maledivischen Fachkräften“, erzählt Ibrahim. „Die meisten Hotelbetriebe bringen ihre Mitarbeiter aus Übersee mit.“ Obwohl längst eine Regierungsdirektive existiert, die Resorts dazu anhält, mindestens 45 Prozent ihrer Belegschaft aus Arbeitnehmern maledivischer Herkunft zu rekrutieren, sind vielerorts weiterhin bis zu siebzig Prozent der Stellen mit Fachkräften aus dem Ausland besetzt. Junge Malediverinnen und Malediver bekommen in den Resorts derweil meist nur Jobs im Servicebereich und werden, selbst wenn sie es wie Ibrahim bis ins mittlere Management schaffen, von den Hotelbetreibern oft systematisch ausgebeutet. Trotz eines Studiums in London und der Tatsache, dass sie mit Mitte zwanzig als gelernte Hotelmanagerin in ihre Heimat zurückkehrte, verdiente sie laut eigener Aussage mit 800 Euro im Monat nur ein Fünftel des Gehalts ihrer europäischen Kolleginnen.
Für die Malediver, die in den Luxushotels als Küchenpersonal oder Zimmerservice arbeiten, ist die Lage laut der Tourism Employees Association of the Maldives, kurz TEAM, noch um einiges prekärer. Glaubt man Recherchen der Gewerkschaft, die seit 2008 die erste und bis heute einzige organisierte Arbeitnehmervereinigung der Malediven ist, sind 16-Stunden-Schichten in vielen Resorts Normalität und der durchschnittliche Monatslohn beträgt um die 5.000 maledivische Rufiyaa, was ungefähr 300 Euro entspricht. Zudem wird das maledivische Personal im Regelfall dazu angehalten, elf von zwölf Monaten im Jahr auf den Resortinseln zu wohnen. Nur in der Nebensaison im Juli dürfen die Angestellten für einige Wochen auf ihre Heimatinseln und zu ihren Familien zurückkehren. „Wer sich gegen diese Regeln wehrt oder eine bessere Behandlung fordert, der läuft Gefahr, sofort gefeuert zu werden, und findet womöglich nie wieder einen Job in einem maledivischen Hotel“, erzählt der TEAM-Vorsitzende Ahmed Shihaam.
Dass es unter den Resorts eine Schwarze Liste gibt, auf der in Ungnade gefallene Tagelöhner geführt werden, ist auf den Malediven ein offenes Geheimnis. Wer sich für mehr Arbeitnehmerrechte einsetzt, eine Gehaltserhöhung fordert oder gar öffentlich protestiert, setzt seine Existenz aufs Spiel. So erging es 2008 auch 14 Hotelangestellten, die im Resort One & Only im Nord-Malé-Atoll gegen die dortigen Arbeitsbedingungen demonstrierten – und mit sofortiger Wirkung entlassen wurden. Bis heute hat keiner von ihnen eine neue Stelle in einem der anderen Resorts bekommen. Weder im One & Only noch in einem Resort der thailändischen Hotelkette Dusit Thani, in dem es laut ehemaligen Mitarbeitern gleich mehrere Proteste gab, will das Hotelmanagement davon jedoch etwas wissen. Stattdessen lässt die hoteleigene Pressestelle auf Anfrage per E-Mail mitteilen, dass das „Dusit Thani Maldives ein Fünfsterneresort ist, in dem man alle Mitarbeiter gleich behandelt.“ Proteste habe es noch nie gegeben.
Und auch in den maledivischen Medien liest man nur wenig über die Lage auf den Luxusinseln. Obwohl Aiesha Ibrahim eine ganze Reihe von Augenzeugenberichten über die Arbeitsbedingungen in den Resorts gesammelt hat, kann sie darüber als Journalistin nicht schreiben, sagt sie. „Wer es sich doch traut, der muss mit Sanktionen rechnen“, erklärt sie und zuckt mit den Schultern. Die Hotelmagnate und Resortbesitzer haben nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch politischen Einfluss. So ist etwa Qasim Ibrahim, einer der reichsten Geschäftsmänner der Malediven, nicht nur der Besitzer einer ganzen Reihe von Luxusresorts, sondern auch ehemaliger Finanz- und Innenminister. Er mischt regelmäßig in der Finanzierung von Wahlkampfkampagnen mit und hält beträchtliche Anteile an maledivischen Medienhäusern. „Der Politik und den Medien sind deshalb in gewissem Maß die Hände gebunden“, erklärt Ahmed Shihaam: „Jeder hat schon mal Geld von den Resortinhabern bekommen. Ohne ihre Hilfe kommt man hier nicht weit.“
Und so klingen auch die Beteuerungen des Tourismusministeriums auf die Frage, was man in Zukunft tun werde, um maledivische Arbeitnehmer zu schützen und zu garantieren, dass nicht noch mehr Land an die Hotelindustrie verkauft wird, eher halbherzig. „Präsident Solih hat sich dem Kampf gegen die Korruption verschrieben und wir werden alles tun, um die Arbeitnehmer zu schützen“, lässt das Ministerium verlauten, nur um dann noch nachzuschieben: „Aber wir müssen auch und vor allem mit den Leuten zusammenarbeiten, die die maledivische Wirtschaft tragen.“ Dabei scheint vor allem letzterer Punkt auch auf der Agenda der aktuellen Regierung ganz weit oben zu stehen. An einem umstrittenen Gesetz, das 2018 als eine der letzten Amtshandlungen von Präsident Yameen erlassen wurde, hat sie zumindest noch nicht gerüttelt: Gegen eine Gebühr von 50.000 bis 130.000 Euro pro Hektar dürfen Resortbetriebe seitdem nicht nur die von ihnen gekauften Inseln bebauen, sondern auch die umliegenden Lagunen erschließen, das heißt, Sandbänke aufschütten, um neues Bauland zu schaffen. Bauland für noch mehr Hotels.
* Name von der Redaktion geändert