Gestrandet
Für Arbeitsmigranten aus Bangladesch sind die Malediven ein beliebtes Ziel. Vor Ort entpuppt sich das Inselparadies jedoch für viele als Sackgasse. Ein Gastarbeiter berichtet
Es ist neun Jahre her, dass ich mich entschied, meine Heimat Bangladesch zu verlassen und auf die Malediven auszuwandern. Einer meiner Brüder war damals bereits in die Hauptstadt Malé ausgewandert und arbeitete dort auf dem Bau. Er war es auch, der mich mit einer Arbeitsagentur in Bangladesch in Kontakt brachte, die angeblich Aufenthaltsgenehmigungen ausstellte. Mein Bruder wollte mir nur helfen, aber es kam anders.
Als ich zu der Agentur ging, sagte man mir – und den vielen anderen Bangladeschern, die vom Land nach Dhaka kamen, um Arbeit zu finden –, dass ein Arbeitsvisum etwa 250.000 Taka kosten würde, also rund 2.500 Euro. Für das Geld würde ich nicht nur den Flug auf die Malediven bekommen, sondern auch einen sicheren Job in einem der luxuriösen Touristenresorts, in dem ich bis zu 700 Euro im Monat verdienen könnte. In Bangladesch ist das eine Menge Geld. In Dhaka verdiente ich gerade einmal 150 Euro im Monat. Also stimmte ich zu.
Meine ganze Familie half mir, das nötige Geld aufzutreiben – und mein Bruder schickte mir sogar einen Teil seines monatlichen Gehalts. Doch jedes Mal, wenn ich in die Agentur ging, um die Gebühr zu bezahlen, sagte mir die Dame in dem kleinen Büro, dass der Preis in der Zwischenzeit gestiegen sei – wegen der Bürokratie. Am Ende zahlten meine Familie und ich rund 5.000 Euro in bar an die Agentur. Das mag naiv klingen, aber wenn man ganz allein nach Dhaka kommt, um Arbeit zu finden, ist man ziemlich verloren. Und wie soll man als 20-Jähriger ohne Bildung und ohne Lebenserfahrung wissen, ob die Leute hinter dem Schreibtisch die Wahrheit sagen oder lügen? Ich vertraute ihnen. Und viele andere auch.
Doch als der Tag meiner Abreise kam und ich mich mit meinem Gepäck am Flughafen wiederfand, stand der Flug, den die Agentur angeblich für mich gebucht hatte, nicht auf der Anzeigetafel. Ich nahm meine Sachen und fuhr zurück in die Stadt. In der Agentur erklärte man mir, dass der Flug doch erst am nächsten Tag ginge. Also brach ich 24 Stunden später wieder zum Flughafen auf – und wieder kam kein Flugzeug für mich. Von da an saß ich jeden Tag von morgens bis abends im Wartezimmer der Agentur und fragte und wartete und fragte und wartete. Manchmal saß ich so lange dort, dass sie mich rauswerfen mussten, weil sie die Büros schließen wollten. Niemand hatte Zeit für mich. Zwei Jahre ging das so, dann gab ich auf und sah ein, dass ich betrogen worden war. Die 5.000 Euro waren weg. Den Flug nach Malé hatte es nie gegeben.
Etwas später, im Jahr 2013, bekam ich dann aber doch meine Chance. Mein Bruder war mittlerweile nach Bangladesch zurückgekehrt, hatte jedoch vor seiner Abreise mit einer anderen Personalvermittlung gesprochen, die eine Partner-Aagentur in Malé hatte und vertrauenswürdiger wirkte. Wieder gab er mir Geld, etwa 2.000 Euro, um das Arbeitsvisum zu bezahlen – und dieses Mal kam das Flugzeug tatsächlich.
Als ich am Flughafen in Malé ankam, hatte ich große Erwartungen. Schließlich hatte man mir in Dhaka einiges versprochen: ein klimatisiertes Zimmer, bezahlt von der Firma, bei der ich meinen Job antreten würde, ein Zusatzbett für die Gäste, kostenlose Verpflegung, eine Krankenversicherung. Ich stellte mir den Moment, in dem ich erstmals einen Fuß auf die Malediven setzen würde, als Beginn meiner neuen Freiheit vor. Und anfangs lief auch alles nach Plan.
Statt als Angestellte in den Luxushotels zu arbeiten, bauten sie die Resorts
Wie versprochen, wurde ich von einem Vertreter der Arbeitsagentur am Flughafen abgeholt. Dieser brachte mich aber nicht in meine neue Wohnung. Stattdessen sagte er mir, dass ich am nächsten Tag einen Medizincheck absolvieren müsste und er dafür meine Papiere bräuchte. Ich stimmte zu. Ich wusste damals nicht, dass es das vorerst letzte Mal sein sollte, dass ich meinen Pass zu Gesicht bekommen würde.
Anstatt mich in die mir versprochene Zweizimmerwohnung zu bringen, fuhr mich der Mann zu einem vierstöckigen, sich noch im Bau befindlichen Gebäude direkt neben dem Flughafen. Es gab keine Fenster und teilweise noch nicht einmal Außenwände. Das Zimmer, das mir zugeteilt wurde, war etwa zehn Quadratmeter groß und beherbergte bereits neun bangladeschische Arbeiter. Es gab nur drei kleine Etagenbetten für uns. Der Rest der Leute schlief auf dem Boden. Bevor ich eine Frage stellen konnte, drückte mir der Mann 1.500 maledivische Rufiyaa, etwas weniger als 100 Euro in die Hand, murmelte etwas über die erste Miete und verschwand. Ich fragte bei meinen Mitbewohnern nach, ob sie wüssten, was los sei und ob es sich um einen Irrtum handelte. Aber als sie die Köpfe schüttelten, wusste ich, dass ich wieder betrogen worden war.
Die anderen erzählten mir, dass auch ihnen ihre Pässe abgenommen worden waren. Allen hatte man bei ihrer Ankunft gesagt, dass es eine ärztliche Untersuchung geben würde – und keiner hatte sie je absolvieren müssen. Jobs hatten meine neuen Mitbewohner von der Agentur auch keine bekommen. Sie alle arbeiteten für ein paar Hundert Euro im Monat als Bauarbeiter, und das sechs oder sieben Tage die Woche. Statt als Angestellte in den Luxusresorts zu arbeiten, wie man es ihnen versprochen hatte, bauten sie die Luxushotels. Die Agentur hatte mir nicht mal ein Arbeitsvisum besorgt. Da dämmerte mir, dass ich ganz ohne Pass und Papier nichts weiter war als ein Tourist. Ich hatte 15 Tage, dann würde ich zum illegalen Einwanderer.
Viele Leute haben mich gefragt, warum ich mich damals nicht gewehrt habe. Aber ich fragte zurück: Was hätte ich tun sollen? Ich hatte weder Geld noch Papiere. Als ich zur Polizei ging, schickten die Beamten mich weg. Und bei der bangladeschischen Botschaft in Malé saß ich wieder tagelang im Wartezimmer, ohne dass etwas passierte. Ich hatte also zwei Möglichkeiten: Ich konnte als illegaler Einwanderer in Malé bleiben oder als Versager nach Dhaka zurückzukehren. Schließlich hatte meine Familie alles für mich aufs Spiel gesetzt. Damals rief ich meine Mutter an. Sie sagte: „Farah, das Geld ist uns egal, komm zurück.“ Aber ich beschloss, das Beste aus meiner Situation zu machen.
Ich fing an, nach Jobs zu suchen, und wurde in einem kleinen Lebensmittelladen fündig, der alles verkaufte, von Waschpulver über SIM-Karten bis hin zu kalten Getränken, Obst und Gemüse. Für sechs Tage Arbeit die Woche bekam ich hundert Euro im Monat. Die erste Zeit war sehr schwierig für mich, weil ich weder Englisch noch Dhivehi sprach und die Kunden nicht verstehen konnte. Jeden Tag versuchte ich, mir die Namen der verschiedenen Produkte einzuprägen.
Von 200 Euro kann man auf den Malediven nur überleben, wenn man gekochten Reis im Kilo kauft
Meistens blieb ich länger im Laden, als ich musste, weil ich nicht zurück in mein Zimmer wollte. „Nach Hause“ zu gehen, fühlte sich an wie eine Rückkehr ins Gefängnis. Wenn ich heimkam, dann schliefen immer schon einige Leute auf dem Boden, telefonierten mit ihren Verwandten oder sprachen laut miteinander. Manche waren auch krank, wegen der harten Arbeit und des schlechten Essens.
Bereits in meinen ersten Wochen in Malé lernte ich, dass es nur eine einzige Möglichkeit gibt, von hundert oder 200 Euro im Monat zu überleben: Man muss einen der bangladeschischen Händler finden, die gekochten Reis in kleine Plastiktüten abfüllen und im Kilo verkaufen. Dann besorgt man sich etwas Dal, eine Art Gemüseeintopf, der ebenfalls in Plastiktüten verpackt ist, und mischt alles zusammen. Das Problem ist, dass die Händler den Eintopf strecken. Sie mischen hundert Gramm Dal mit zwei Litern Wasser. Wenn ich vor der Arbeit Reis mit Dal aß, dann war ich zwei Stunden später wieder hungrig.
Damals ging ich jeden Tag zur Arbeit und jeden Abend schlafen und dachte nicht viel nach. Ich sah keinen Ausweg. Ich hatte keine Freunde, keine Familie. Das war eine traurige Zeit. Manchmal hörte ich von bangladeschischen Bauarbeitern, die sich umgebracht hatten, weil sie die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen nicht mehr ertrugen – und manchmal dachte ich daran, es so zu machen wie sie.
Weil ich in den vergangenen Jahren immer hart gearbeitet habe, verdiene ich heute etwas mehr Geld. Insgesamt sind es 6.000 maledivische Rufiyaa im Monat, also rund 350 Euro. Abends putze ich Hotelzimmer, um mir etwas dazuzuverdienen. Vor einem Jahr habe ich auch eine Ausbildung zum Bürokaufmann absolviert. Ich ging morgens in den Unterricht und arbeitete dann länger im Laden, um die verpasste Zeit nachzuholen. Ich habe auch endlich angefangen, Geld nach Hause zu schicken. Leider sind es nur 200 oder 300 Euro im Jahr. Ich sage mir, dass alles gut werden wird, aber ich weiß auch, dass ich nicht krank werden darf. Einen Arzt oder Medikamente kann ich mir nicht leisten.
Immerhin habe ich seit Kurzem meinen Pass wieder. Monatelang habe ich den Mitarbeiter der Agentur angerufen und darum gebettelt, dass er mir meine Papiere wiedergibt. Nie antwortete er. Aber dann sagte er eines Tages, dass ich meinen Pass für einhundert Euro bekommen könnte. Ich sparte das Geld und traf mich mit ihm. Aber als er vor mir stand, sagte er, dass er noch fünfzig Euro mehr bräuchte. Als ich das hörte, bekam ich Kopfschmerzen. Ich hätte ihn töten können. Doch stattdessen sagte ich nur: „Warum ist die Welt so?“, gab ihm das Geld und fühlte mich leer.
protokolliert von Kai Schnier