Vatermörder
Warum ist besonders Frankreich Ziel des islamistischen Terrors? Die Radikalen kommen aus dem eigenen Land
Steht Frankreich besonders im Fokus des IS? Die Terrororganisation schickt keine Kommandos aus Syrien nach Europa, um ein ganz bestimmtes Land im Rahmen einer elaborierten Strategie zu treffen – auch wenn es sein kurzfristiges Ziel ist, die Europäer dazu zu bringen, die Koalition zu verlassen, die ihn auf syrischem und irakischem Territorium bekämpft. Frankreich hatte zwar die meisten Opfer zu beklagen, aber Großbritannien war im Frühjahr 2017 dreimal das Ziel von Anschlägen, und der IS hat keinerlei strategische Gründe, in Katalonien zuzuschlagen. Der IS schlägt in erster Linie dort zu, wo es ein Reservoir von militanten, radikalen Anhängern gibt Der Anschlag von Manchester wurde von einem Bewohner der Stadt verübt. Der Anschlag von Barcelona von Jugendlichen, die seit ihrer Kindheit in Katalonien gelebt hatten. Und die Attentate von Paris, Nizza, Brüssel, Magnanville und Saint-Etienne-du-Rouvray wurden von Jugendlichen begangen, die dort lebten oder früher dort gelebt hatten. Das Attentat auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin ist eine Ausnahme, aber das kann eben genau daran liegen, dass es schwierig ist, in Deutschland Attentäter zu rekrutieren.
Um dies zu verstehen, braucht man keine großen geostrategischen oder ideologischen Analysen anzustellen, sondern sollte sich vielmehr das Profil der Terroristen ansehen. Es gibt selbstverständlich Unterschiede zwischen den europäischen Ländern (insbesondere was die Rolle der Moscheen angeht). Aber die Merkmale, die sich bei den französischen Attentätern herauskristallisiert haben, finden sich in unterschiedlichem Maße auch in den anderen Ländern wieder. Die überwiegende Mehrheit der Terroristen gehört zur zweiten Generation der Einwanderer. Es gibt immer noch keine dritte Generation, selbst mehr als zwanzig Jahre nach dem Beginn der islamistischen Anschläge (Khaled Kelkal hatte 1995 in Lyon den ersten Anschlag verübt).
Es sind junge Leute, die in Europa geboren wurden oder zur Schule gegangen sind; hinzu kommt eine nicht unerhebliche Anzahl von Konvertiten, 25 Prozent der Radikalen, die nach Syrien aufbrechen, um dort am Dschihad teilzunehmen, sind konvertiert. Die meisten von ihnen haben keine solide religiöse Bildung, fünfzig Prozent von ihnen haben eine Vergangenheit als Kleinkriminelle; keiner unter ihnen war zuvor militanter Aktivist, sei es auf religiösem Gebiet (als Prediger) oder politisch (etwa als Demonstrant für Palästina). In jeder der genannten Gruppen gibt es eine erstaunliche Anzahl von Brüdern; sie nehmen alle an der westlichen Jugendkultur teil und sprechen eine europäische Sprache, niemals Arabisch oder Urdu. Und schließlich wählen fast alle den Tod, auch wenn er nicht erforderlich ist, um das Ziel ihrer Mission zu erreichen, und obendrein den IS um gut ausgebildete und erfahrene Kämpfer bringt.
Und ein weiteres Phänomen erscheint seltsam: die meisten Radikalen sind Maghrebiner, insbesondere Marokkaner. Wenn der Terror eine Folge der Radikalisierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund wäre, müssten die meisten Radikalen in Deutschland türkischstämmig sein. Aber in Deutschland sind weitaus mehr Konvertiten als Türken unter ihnen.
Was sich klarer abzeichnet, ist ein Generationenbezug: Die jungen Radikalen brechen mit der Religion ihrer Väter, indem sie sich dem IS anschließen. Im Falle der Konvertiten ist dies offensichtlich, aber es ist auch bei den Einwanderern der zweiten Generation der Fall, denn sie lehnen den kulturellen Islam ihrer Eltern ab und positionieren sich als die »besseren Muslime«. Deshalb töten sie auch unterschiedslos: In Nizza waren ein Drittel der Opfer Muslime, aber für den Attentäter waren sie schlechte Muslime. Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem muslimischen Teil der Bevölkerung ist auch ein Zeichen für den Nihilismus dieser Jugendlichen: Sie verfolgen keine Utopie, denn sie interessieren sich nicht für den »Tag danach«; was für sie zählt, ist, ihr Heil im Tod zu finden. Sie sind in Wahrheit große Individualisten.
Wir können daraus schließen, dass der Dschihad, wie er von Al-Qaida und dem IS in Szene gesetzt wird (denn es handelt sich hier um eine äußerst elaborierte Inszenierung, in der Videos und Musik eine große Rolle spielen), einen Teil jener Jugendlichen anzieht, die sich zerrissen fühlen. Diese Zerrissenheit findet ihren Ausdruck auf religiösem, in diesem Fall islamischem, Gebiet. Sie stellen ihr Handeln in den Dienst der einzigen globalen Bewegung, die heutzutage radikal die Gesellschaft infrage stellt: des IS. Die extreme Linke ist lokal gebunden, um nicht zu sagen provinziell (man kämpft gegen einen Flughafen oder um die Kontrolle eines Platzes in der Stadt).
Jenseits eines Nihilismus, den man anderswo unter den Jugendlichen vorfindet (wie das Columbine-Syndrom etwa bei Amokläufen in Schulen), gibt es eine sehr klare Verbindung zwischen religiöser Radikalisierung und der »Dekulturalisierung« des Religiösen: Die kulturelle Tradition, in der die Religion wurzelt, wird abgelehnt oder ignoriert. Deshalb ist die Radikalisierung bei der zweiten Generation der Maghrebiner am stärksten, die nicht oder nicht mehr die Sprache der Eltern, Arabisch oder Berberisch, spricht, die es nicht verstanden hat, ihre Traditionen weiterzugeben. Die Sprache der Familie nicht zu sprechen verstärkt die Dekulturalisierung und damit die Radikalisierung. Am schwächsten ist diese bei den Türken, die die Sprache und die religiöse Tradition von einer Generation an die nächste weitergegeben haben. Und aus demselben Grund ist die dritte Generation der Maghrebiner unter den Radikalen schwächer vertreten – weil sie wieder dieselbe Sprache sprechen wie ihre Eltern: Französisch. (Dabei meine ich die Radikalen aus dem Westen, nicht diejenigen, die direkt aus dem Maghreb kommen, sie stehen auf einem anderen Blatt.)
Aber auf der anderen Seite ist die Säkularisierung in Frankreich allen Religionen gegenüber feindselig eingestellt, nicht allein dem Islam. Indem man nämlich die Religion aus der Öffentlichkeit verbannt, trägt man dazu bei, sie von der Gesellschaft und der vorherrschenden Kultur zu trennen, sie zu »dekulturalisieren«, was zu einer stärkeren »Rückkehr« des Religiösen führt als in anderen europäischen Ländern. Es ist auch kein Zufall, dass Frankreich das einzige europäische Land ist, in dem Christen massenhaft auf die Straße gegangen sind, um gegen die Homo-Ehe zu protestieren. Auch die konservativen Katholiken fühlen sich abgewiesen und sind viel streitbarer in Frankreich als in Spanien, Österreich oder Irland.
Jenseits der wichtigen Fragen der Immigration und des Nahen Ostens muss man auch das Augenmerk auf die Position des Religiösen in Frankreich richten. Der neue Präsident hat zwar die kämpferische und polarisierende Rhetorik des vorherigen Premierministers, Manuel Valls, abgelegt, wenn es um den Laizismus geht, und den »strafenden« Laizismus gedrosselt (etwa das Burkiniverbot an den Stränden der das Verbot für verschleierte Mütter, an Schulausflügen teilzunehmen), aber er scheint nicht bereit zu sein, einen Laizismus zu praktizieren, der für das Religiöse offen ist.
Aus dem Französischen von Caroline Härdter