Manila Calling

In der Callcenter-Industrie arbeiten rund eine Million Filipinos. Tag und Nacht beantworten sie Reklamationen, betreuen Hausaufgaben 

Eigentlich war sie Lehrerin, aber nun hilft sie bei der Firma Piton Global zahlungskräftigen Lernwilligen auf die Sprünge. Venus Pagusan, 32 Jahre, arbeitet in Pasig City, einem Stadtteil Manilas mit sauberen Straßen. Fast-Food-Ketten und Hochhäuser dominieren das Bild. Venus sitzt im Großraumbüro, ausgestattet mit Flachbildschirm, Headset, modernster Telefonanlage, und ruft unablässig australische Telefonnummern an. Am anderen Ende der Leitung heben Studenten in Melbourne oder Sydney ab. »Ich helfe ihnen durch die Prüfungen«, sagt Venus. »Manche muss man regelrecht antreiben, andere an Termine erinnern.« Knowledge Outsourcing Process – »Wissensauslagerungs-Prozess« heißt das Geschäftsfeld.

Für Venus’ Schüler zahlt der australische Staat: Der möchte die Bildungsquote anheben und investiert, damit junge Filipinos die Kurse australischer Studierender durchackern und ihnen per Bildschirm, mit Kopfhörer und Mikrofon, und vor allem mit viel aufmunterndem Vokabular helfen. Loben, loben, loben, das ist die Devise.

Venus’ Landsleute gelten als äußerst geduldig und freundlich. Das ist, neben dem amerikanischen Englisch, das sie sprechen, wohl auch der Grund dafür, dass die Callcenter-Industrie auf den Philippinen 2016 einen Rekord erreicht hat: 23 Milliarden US-Dollar hat der Wirtschaftszweig eingespielt und den früheren Callcenter-Spitzenreiter Indien abgelöst. Mittlerweile gibt es rund 1.000 dieser Telefonbüros auf den Philippinen, die meisten noch in Manila, dreißig Prozent aber schon in anderen Städten wie Davao oder Cebu.

Der Boom hat im südasiatischen Inselstaat einiges verändert: Die rund 1,3 Millionen Callcenter-Agenten erwirtschaften mittlerweile genauso viel Geld wie die elf Millionen Filipinos, die im Ausland arbeiten und Geld heimschicken. Während vor einem Jahrzehnt die scheinbar einzige Option für viele Filipinos darin bestand, ein Familienmitglied ins Ausland zu schicken, da sich zu Hause kein Geld verdienen ließ, gibt es heute eine Alternative – in Bürostühlen. Aber auch diese neue, schöne Arbeitswelt hat ihren Preis.

»Wir müssen dafür sorgen, dass höherwertige Jobs entstehen. Bald werden Computer und Maschinen die Arbeit machen, die jetzt noch die günstigen philippinischen Arbeitskräfte erledigen«, sagt Jorge Sibal, Wirtschaftswissenschaftler von der Universität der Philippinen in Manila. Seit Jahrzehnten verfolgt der Professor die Abwanderung seiner Landsleute in reichere Länder. »Der Bereich, in dem Wissen vermittelt wird, ist in meinen Augen ein guter Weg. Schwieriger sind die anderen Sparten, welche die Angestellten durch Nachtschichten zermürben.«

Ähnlich sieht das auch der Theologieprofessor und Vinzentinerpater Daniel Pilario: »Meine Mitbrüder und ich stellen uns die Frage, wie wir den Callcenter-Arbeitern besser zur Seite stehen können. Wir bieten Betreuungsplätze für ihre Kinder, das schon. Aber diese jungen Leute selbst, die herumlaufen wie Scheintote – an die müssen wir stärker herankommen«, erklärt er. Über die psychischen und körperlichen Belastungen der Mitarbeiter der Branche berichten philippinische Medien immer wieder. »Wenn man sie nur von außen sieht, denkt man, alles ist perfekt: Sie kommen in schicken Klamotten, sind immer sauber und adrett. Aber wie sieht es in diesen Menschen aus, die keine Nacht mehr schlafen, ihre Kinder nicht sehen und in einer künstlichen Welt leben?«, klagt Pater Pilario.

Die psychische Belastung der Nachtarbeiter ist groß. »Wir müssen immer freundlich und bei der Sache bleiben, egal ob das Gegenüber am anderen Ende der Leitung schreit oder weint«, sagt Ellen D., vierzig Jahre. Sie ist seit acht Jahren im Geschäft und ist zum „Teamleiter“ aufgestiegen. Den Namen ihres Arbeitgebers möchte sie nicht nennen, denn wie in so vielen Fällen ernährt ihr Gehalt die übrigen Familienmitglieder. Ihr Zahnmedizinstudium brach sie ab, um die Arztrechnungen für die schwer erkrankte Mutter mit kleinen Jobs begleichen zu können. Sie hat eine neunjährige Tochter, von ihrem Mann ist sie getrennt. »Wir haben uns kaum gesehen. Ich komme erst heim, wenn unsere Tochter aufwacht. Ich mache sie für die Schule fertig. Dann muss ich ein paar Stunden schlafen. Mein Mann und ich waren eigentlich nie mehr gleichzeitig wach und zu Hause.«

Charles ist 27, Vater von drei Kindern und teilt die fahle Gesichtsfarbe mit Ellen. »Es gibt wohl kein Aufputschmittel, das wir nicht ausprobiert haben, um die Nächte durchzuhalten«, sagt er. Sechs Jahre macht er den Job. »Vielleicht geht es noch ein oder zwei Jahre, aber dann suche ich mir etwas anderes«. Was genau, weiß er noch nicht. »Der soziale und gesundheitliche Preis, den unsere jungen Leute zahlen, ist enorm«, sagt Pater Pilario. In den Anfangsjahren des Telefongeschäfts impften die Chefs ihren Arbeitern noch ein, ihre Stimmen so zu trainieren, dass der Kunde möglichst nicht ihre Herkunft erkennen konnte. »Wir mussten für uns neue Namen erfinden und ausweichend antworten, wenn uns jemand fragte, wo wir herkamen«, erinnert sich Ellen.

Der Lärmpegel in den Telefonierstätten der Firmen ist gewaltig. Piton Global ist da keine Ausnahme. Es gehört jedoch zu den kleineren Firmen der Branche, also sind die Räume überschaubarer. Das Callcenter-Geschäft misst sich in »seats«, also in »Sitzen«, von denen aus telefoniert wird und E-Mails verschickt werden. Piton Global hat ein paar Hundert, andere haben Tausende. »Wir haben den persönlichen Touch«, sagt Jan Ellspermann. Der Firmenchef stammt ursprünglich aus Bad Dürkheim und ist vor mehr als einem Jahrzehnt seinem Bruder auf die Philippinen gefolgt, als der ihm schilderte, welch interessante Geschäftsmöglichkeiten sich in dem Inselstaat böten. Mit Kunden fährt Ellspermann in seinem geräumigen Wagen vorzugsweise durch das hypermoderne Zentrum von Manila. »Ich will nicht, dass sie heimfahren und denken, es gibt hier nur Slums«, sagt er. In der Tat gibt es beides, die glitzernde Großstadtwelt und die eklatante Armut daneben.

In Ellspermanns Augen ermögliche die Branche einen Weg vom Slum in den Wolkenkratzer: »Kurz nach der Jahrtausendwende gab es hier vielleicht zehn Callcenter und 1.000 Leute, die in dem Sektor gearbeitet haben«, sagt er. »Keiner hat damals geahnt, wie schnell er sich entwickeln würde.« Die Kaufkraft der Mittelklasse wachse, der Wohnungsmarkt explodiere, jeder wolle ein Auto, jeder wolle konsumieren. Das kann man positiv sehen, wie Ellspermann. Oder auch weniger, wie der Pater Pilario: »Unsere Umwelt geht vor die Hunde, alles wird verbaut, die Abgase sind entsetzlich«, klagt er.

Die Filipinos sind nicht die Einzigen, die an dem Callcenter-Geschäft interessiert sind: »Auch China drängt in den Markt, der Nachteil der Chinesen ist nur der Mangel an Englischkenntnissen«, so der Wirtschaftswissenschaftler Sibal. »Langfristig brauchen wir nicht nur den Dienstleistungssektor«, fordert er. »Wir müssen wieder etwas produzieren, von dem die Leute hier leben können. Sonst sind wir der Spielball der Welt.«